Das Flurgespräch als ethnographisches Feld
Die Gleichzeitigkeit von Homogenität und Diversität
Wir sind vier wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und/oder Doktorand*innen an der Uni Köln.[1] In dieser Hinsicht besteht eine gewisse Nähe zum Blog, dessen Initiator*innen und den Debatten, die sich abseits des Blogs aus den bisherigen Beiträgen ergeben haben. Gleichzeitig war die Reichweite der Debatte um die Umbenennung der DGV selbst in Köln beschränkt. So haben einige Mitarbeiter*innen des Instituts für Ethnologie der Universität Köln erst vom ‚Umbennungsstreit‘ und Blog erfahren als ein entsprechender Hinweis auf der Facebook-Seite des Instituts veröffentlicht wurde. Sechs Monate nach der Entscheidung.
Nach und nach stellten sich uns einige kritische Fragen: Wer diskutiert da eigentlich? Mit wem? Und vor allem: Über was? Weiter zugespitzt: Handelt es sich bei der Debatte um eines der viel diskutierten Filterblasen-Phänomene, die vermeintliche Relevanz und Öffentlichkeiten erzeugen, wo gar keine existieren und lediglich durch einen kleinen Kreis ‚besorgter Akteur*innen‘ gepusht werden? Etwas ernster gewendet: Uns schien die Debatte erstaunlich homogen. Homogen zum einen im Sinne ihrer ablehnenden Positionierung gegenüber der Umbenennung als solcher. Und zum anderen homogen, erschreckend homogen, in Hinblick auf den Status der Beitragenden: überwiegend professoral, etabliert, männlich und weiß.
Neben der Homogenität in der ablehnenden Haltung waren es auch die repetitiven fachgeschichtlichen Belehrungen (Kohl 2017, Geisenheimer 2018, Streck 2018), die Gleichförmigkeit der Argumentationslinien sowie die teils problematischen Rhetoriken (näher dazu weiter unten), die uns motivierten, zusammenzukommen und uns mit der Debatte um die Umbenennung auseinanderzusetzen.
Die omnipräsente Suche nach der Herkunft der Fachbezeichnung, als von uns gelesener Versuch den Kern der ‚deutschen Ethnologie‘ zu bestimmen, hinterließ beim Lesen einen faden Beigeschmack. Ist dies die Debatte, die wir führen wollen würden? Kann es im Sinne eines „Vielnamenfaches“ (Hess & Schwertel 2013) sein, die „Pragmatik von Sprachspielen“ (Widlok 2018) und damit eine der Stärken der Völkerkunde_Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie über Bord zu werfen? Mitnichten sollte sich unserer Meinung nach die Debatte im Labyrinth der Herkunftssuche der konzeptionellen ‚deutschen Ethnologie‘ verlaufen. Oder aus Sorge vor einem Identitätsverlust lediglich identitätspolitische Belange ausgehandelt werden. Und geht es bei jenem Bestimmungsversuch denn überhaupt noch im ganz eigentlichen Sinne um eine Diskussion über die Umbenennung oder wird gar vielmehr um vorherrschende Fach- und Selbstverständnisse und um eine gehörige Portion wissenschaftspolitische Deutungshoheit gerungen?
Die Debatte um die Umbenennung hat bei uns weiterführende Fragen und vor allem Fragen nach Relevanzen hervorgerufen. Uns schien jedenfalls, dass sich an dieser Debatte Positionen und Themenfelder ablesen lassen, deren Diskussion um einiges relevanter, konstruktiver und interessanter sein könnte als die Einengung auf eine bloße Namensfrage. Insofern sahen und sehen wir nach wie vor in der Debatte ein beträchtliches Potential. Mit diesem multiperspektivischen Beitrag wollen wir unsere Eindrücke für mögliche und notwendige weitere Impulse und andere Aspekte teilen. Wir hoffen damit gleichzeitig eine intergenerationale Perspektive darauf zu eröffnen, was eine Völkerkunde_Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie für den deutschsprachigen Raum sein kann.
Allerdings gleich zwei Klärungen vorab. Erstens beantworten wir nicht die Frage, wie die DGV/DGSKA denn nun heißen soll beziehungsweise welcher Name für uns der angebrachte ist – das mag auf Anhieb etwas verwundern. Wir haben alle individuelle Positionen dazu, die wir im Zuge dieses Beitrags nicht versuchen wollten, künstlich zu synthetisieren. Und wir sehen die Chance gerade darin, die Frage nach dem Namen zu erweitern: Was steckt denn nun alles in dieser Namensumbenennung, oder um näher an dem Titel des Blogs zu bleiben, what’s (in) that name debate? Zweitens geht es uns nicht um die Frage nach dem ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Fachverständnis. Wir sehen die Stärke der Disziplin – und hier sind wir mit Nachdruck einer Meinung – in der (selbst-)reflexiven Vielstimmigkeit.
Anhand seiner bisherigen akademischen Sozialisation beleuchtet Julian Schmischke die Absurditäten der institutionellen Grenzziehungen zwischen, in seinem Fall, Ethnologie (Universität Köln) und Kultur- und Sozialanthropologie (Universität Münster). Simon Holdermann setzt sich mit der DGSKA als Institution auseinander und fragt danach, was sie ist, für wen sie eigentlich ist und was sie vielleicht sein könnte. Christoph Lange und Souad Zeineddine stellen sich aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionierungen die Frage nach der Verstrickung von Wissenschaft, Politik und gesamtgesellschaftlichen Diskursen.
Mit diesem Beitrag wollen wir uns auch gegen den Vorwurf der ‚Geschichtsvergessenheit‘ und der politischen Verblendung (Kohl 2017, Haller 2018) positionieren. Zum einen betrachtet Souad Zeineddine in ihrem Beitrag den Vorwurf der ‚Geschichtsvergessenheit‘ als eine Rehabilitationsstrategie, die tendenziell problematische Konnotationen und Implikationen mit sich bringt. Hierbei verweist sie auf die problematischen Diskursfelder, in denen sich der eine oder andere Beitrag tummelt. Zum anderen thematisiert Julian Schmischke in seinem Beitrag die auffällige Abwesenheit einer dezidiert ‘deutschen’ Fachgeschichte in den Curricula unterschiedlicher Institute entlang seines Studienweges und verbindet seinen Befund mit den institutionellen Verortungen einer spezifisch gelehrten Völkerkunde_Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie. Unterschiedliche Positionierungen und Sozialisierungsprozesse, akademischer wie außerakademischer Couleur, führen zu diversen Lehren, die aus der Geschichte gezogen werden können. Während für Karl-Heinz Kohl die Zukunft der Ethnologie in der Vergangenheit liegt (Kohl 2013), heißt es für uns, aus der Vergangenheit zu lernen, um eine Völkerkunde_Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie zu praktizieren, die nicht nur die methodologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stemmen kann, sondern auch die politischen. In diesem Sinne liegen die Zukünfte der Völkerkunde_Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie in der, beziehungsweise den Gegenwart(en), bei stetiger Vergegenwärtigung der – für das individuelle Forschungsthema relevanten – Vergangenheit(en).
Das Flurgespräch als ethnographisches Feld
Wir haben uns in den letzten Monaten diverse Male zum gemeinsamen Schreiben und Diskutieren getroffen. Allerdings hat uns die Debatte um die Umbenennung seit dem Launch des Blogs im April 2018 alltäglich begleitet. Mit dem Öffentlich-Werden des so genannten #hautalk um das “Journal of Ethnographic Theory”, haben sich unsere Diskussionen um die Umbenennung auf die akademischen Strukturen erweitert und zugespitzt. Eine zeitlang gehörte es zu unserer Morgenroutine, täglich einen neuen Link und Kommentare zu einem Blog-Beitrag oder zu den aktuellen Entwicklungen aus der #hautalk-Debatte im Email-Postfach bzw. im gemeinsamen Messenger-Gruppenchat zu haben. Es verging kaum ein Mittagessen oder eine Kaffeepause, ohne dass über die Fragen diskutiert wurde, die die Umbenennungsdebatte und #hautalk bei uns hervorgerufen hatten. Auch kurze Flurbegegnungen wurden meist mit aphoristischen Anmerkungen oder knappen polemischen Spitzen zu diesem Thema angereichert, die schließlich teils in verstetigten Insider-Witzen ihre Etablierung fanden.
Der Titel unseres Beitrags ist ein Ergebnis der Diskussionen, die die Beschäftigung mit der Umbenennungs-Debatte bei uns ausgelöst haben, nämlich die nachhaltige Verständigung darüber, was wir als Ethnolog_Anthropolog*innen eigentlich tun, wie wir uns selbst als Forschende und unsere Disziplin verstehen. Die Idee entsprang vielen hitzigen wie wertschätzenden Diskussionen über die Frage, wo der Raum liegt, in dem sich die Möglichkeit zur ‚radikalen Fremdheitserfahrung‘ konstituiert bzw. in dem diese hergestellt und erlebt werden kann. Schließlich ist es diese Fremdheitserfahrung, die als epistemologische Haltung die ‚klassische Ethnologie‘ charakterisiert hat. Aber sind Fremdheitserfahrungen im 21. Jahrhundert noch eine epistemologische Notwendigkeit der ethnologischen_anthropologischen Wissensproduktion, wie so viele Lehrbücher uns immer noch vermitteln wollen. Sind die Erfahrung von Fremdheit und der ausgedehnte Feldforschungsaufenthalt als Schlüssel für erfolgreiche ethnographische Forschung noch zeitgemäß? Kann man sich in Zeiten digitalisierter Austauschformen und fragmentierter Öffentlichkeiten überhaupt noch vollständig in eine ‚fremde Kultur‘ versenken? Gibt es ‚das Feld‘ im klassischen Sinne noch? Oder sind es die klassische Feldforschung und das klassische Feld selbst, die gegenwärtig virtuell werden? Soll die ‚Fremdheitserfahrung‘ als epistemologische Haltung oder heuristisches Werkzeug erhalten werden, muss man sich indes darüber verständigen, inwiefern die Qualität und Produktivität der Erfahrung bestimmbar oder konstitutiv sein kann. Wie unterscheidet sich die Befremdung als laienhafte Beobachter*in sozialer Praxen in den Feldern der STS und in den Laborstudien von traditionellen Feldforschungskontexten? Was ist etwa mit der Befremdung, die ‘neue’ Promovierende erfahren, wenn sie neu in bestehenden wissenschaftlichen Arbeitskulturen ankommen? „Es ist tendenziell ein ermüdendes Gefühl, wieder an dem Punkt zu sein, politische, theoretische, methodologische und positionierungsbezogene Fragen von Grund auf neu auszuhandeln. Das (Kennen-)Lernen von Dynamiken, Codes und Praktiken des neuen Arbeitskontextes ist anstrengend aber auch lehr- und erkenntnisreich“.[2]
Wenn Christoph Lange in seinem Beitrag den Blick von ‚Innen‘ nach ‚Außen‘ beschreibt, dann beschreibt er einen Prozess, der auf uns alle zutrifft. Über die Auseinandersetzung mit den bisherigen Debatten (dem ‚Außen‘), haben wir nicht nur alle mehr über die Fachgeschichte der ‘deutschen Ethnologie’ und ihre Fallstricke gelernt, sondern auch voneinander in dem Sinne, als dass wir uns mit unseren grundlegend unterschiedlichen, außer- und innerakademischen Positionierungen auseinandergesetzt haben. Wir haben uns also einem ‚Innen‘ angenähert, sprich, unser eigenes Schreibkollektiv in seiner Heterogenität kritisch, aber gleichzeitig konstruktiv unter die Lupe genommen: Wo kommen wir her? Was ist unser Verständnis von Völkerkunde_Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie? Wie politisch dürfen wir sein? Was ist die politische Relevanz unseres Vielnamenfaches? Und nicht zuletzt haben wir uns auf zwischenmenschlicher Ebene kennengelernt. Zusammenfassen ließe sich: Wir sind von dem ‚Außen‘ (Der Blog) ins ‚Innen‘ (unsere Auseinandersetzungen mit den jeweils individuellen Perspektiven auf, sowie Erwartungen und Wünschen an das Fach) gegangen und nun mit diesem Beitrag wieder ins ‘Außen’ zurückgekehrt. Eine Bewegung, die für uns einen festen Bestandteil des ethnologischen_anthropologischen Forschens darstellt. Und da dies alles im Research Lab, auf den Fluren der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne und des Instituts für Ethnologie vonstatten ging, begreifen wir die Flurgespräche als ethnographisches Feld.
* * *
Ein „und“ – endlich?!
Julian Schmischke
Dieser Blog stellt die Frage „Wofür steht die Umbenennung“. Die bisher veröffentlichten Beiträge scheinen überwiegend der Auffassung zu sein, dass die Umbenennung vor allem dafür steht, dass ein paar zu hippe Berliner und vor allem der „historisch blinde“ (Haller 2018) Nachwuchs bzw. „jüngere und sich jung fühlende Menschen“ (Bierschenk 2018) sich gegen die Anerkennung der historischen Verflechtung der Begriffe in Deutschland und für einen Anschluss an, um nicht zu sagen: für Unterwerfung unter internationale Diskurse und Arbeitsweisen entschieden haben. Diese Bedenken kann ich nachempfinden. Jedoch bin ich der Ansicht, dass die Situation etwas zu dramatisch beurteilt wird. Ich will auch festhalten, dass die vorgelegten Einblicke in die Fachgeschichte mich angeregt haben, meinen durch die Umbenennung hervorgerufenen Enthusiasmus zu reflektieren. Viele Verflechtungen waren mir tatsächlich nicht präsent.
Dennoch steht meiner Ansicht nach die Umbenennung auch für anderes.
Um es transparent zu machen: Ich bin einer dieser Studierenden, der dem Aufruf gefolgt ist, zur Tagung 2017 in die DGV einzutreten, um an der Abstimmung teilnehmen zu können. Hätte mich nicht eine Kommilitonin, die nach Berlin vernetzt ist, auf diesen Tagesordnungspunkt aufmerksam gemacht, wäre ich vielleicht nicht dabei gewesen. Obwohl ich bereits die DGV Tagung 2015 besucht hatte, hatte ich bisher keine Notwendigkeit dafür gesehen, der Fachgesellschaft beizutreten, schließlich wollte ich bisher noch keinen Vortrag halten. Ebenfalls wollte ich nicht beitreten – und das lag auch am Namen. Ich habe für die Umbenennung weg von Völkerkunde gestimmt und auch für die Umbenennung in Sozial- und Kulturanthropologie.
In den Flur- und anderen Gesprächen, die zu diesem Beitrag geführt haben, wurde deutlich, dass unsere Erfahrungen des Ethnologie-Studierens viel heterogener waren als in den bisherigen Beiträgen deutlich wird. Hier wird meiner Ansicht nach auf einen Kanon referiert, der sich dadurch auszuzeichnen scheint, dass Fachgeschichte, und vor allem die Strömungen und Debatten innerhalb des deutschsprachigen Raumes, sehr stark im Curriculum vertreten sei. Jedoch ist das nicht unsere Erfahrung. Und dies möchte ich im Folgenden kurz an unseren und vor allem meinen Studienerfahrungen aufzeigen.
Die Autor*innen dieses Beitrags studierten Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Kulturwissenschaft und Transkulturelle Studien gepaart mit den Zweit-, Neben- und Komplementärfächern Arabistik, Religionswissenschaften und Ökonomik. Ergänzt um Ausflüge in angrenzende Disziplinen, teils obligatorisch im Rahmen von „Allgemeinen Studien“ oder „General Studies“, oder gar aus individuellem Interesse, und auch nicht zu vergessen die studien- und feldforschungsbedingten Auslandsaufenthalte.
Während meiner Bachelor-Tage, wohlgemerkt des „B.A. (2-Fach) Kultur- und Sozialanthropologie und Ökonomik“ (ja manche von uns sind mit solchen, unpraktischen Bezeichnungs-Ungetümen akademisch sozialisiert worden) an der Uni Münster gab es gar keine Veranstaltung zur Geschichte der deutschen Ethnologie. In den einführenden Vorlesungen wurde die Gründungskonstellation auf Tyler und Morgan, Malinowski und Radcliffe-Brown, und natürlich auch Lévi-Strauss eng geführt. Dass Marx, Weber und Durkheim ebenfalls wichtig für die Ethnologie waren, lernte ich erst später dazu.
Münster weist allerdings, wie Thomas Widlok in seinem Beitrag (Widlok 2018) bereits angedeutet hat, in dieser Hinsicht eine besondere Konstellation auf. Hier stemmen zwei Einrichtungen – das Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie und das Institut für Ethnologie – den BA-Studiengang KuSA, der nur gleichberechtigt mit einem zweiten Fach studiert werden kann. Um diese institutionelle Spaltung zumindest in den persönlichen Beziehungen zu minimieren, wurden die Einführungsvorlesungen in den ersten beiden Semestern von zwei Professor*innen von je einem der Institute im Dialog gehalten. Die uns vermittelte Arbeitsteilung schrieb die Ethnologie auf die Untersuchung von „Schamanen im Regenwald“ und die Volkskunde auf die von „Bauern in den Alpen“ fest – fachgeschichtlich gesehen natürlich. Im Verlauf des Studiums musste die Unterscheidung jedoch zusammenbrechen und es wurde zunehmend klarer, dass diese holzschnittartige Trennung heute nicht mehr als identitätsstiftend angesehen werden kann. Betont wurde im nächsten Satz aber stets, dass die Art und Weise des Erkenntnisgewinns – das ethnographische Feldforschen im Modus der teilnehmenden Beobachtung – die beiden Disziplinen eng verbinden würde (vgl. auch Bollig 2013: 167f). Silke Meyer („Volkskundlerin/Kulturanthropologin“) und Guido Sprenger („Ethnologe/Sozialanthropologe“) bringen dies in einem Beitrag auf den Punkt:
„Die Kultur- und Sozialanthropologie verstehen wir hier als den gemeinsamen Grund der Volkskunde- wie der Ethnologie [Völkerkunde]. Diese zwei Fächer unterscheiden sich in ihrer historischen Entwicklung, ihren traditionellen Themen und teilweise auch in ihren theoretischen Interessen. Dennoch haben die letzten Jahrzehnte zu einer faktischen Annäherung der Fächer geführt, auch wenn diese auf dem Gebiet der Institutionen durchaus nicht immer gang und gäbe ist: Volkskunde und Ethnologie haben weiterhin getrennte Institute, Berufsverbände, Publikationsforen und Kongresse, und eine solche Trennung erscheint auch für die Zukunft wahrscheinlich und hochschulpolitisch wünschenswert“ (Meyer & Sprenger 2011: 204).
So kam ich also als halber Kultur- und Sozialanthropologe in Köln an. In Münster hätte ich mich für eine Spezialisierung im M.A. Social Anthropology am Institut für Ethnologie entschieden, um endlich ein ganzer Ethnologe zu werden. Aber aufgrund der thematischen Schwerpunkte entschied ich mich allerdings für einen Standortwechsel. An der Universität zu Köln wurde mir jedoch im Rahmen des Immatrikulationsprozesses klar gemacht, dass mich meine bisherige Ausbildung bestenfalls zu einem Viertel-Ethnologen machen würde. Nachdem ich zunächst eine Absage für den M.A. (1-Fach) Ethnologie bekam, weil ich nicht genügend einschlägige Veranstaltungen belegt hatte, wurde ich dann auf Nachfrage doch zugelassen. Es habe sich nur um einen Fehler im System gehandelt. Allerdings war die Zulassung an Auflagen geknüpft, sodass ich noch drei einführende Vorlesungen aus dem Kölner B.A. Ethnologie nachholen durfte.
Während meiner Studienzeit in Köln wurde innerhalb von vier Jahren ein Seminar zur Fachgeschichte der Ethnologie im deutschsprachigen Raum abgehalten („Ethnologie in Deutschland“). Nach Aussage des Dozenten sei das Seminar, gemessen an der Zahl der interessierten Studierenden, „ein Ladenhüter“ gewesen. Im B.A. Ethnologie in Köln wird zudem einmal im Jahr eine Vorlesung zum „Überblick über die ethnologischen Theorien“ gehalten. Die Vorlesung zum Evolutionismus und Diffusionismus in der Ethnologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte auf die Arbeit einiger früher deutschsprachiger Ethnologen aufmerksam (Fritz Gräbner, Bernhard Ankermann, Pater Wilhelm Schmidt, u. a.). Dann wandten wir uns, mit der Ausnahme der Besprechung der Einflüsse Webers, Marx’ und Engels, wieder der internationalen Entwicklung zu. Abgesehen von dem offensichtlich geringeren Anteil an „volkskundlichen Themen“ deckten sich die Inhalte der Vorlesung weitestgehend mit der Genealogie, die ich in Münster kennengelernt hatte. Und so schien mir der gemeinsame Grund überaus präsent. In der institutionalisierten Realität allerdings wurde ich auf eine deutliche Grenze hingewiesen.
Es drängt sich die Frage auf, ob diese Studienerfahrung für unsere Zeit verallgemeinerbar ist. Vielleicht nicht umfänglich. Aber ich denke dennoch, dass Studierende die an mehr als einer Universität studiert haben, oder sich zumindest über Studienangebot im deutschsprachigen Raum informiert haben, aufgefallen ist, dass sich hinter sehr verschiedenen Namen recht ähnliche Inhalte verstecken. Außerdem frage ich mich, ob diese Erfahrung historisch spezifisch ist. Wenn ich mir die Listen von studierten Fächern aus Zeiten des Magisters, als man scheinbar, ohne mindestens drei andere Fächer kennengelernt zu haben, keinen Abschluss bekommen konnte, so ansehe (vgl. z. B. Widlok 2018) – vielleicht nicht.
In Flurgesprächen, oder auch Gesprächen auf der Wiese oder im Feld, ist es meine Erfahrung, dass die Bezeichnung dessen was ich tue, an der Universität studiere, ohnehin immer erklärungsbedürftig ist. Fast unabhängig davon, für welche Komposition aus meinem inzwischen anverwandelten Repertoire ich mich entscheide.
Während ich mich früher gerne als Kultur- und Sozialanthropologe vorgestellt habe, musste ich diese Selbstbezeichnung in den Kölner Jahren überdenken. Die Welt schien in Köln klar geordnet: Eigentlich gibt es nur die Ethnologie und im Ausland heißt sie eben ein bisschen anders. Auch wenn die englische Übersetzung der Institutsbezeichnung Department of Social and Cultural Anthropology ist. Trotz anfänglichen Haare-Sträubens begann ich mich Ethnologe zu nennen, wobei mir das bis heute Unbehagen bereitet. Allem voran die unter Studierenden gerne verwendete Kurzform „Ethnos“.
Allerdings ließ sich das Fach Ethnologie für mich oft nicht ohne einen Hinweis auf den früheren Namen Völkerkunde erklären. Zudem kam es nur zu oft vor, dass Gespräche mit Außenstehenden wie folgt verliefen.
Sie: „Und womit beschäftigst du dich?“
Ich: „Ich studiere Ethnologie.“
„Ahja, das klingt ja spannend.“
„Das ist es auch! Hast du schon mal davon gehört?“
„Hmm, nein eigentlich nicht.“
„Und was meinst du worum es darin geht?“
„Öhm, keine Ahnung um ehrlich zu sein.“
Deswegen bin ich nun dazu übergegangen, die Ethnologie als „Transnationale Gesellschaftswissenschaft“ vorzustellen. Darunter können sich meine Gesprächspartner*innen zumindest grob etwas vorstellen. Mir geht es in diesen Interaktionsmomenten um ein interessement (Callon 1986, Star & Griesemer 1989) der Menschen um mich herum, für das Fach, von dem ich denke, dass es wichtig ist und zukünftig auch noch wichtiger werden wird. Für mich persönlich eignet sich dafür eine Fachbezeichnung besser, mit der ich Außenstehenden vermitteln kann, worum es den Menschen in meinem Fach geht. Sozial- und Kulturanthropologie erfüllt diesen Zweck für mich deutlich besser als Ethnologie und führt für mich zu anregenderen Diskussionen.
Unsere Arbeitsgruppe in Köln befasst sich grundlegend mit Transformationen des Lebens. Wir stellen uns die Frage, wie Transformationen aus den Handlungen und Praktiken der Akteure hervorgebracht werden. Viele bisherige Beiträge scheinen davon auszugehen, dass sich diejenigen, die für die Umbenennung stimmten, von irgendwas haben bezaubern lassen, um nicht von verblenden zu sprechen, sodass die spezifische Begriffsgeschichte einfach weniger stark gewichtet wurde. In diesem ‚Wie können die nur!‘ schwingt mit, dass offenkundig nicht logisch überlegt und abgewogen wurde, denn sonst wäre die Abstimmung ja anders ausgegangen. Wäre es aber nicht auch möglich, dass persönliche Erfahrungen der Abstimmenden sie dazu bewegt haben, ihre Stimme für eine Umbenennung abzugeben?
„Die Erfahrungen der Akteure mit ‚der Welt‘, bevor diese durch Konventionen zur Realität gemacht wurde, decken sich nicht mit der Realität der Konventionen, weil letztere meist der Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse hinterherhinken und so bisweilen als willkürlich erscheinen. Weiterhin kann Erfahrung Konventionen deshalb nur zum Teil bestätigen, weil Konventionen immer nicht-intendierte Folgen haben und widersprüchliche Komplexitäten hervorbringen. Schließlich lässt sich in nahezu jeder Situation auf mehrere, teils divergierende Konventionen zurückgreifen“ (Rottenburg 2013: 71).
In unserer akademischen Praxisgemeinschaft scheint es für Studierende nicht zentral gewesen zu sein sich mit der Fachgeschichte der Ethnologie auseinanderzusetzen. Wenn man auf vorangegangene Fachdebatten zurückblickt, wie beispielsweise die zwischen den Substantivisten und den Formalisten in der Wirtschaftsethnologie, scheint es nicht ungewöhnlich für die Disziplin, gewisse Diskussionen für eine Zeit unberührt zu lassen. Oder zumindest nur in Teilen aufzugreifen und neu zu arrangieren (Hann & Hart 2011: 72f). Aber wie beispielsweise die erneute Rezeption von Karl Polanyi nach der Krise 2008 gezeigt hat (Hann & Hart 2011: 71), ist dies kein ‚Todesurteil‘. In diesem Sinne sollte die Debatte in diesem Blog den Anstoß dazu geben, einen neuen Zugang zur Fachgeschichte der Ethnologie im deutschsprachigen Raum zu erarbeiten. Idealerweise auch mit der Erarbeitung eines einschlägigen Kanons und didaktischen Vorschlägen.
Der für mich konsequenteste – und im Lichte dieser Debatte bedeutsamste – Bestandteil der neuen Bezeichnung unserer Fachgesellschaft scheint mir das „und“. So wie ich das Fach bisher verstanden habe hätte es „die Ethnologie“ ohne Inspiration von außen nicht weit gebracht. Und auch ohne interne Debatten hätte sie es nicht weit gebracht. Wenn sich Mitglieder der Fachgesellschaft entscheiden möchten, in Selbst-Bezeichnungen das Potential für eine fachinterne Erinnerungskultur zu sehen, warum dann nicht in diesem Bestandteil?
* * *
DGWTF?!
Simon Holdermann
Um herauszufinden, inwiefern mich die Debatte etwas angeht, frage ich mich, was genau die DGV/DGSKA ist, bzw. für wen sie ist. Das stellt mich vor ein nicht unerhebliches Problem: Wie schaffe ich es, eine solch grundsätzliche Einlassung mit Fragen zu Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Fachvereinigung zu verbinden, ohne entweder als naiv, anmaßend oder ahnungslos abgestempelt zu werden? Und sollte ich es ernst nehmen, wenn ein Kollege zu unserer Entscheidung, als Schreibkollektiv einen Beitrag zur Umbenennungsdebatte zu verfassen, mit schelmischem Grinsen sagt: „Sehr gut! Ich sehe gerne aus nächster Nähe zu, wie ihr eure weitere Karriere zerstört“ – aber welche Karriere eigentlich? Und wie hängt die DGSKA damit zusammen?
Ein Paragrafenritt auf der Suche nach den Mitgliedern
Ich promoviere im Fach Ethnologie. Allerdings habe ich bislang noch keine DGV Tagung besucht. Ich bin sogar noch kein ganzes Jahr Mitglied, habe den Mitglieds-Antrag erst nach meinem Feldforschungsaufenthalt gestellt. In gewisser Weise als Teil des Prozesses, meine erhobenen Daten auszuwerten und aufzubereiten – also als Teil des wissenschaftlichen Arbeitens, oder besser: der akademischen Professionalisierung. Aber wieso eigentlich? Die Fachvereinigung war in meinem Studierendenalltag nicht präsent und ist es in meinem Alltag als Doktorand eigentlich auch nicht viel mehr. Aber es scheint der notwendige und wichtige Schritt zu sein, um als ‚richtige*r‘ Wissenschaftler*in im akademischen Betrieb laufen zu lernen – und auch seine Forschungsergebnisse auf fachinternen Veranstaltungen vorstellen und diskutieren zu können. EASA Mitglied musste ich ja ebenfalls werden, um auf der Konferenz überhaupt vortragen zu können.
Hier könnte meine Erkundung darüber, was und für wen die DGV/DGSKA ist, schon schließen. Das wäre dann neben einer etwas fragwürdigen Selbstoffenbarung allerdings auch ein recht funktional-karrieristischer Bestimmungsversuch. Eigentlich möchte ich auf etwas anderes hinaus – etwas, das sich durch die bisherigen Beiträge zur Umbenennungs-Debatte für mich als Frage aufdrängt: Wann und wie ist man eigentlich Teil dieser Fachvereinigung? Ab wann sehe ich mich selbst (und natürlich vice versa andere mich) als vollwertige*n Ethnolog_Anthropolog*in? Gerade, wenn ich doch immer noch irgendwie ‚in der Ausbildung‘ bin? Bin ich DGSKA-Mitglied, wenn das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis stimmt, oder ist sie doch eher eine Vereinigung von Etablierten? Was bringt mir diese Vereinigung eigentlich?
Ich schaue mir zunächst die Selbstbeschreibung der Fachvereinigung DGSKA an und frage mich, was der Begriff „Fachvereinigung“ genau bedeutet. Wikipedia hat jedenfalls keine Antwort. Man könnte wahrscheinlich auch Fachverband sagen. Also eine besondere Form eines Interessenverbands. Oder aber ein Berufsverband? Denn immerhin gibt es „formale Bedingungen“, an die die Mitgliedschaft geknüpft ist, nämlich an den Nachweis über eine einschlägige fachliche Ausbildung. Als vereinsrechtlicher Laie scheint mir die Bezeichnung Berufsverband daher ebenfalls passen zu können. Nun heißt es aber Fachvereinigung. Ich möchte keine spitzfindigen Begriffsspielereien veranstalten. Doch finde ich interessant, ob die Fachvereinigung nun eher in Richtung eines Interessen- oder eines Berufsverbands tendiert, weil das einen entscheidenden Unterschied im Verständnis des Vereins und im Selbstverständnis der Mitglieder zur Folge haben dürfte: Wer darf Mitglied sein, Stimmrecht besitzen, für wen bringt diese Vereinigung eigentlich was genau? Wissenschaft als Beschäftigung oder Beschäftigung aus wissenschaftlichem Interesse vs. Wissenschaft als Beruf?
Zur Klärung konsultiere ich die Satzung, die festschreibt:
§1 Name und Aufgaben der Gesellschaft
1. Die Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie e.V. (DGSKA) ist eine Vereinigung von Sozial- und Kulturanthropolog_innen bzw. Ethnolog_innen und an der Sozial- und Kulturanthropologie bzw. Ethnologie interessierten Personen und Institutionen, die der Förderung der Wissenschaft dient.
§5 Ordentliche Mitglieder
1. Die ordentlichen Mitglieder gleich welcher Nationalität müssen sich als Sozial- und Kulturanthropolog_innen bzw. Ethnolog_innen ausgewiesen haben. Studierende der Sozial- und Kulturanthropologie bzw. Ethnologie können nach dem 4. Fachsemester mit Befürwortung zweier ordentlicher, nichtstudierender Mitglieder ordentliche Mitglieder werden. Sie verzichten auf das passive Wahlrecht, können eine_n in den Beirat zu delegierende_n Vertreter_in einer studentischen Arbeitsgruppe wählen und entrichten einen geringeren Mitgliedsbeitrag.
Also eine Vereinigung für Ethnolog_Anthropolog*innen und Interessierte. Und auch die Interessierten müssen sich, zumindest wenn sie ordentliche Mitglieder sein möchten, als Ethnolog_Anthropolog*innen „ausgewiesen“ haben. Damit bleibt noch Einiges unklar. Offenbar ist man unter vier Semestern noch nicht ausgewiesen. Danach halb, wenn man die Türsteher-Unterschriften vorlegen kann. Fraglich ist, ob theoretisch vier Semester Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie zählen oder Sozial- und Kulturanthropologie (was an manchen Instituten ja auch als jeweils zur Hälfte Ethnologie und Europäische Ethnologie modularisiert angeboten wird). Gleichzeitig wird die Rolle des Studienabschlusses nicht expliziert. Was sich dann in Thomas Bierschenks Argumentation so liest, als sei kein Studienabschluss eben auch keine ausreichende „Ausgewiesenheit“:
„Es ist mir nicht bekannt, wie viele Mitglieder der DGV überhaupt einen Studienabschluss haben, und wie sich das bei den seit 2015 neu hinzugekommenen Mitgliedern darstellt. Die Vermutung drängt sich auf, dass Berliner Studentinnen und Studenten der Ethnologie (jetzt: „Berliner Kultur- und Sozialanthropologen und –anthropologinnen“), die meisten erst seit kurzem Mitglied in der Gesellschaft und wahrscheinlich noch wenig mit dem Fach und seiner Geschichte vertraut, erheblichen Anteil an der Entscheidung hatten“ (Bierschenk 2018).
Doch selbst das Kriterium des Studienabschlusses würde die Sache nicht vollends klären; weil, welcher denn? Reicht ein Bachelor oder muss es schon ein Master sein? Was machen wir mit Zwei-Fach-Bachelor- oder Master-Absolvent*innen? Weil ethnologische Mindest-Credit-Points abzulehnen sind vielleicht doch erst mit der Promotion oder als Doktorand*in an einer Uni eingeschrieben? Hier wären dann die in der Ethnologie_Anthropologie-Promovierenden mit fachfremdem Hintergrund die letzte Ausnahme, über die sich sicherlich hinwegsehen ließe. Wenn ich mir das so vor Augen führe, finde ich das etwas schwammige „sich als Ethnolog_Anthropolog*in ausgewiesen“ haben doch einleuchtender. Es verlagert die Problematik auf das eigene Selbstverständnis – oder genauer gesagt, auf den erforderlichen selbstbewussten Umgang damit. Und das ist ja auch ein elementarer Schritt in der Formierung der eigenen akademischen Professionalität.
Das Vielnamenfach im Universitätsbetrieb: noch Elfenbeinturm oder schon Luftschloss?
Während also die Satzung klar stellt, dass alle ordentlichen DGSKA-Mitglieder Ethnolog_Anthropolog*innen sein müssen – ab wann man das auch immer so richtig ist – sagt sie nicht, dass diese auch in der Wissenschaft tätig sein müssen. Als eine Vereinigung „für die Förderung der Wissenschaft“ klingt das mehr nach lobbyierendem Interessenverband und weniger nach Berufsverband von professoralen, bzw. im Wissenschaftsapparat etablierten Ethnolog_Anthropolog*innen. (Im Übrigen heißt die Vereinigung für Menschen mit einschlägiger Fachausbildung, die aber außerhalb der Wissenschaft beschäftigt sind „Berufsverband freiberuflicher Ethnolog_innen e.V.“).
Was heißt „für die Förderung der Wissenschaft“? Und welche Rolle spielt die Fachvereinigung dabei, die Newcomer auf ihrem Weg in die Wissenschaft zu integrieren, bzw. sie zu fördern? Zur Grundlage ein kurzer Blick auf einige einschlägige Verbleibstudien von Studierenden der Völkerkunde_Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie: Die Kölner Studie (1997), hält fest, dass „[m]indestens 31 von den insgesamt 239 Absolventen […] irgendwann einmal mit Wissenschaft ihr Einkommen bestritten [haben]“. Auch die Hamburger Studie (2001) beziffert die Anzahl der Absolventinnen und Absolventen, die in der Wissenschaft tätig sind, auf vergleichbare 12,5-12,7%. Allerdings geben sogar 61% an, dass ihre Beschäftigung insgesamt etwas mit Ethnologie zu tun hätte. Bei der Bonner Studie (2012) für die „Abteilung für Altamerikanistik und Ethnologie“ zeigt sich, dass sogar „fast ein Drittel im Bereich von Hochschule und Wissenschaft verbleibt“. Was steht hinter den Zahlen? Wer sind diese 12-30%, die in der Wissenschaft bleiben? Sind es die besten oder hartnäckigsten? Würden gerne noch mehr bleiben, können aber nicht, weil sich für diese nicht die Möglichkeit bietet? Würden gerne viel weniger in der Wissenschaft bleiben müssen, bleiben aber in Ermangelung an guten berufspraktischen Alternativen? Und spricht die DGSKA auch für diejenigen, die nicht in der Wissenschaft bleiben – oder sollte sie es?
Sehen wir einmal von der Frage ab, inwieweit man durch das Studium berufspraktische Qualifikationen erlangt und bleiben wir für den Moment bei den Möglichkeiten einer akademischen Karriere. Neben der tieferen Durchdringung des inhaltlichen Stoffes auf dem Weg der Professionalisierung, wird erwartet, dass wir als Nachwuchs zunehmend auch karrieristisch-instrumentell und strategisch denken – mitunter zu Lasten der ausgiebig-inhaltlichen Beschäftigung. Exemplarisch hierfür ist das inoffizielle Motivations-Mantra der akademischen Betreuungsverhältnisse: „Die Bachelorarbeit ist nicht so wichtig, wichtig ist was danach kommt!“; gefolgt von „die Masterarbeit ist nicht so wichtig, wichtig ist was danach kommt“; und wiederum gefolgt von „die Promotion: ach, nicht verrückt machen, wichtig ist, was danach kommt!“ Verständlich ist schon, dass man den motivierten Early Stage Researchers (EU-Jargon) die Idee eines großen Wurfs, der die Fachfesten ins Wanken bringt oder revolutionäres wissenschaftliches Potential besitzt, austreiben oder zumindest entscheidend abfedern muss. Und selbstverständlich gilt es, sich auch auf die zielführende Machbarkeit einer Arbeit im Rahmen angebrachter Zeit- und Kapazitätsressourcen zu besinnen. Immerhin ist es – zumindest zum Teil – auch ‚nur‘ eine qualifizierende Dokumentation darüber, dass man so langsam sein wissenschaftliches Handwerk versteht – sich also zunehmend als Ethnolog_Anthropolog*in auszuweisen vermag. Aber dennoch mutet dieser Zukunftsglaube etwas skurril an, wenn er solche fast schon messianischen Züge annimmt. Was genau kommt denn danach? Was genau hält das danach für mich bereit? Welche Zielvereinbarungen und -vorstellungen haben die Betreuer*innen vor Augen? Junior-Professur: ach, nicht so wichtig, aber danach…!
Das danach könnte vielleicht tatsächlich sein motivierend-utopisches Potential entfalten, brächen nicht in regelmäßigen Abständen – neben den gelegentlich notwendigen und berechtigten Selbstzweifeln – die sarkastischen Realitäten der gegenwärtigen Umstände herein. Diese sorgen dafür, dann nur noch leicht ironisch daran zu glauben, dass man – selbst mit sehr guter Arbeit, die man im besten Fall mit Begeisterung macht – eines Tages eine sichere Position bekommen kann. Drei Aussagen möchte ich hier als weitere Beispiele anführen, die mir in meinem akademischen Werdegang begegnet sind und in meinem Kopf nachhallen. Sie stammen von Wissenschaftler*innen, die sich in ihrer Disziplin zweifelsfrei als solche „ausgewiesen“ haben. Inwiefern es sich um Einzelfälle handelt, oder um eine breitere Symptomatik, mögen andere beurteilen. Erstens wurde ein eigener Artikel, der es in ein renommiertes Journal geschafft hatte, mit den Worten „ich dachte es gibt vielleicht Feedback, aber das interessiert eh keinen“ kommentiert. Zweitens ist es ernüchternd zu sehen, dass selbst ausgezeichnete Wissenschaftler*innen, die auf dem Karriereweg viel weiter sind, „keine Ahnung“ haben, „ob es klappt, Professor*in“ zu werden. Nicht zu vergessen ist, drittens, die Aussage aus einem Bewerbungsgespräch: „das ist aber viel Lehre, hatten Sie da nichts Besseres zu tun?“, die vor Augen führt, wie sehr wünschenswerte und gelebte universitäre Praxis auseinander zu klaffen scheinen. Was bietet dieser Karriereweg also überhaupt? Es scheint fast ein bisschen so, als wäre es ratsam an das danach des Zukunftsglaubens noch ein trotz hinzuzufügen. Hoffen auf ein danach, trotz der Umstände und der Zweifel an der Perspektive.
Wo spielt die Fachvereinigung also eine Rolle für die Karriere des Nachwuchses oder zumindest für die Möglichkeit, die in vielerlei Hinsicht gewinnbringende Erfahrung ausgedehnter ethnographischer Feldforschung machen zu können? Wo sollte sie eine noch größere Rolle spielen? Ist die Mitgliedschaft in der Fachvereinigung ein nächster elementarer Schritt auf der Karriereleiter, die mit einer tatsächlichen, und nicht nur imaginativen, Perspektive korrespondiert? Bietet die DGSKA eine echte Austauschplattform für junge Wissenschaftler*innen? Wie füllen Ethnolog_Anthropolog*innen innerhalb, aber auch außerhalb der Wissenschaft, das Ethnolog_Anthropolog*in-Sein ganz praktisch und individuell für sich aus? Welche Rahmenbedingungen gelten dafür jeweils und wo sollten bestehende Bedingungen kritisch hinterfragt werden? Wie sieht es aus, wenn Prekarisierung um sich greift? Inwiefern könnte die DGSKA hier verschiedene Positionen und Vielstimmigkeit integrieren; sowie darüber hinaus auf die Chancen für den eigenen Fach-Nachwuchs einwirken?
Vielleicht sollte die DGSKA mehr Lobbyvereinigung sein und sich einmischen, gerade in die strukturellen, politischen Fragen der akademischen Zukunftsmöglichkeiten ihrer jungen Mitglieder*innen, oder die, die es noch werden. Sie könnte sich auch einmischen in die Belange der Ethnolog_Anthropolog*innen, die gerade nicht in der Wissenschaft bleiben (wollen oder können). Wieso sollte eine DGSKA-Lobbyvereinigung sich nicht sogar politisch-gesamtgesellschaftliche Impulse geben können und so Veränderungsprozesse artikulieren, in die Mehrheitsgesellschaft reintragen? Würde das über Bande nicht auch eine „Förderung der Wissenschaft“ bedeuten? Dabei sollten die Vorstellungen von Zugang und Teilhabe in nicht nur die Fachvereinigung, sondern auch tatsächlich in das Fach selbst auf den Prüfstand gestellt werden – dies DGSKA könnte das moderieren.
Deutlich wird an der Debatte für mich jedenfalls, dass sich die relevanteren Diskussionen offenkundig außerhalb der Frage nach dem geeigneten Namen der Fachvereinigung abspielen. Mit der Umbenennung sollen die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Aber gäbe es da nicht eine Reihe von wichtigeren Hebeln, die bewegt gehörten?
* * *
Ein Blick von außen nach innen? – Desinteresse, Unbehagen und notwendige Positionierung
Christoph Lange
Als Absolvent der Ethnologie habe ich mich bisher im deutschsprachigen Kontext immer als Ethnologe verstanden und bezeichnet. Im Feld, auf Reisen und auf meist englischsprachigen Konferenzen bin ich stets social anthropologist, seltener cultural anthropologist. Manchmal, wenn ich mich gegenüber entfernten Familienmitgliedern, nicht-universitären Freunden, Bekannten oder beiläufigen Begegnungen erklären muss, werde ich gar, aber nur ganz kurz, zum Völkerkundler, was in der Regel erstaunlich gut seinen Sinn erfüllt. Diese Fluidität in der professionellen Selbstbezeichnung erschien mir bisher unproblematisch und niemals als Identitätsproblem.
Andersherum musste ich ungewollt als Student im Spektrum ironisch-spielerischer bis hin zu ernstlich schwerwiegenden Anschuldigungen Position beziehen. Die meist aus dem identitätspolitischen, antirassistischen und postkolonialen Milieu und Freundeskreis stammenden Anklagen, warfen der Ethnologie und somit indirekt auch mir, ausgehend vom rassenkundlichen Erbe und der Beibehaltung der Fachbezeichnung ‚Völkerkunde‘, essentialistisch-rassistische Positionen und koloniale Verstrickungen vor. Die durch die Studienwahl notwendigen und teils erzwungenen Alltagsreflexionen und -positionierungen festigten nach und nach eine persönliche, implizite Verortung der Ethnologie, die auch ohne eine systematische Aufarbeitung der verworrenen Fachgeschichte auskam, und die mehr einer Selbstlegitimation für mein Tun in einem grundsätzlich politisierten Freundes- und Bekanntenkreis entsprach.
Noch zu Beginn der Umbennungsdebatte und den oben beschriebenen Flurgesprächen war ich überzeugt, diese selbstkritische und individuelle Auseinandersetzung mit der Ethnologie sei völlig ausreichend. Über die Entscheidung, die zerstrittenen Positionen und Empörungen blieb mir nur ein unbeteiligtes Lächeln: Weder war/bin ich Mitglied in der DGSKA, noch sind die Mobilmachung und Umbenennungskampange im Vorfeld der Abstimmung bis zu mir vorgedrungen. Außer der mir gelegentlich mitgeteilten, fast drohenden Konsequenz, dass, wenn ich weiter im Fach aktiv arbeiten und forschen will, ich über kurz oder lang in die DGSKA eintreten und mich präsentieren muss, verband ich nicht viel mit der Gesellschaft. Vermutlich ist meine Distanz zur DGSKA sogar als Abwehr gegen diesen latent anbiedernden Opportunismus zu verstehen. In wirklich wahrnehmbare Erscheinung trat die „gelehrte Gesellschaft, die keine mehr ist“ (Blogbeitrag Vermeulen, 29.06.2018), jedenfalls erst mit den Unruhen, die die Entscheidung vom letzten Herbst gebracht hat. Im Zuge unserer Flurgespräche wandelte sich meine naive Störrischkeit mit zunehmender Brisanz der Vorwürfe in eine erneut empfundene Notwendigkeit zur Positionierung, die mir und uns jedoch erstaunlich schwer fiel. Natürlich auch befördert durch meine momentane Anstellung als Mitarbeiter am Kölner Institut für Ethnologie und die damit verbundene Verantwortung in der Lehrtätigkeit, aber primär durch unsere anhaltenden Diskussionen, schlich sich die unwohlige Erkenntnis ein, dass ich, ob ich es mag oder nicht, mittendrin in der Debatte steckte und ein wenig Alltagsreflexion und distanziert, unbeteiligtes Lächeln längst nicht mehr genügen. Vielleicht soviel zur persönlichen Verortung und gedanklichen Genese.
Das Folgende ist weniger als Beitrag oder Ergänzung zu den in diesem Blog bereits versammelten ethnologischen und fachgeschichtlichen Ausführungen und Positionierungen zu verstehen, sondern eher als Versuch, der teils zu sonoren Homogenität etwas entgegen zu setzen. Stattdessen möchte ich genau diese direkte Erfahrung der letzten Monate thematisieren: Wie sich ein grundsätzliches Desinteresse gegenüber der gesamten Umbenennungsdebatte, erst in ein tiefes Unbehagen gegenüber der eigenen Indifferenz und Unwissenheit umgeschlagen ist und schließlich in unsere konstruktiven Diskussionen, Auseinandersetzungen und den hier vorliegenden Beitrag mündete.
Vielleicht könnte man diese persönliche Konversionserfahrung als einen generellen Aufruf zum Perspektivwechsel verstehen; vielleicht auch als das Bedürfnis, den von mir in manchen Blog-Beiträgen als übermäßig polemisch und unnötig belehrend vorwurfsvoll empfundenen Positionen, eine optimistische und konstruktive Perspektive entgegensetzen zu wollen.
Wie unsere konkreten und persönlichen Beispiele zeigen und unterstreichen möchten, hat die Debatte um die Umbenennung selbst, einerseits zu einer positiven Auseinandersetzung und konstruktiven Verhandlungen darüber geführt, was es für uns heißt, Ethnologie, Sozial- und Kulturanthropologie im Jahr 2018 zu betreiben. Und nicht jeder vermeintliche Paradigmenwechsel muss dramatisch als ritueller Königsmord – ob schlampig ausgeführt oder nicht, ist dabei egal – inszeniert oder empfunden werden. Andererseits, und wie von vielen der Beitragenden bereits formuliert, werden in der Debatte um die Umbenennung weit größere Transformationsprozesse im Fach, der Wissenschaft und Gesellschaft offengelegt und ausgehandelt, als ‘lediglich’ das Alleinstellungsmerkmal und die Relevanz einer sonstwie gearteten ‘deutschen Ethnologie’ oder deren lange und bedeutende Tradition, die droht, von einer Gruppe neoliberaler ignoranter Mitläufer (Haller 2018) in den Abgrund des Vergessens gestürzt zu werden.
Vielleicht macht es tatsächlich Sinn, auch in dieser Debatte über den deutschen und fachlichen Tellerrand zu gucken, immerhin zeichnet doch gerade dieser Schritt den ethnologischen Blick und seine Tradition aus. Welche Parallelen gibt es zu den hier im Blog als systemisch empfundenen Bedrohungen und gefährlichen Politisierungen des Faches und der Wissenschaft, beispielsweise in der gegenwärtigen #hautalk Lawine, die erschreckende gesellschaftliche Relevanzen aufgedeckt hat und unabsehbare Problemfelder fürs Fach vor sich herschiebt, auf die niemand zur Zeit zufriedenstellende Antworten zu haben scheint? Für eine erste Sammlung der #hautalk-Reaktionen siehe UzK IfE Facebook Note; und für den Punkt, der hier gemacht werden soll, siehe die späteren Blog-Beiträge von Don Kalb und Bruce Kapferer 2018.
Warum sind deutsche Ethnolog*innen und DGSKA in dieser internationalen Fachdebatte um akademische Prekarisierung, strukturellen Machtmissbrauch, die perverse Omnipotenz renommierter Wissenschaftsverlage und das akzeptierte akademische Forschungsideal als Karriere-Selbstvermarktung im triple peer review nahezu unsichtbar? Ist es nicht die Ignoranz gegenüber und das Herunterspielen genau dieser Transformationen der akademisch-universitären Welt, die ebenfalls implizit in den Geschichtsvergessenheits- und Mitläufer-Vorwürfen der Umbennungsgegner*innen mitschwingen? Wäre es nicht ratsam, sich stattdessen mit den paar verbliebenen aktiven Kräften im Fach, die den status quo nicht hinnehmen wollen und können zu solidarisieren? Und somit gemeinsam an einer Lösung und Auswegen für das als ‚politisiert‘, ‚angelsächsisch-mainstream‘ und ‚neoliberal‘ diffamierte und zurückgewiesene Programm der Umbenennungsbefürworter*innen zu arbeiten? Vielleicht genügt ja schon ein ethnologisches Gedankenexperiment, nur kurz die Möglichkeit zu zulassen und ‚den Unglauben zu beurlauben.‘ Vielleicht folgt etwas Empathie. Wäre es dahingehend nicht wirklich an der Zeit, sich mit den Fragen einer schon längst abgeschlossenen Politisierung und Vermarktung der Wissenschaft zu beschäftigen und den Fokus der Debatte dahingehend anzupassen?
Andernfalls droht der beschworene Niedergang einer eigenständigen deutschen Ethnologie-Tradition und deren fehlende Relevanz und Unsichtbarkeit (besonders auch für uns s.g. early stage researcher) in dieser ihm anhängenden, provinziell-nationalen Perspektive und unangenehm fade schmeckenden Deutschtümelei, eben diese am Ende ‚deutsche Ethnologie‘ selbst zu überrollen.
* * *
Operation Ruhestörung
Souad Zeineddine
Wie bereits bei Thomas Widlok und Christoph Lange angedeutet, hinterlässt die „sehr stark rückwärtsgewandte […] Suche nach einer reinen, essentialistisch aufgefassten ‚Urform‘ hinter den einzelnen Namen“ (Widlok 2018) einen faden Beigeschmack. Die sich selbst überbietenden fachhistorischen Belehrungen in Kombination mit dem Sprachgebrauch so manch eines Beitrags (Haller 2018, Streck 2018) erinnert zum einen stark an den von Latour beschriebenen „Krieg um Fakten“ (2007) und zum anderen an den Rehabilitationsethos (Rottenburg 2013) der modernen Ethnologie des 20. Jahrhunderts. Nur das hier nicht, wie von Rottenburg dargestellt, die ehemals kolonialisierten Menschen rehabilitiert werden sollen, sondern die vermeintlich ‚deutsche Ethnologie.‘ Aber was genau soll eine ‚deutsche Ethnologie‘ sein? Was wird in den fachhistorischen Beiträgen unter Bezugnahme auf was wie versucht zu rehabilitieren?
Beim Lesen der Autor*innen, die verkrampft auf der Suche nach dem Stauffenberg der ‚deutschen Ethnologie‘ des 19. / 20. Jahrhunderts zu sein schienen (Geisenhainer 2018, Haller 2018, Kohl 2017, Streck 2018), erhaschte ich nicht nur einen Blick auf den Geist Herders, – der neben anderen Vertretern nicht nur von der prinzipiellen Unterscheidung zwischen ‚Naturvölkern‘ und ‚Kulturvölkern‘ ausging, sondern auch dem deutschen Nationalismus den Weg bereitete – (Gingrich 2005: 72). Aber wieso wird über die Suche nach dem Stauffenberg der Ethnologie des 19. / 20. Jahrhunderts und im Überbieten von historischen Fakten (Widlock 2018) überhaupt versucht, eben diese Ethnologie zu rehabilitieren, wenn sie doch strukturell und konzeptionell in großen Teilen der herderschen Kulturkreislehre anhängt? Wieso wird sich nicht mit den Möglichkeiten einer Ethnologie_Sozial- und Kulturanthropologie in Deutschland auseinandergesetzt, indem sich mit den Arbeiten rund um Fritz Kramer und Hans Peter Duerr auseinandergesetzt wird? Ist die Figur des als „fremd imaginierten kulturellen Anderen“ (Wellgraf 2015: 56) zu kompliziert zu denken oder wieso wird heute noch von „Wildkulturen“ und „Weltkulturen“ geschrieben?
Streck bleibt immer noch in den Dichotomien von „Weltkulturen“ und „Wildkulturen“ verfangen, wenn er von einer von den Vereinigten Staaten von Amerika ausgehenden „angesagten Weltreinigung“ spekuliert, die die gleichen „Wertvorstellungen, Versorgungsstandards und Säuberungspraktiken“ überall auf der Welt implementieren soll (Streck 2018). Nicht nur in Strecks Beitrag lassen sich latent verschwörungstheoretische Tendenzen, gepaart mit einer Portion Antiamerikanismus, herauslesen, auch Dieter Haller moniert über die „neoliberale Anbiederei an den angelsächsischen Zeitgeist“ (Haller 2018). Setzt Mensch die Lektüre des Haller-Beitrags fort, so ist diese zum Haare raufen „Die Zentralen Begriffe der Sozialanthropologie sind noch immer Auslese (Selektion) und Siebung“ (ebd.). Ja, es gab eine faschistische Sozialanthropologie, dennoch bleibt auch hier die Frage, wieso wird sich nur auf diese berufen? Wieso wird dieses für wichtiger gehalten als alle anderen Traditionen der Sozial- und Kulturanthropologie?
Bedenklich sind auch die Stellen seines Beitrags in denen er den Befürworter*innen der Umbenennung „Gleichgültigkeit gegenüber faschistischen Bezügen, ‚neoliberale(r) Anbiederei‘ an den angelsächsischen Zeitgeist, moralische Selbstüberhöhung und schlichte Wurschtigkeit“ (Haller 2018) vorwirft, um dann lakonisch hinzuzufügen, dass der Zeitgeist nun mal eben rechts weht (ebd.). Dem setzt er noch einen oben drauf, in dem er der „getriebenen Mehrheit“ eine falsche politische Korrektheit vorwirft und das bei „gleichzeitiger historischer Blindheit“ (ebd.). Mit dieser Formulierung bewegt sich Haller nicht nur in problematischen gesamtgesellschaftlichen Diskursen. Vielmehr unterstellt der den Befürworter*innen, sie seien nicht genug informiert und darüber hinaus fehle ihnen Rationalität und demokratische Reife.
Sowohl Strecks latenten Antiamerikanismus, als auch Hallers Vorwurf gegenüber den Befürworter*innen der Umbenennung, die im rechten Zeitgeist mitschwimmen würden, halte ich für sehr gefährlich, und frage mich zumindest bei Haller, ob er weiß, wessen Handwerk er da besorgt? Der Duden jedenfalls definiert politische Korrektheit als Einstellung,
„die alle Ausdrucksweisen und Handlungen ablehnt, durch die jemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft, seines Geschlechts, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, seiner körperlichen oder geistigen Behinderung oder sexuellen Neigung diskriminiert wird“ (Duden 2018).
Zunächst einmal stellt sich die Frage was eine falsche politische Korrektheit sein soll, wenn damit Menschen attackiert werden, die meines Erachtens tendenziell nach dem Prinzip der ‚korrekten‘ politischen Korrektheit agieren? Der Vorwurf der politischen Korrektheit ist meines Erachtens eine Strategie der Delegitimierung von (queer)feministischen, rassismuskritischen und (post-)dekolonialen Wissensproduktionen und Interventionen, die dem konservativen bis rechtsideologischen Diskursfeld entspringt (Aby 1993, Nicholas & Agius 2017). Hinzu kommt, dass der Begriff der „politischen Korrektheit“ seit den 1990er in Deutschland ein rechter Kampfbegriff ist (Dietzsch/Maegerle 1996). Hiermit möchte ich Dieter Haller nicht direkt konservative oder gar rechtsideologische Positionen unterstellen, aber doch auf das problematische Diskursfeld hinweisen, in das er sich mit dem Vorwurf hineinbegeben hat.
Es ist aber nicht nur Dieter Haller, der sich mit seinen Äußerungen in problematischen Diskursfeldern bewegt. Der Antiamerikanismus, der in Bernhard Strecks Beitrag mitschwingt, lässt sich kaum wegdiskutieren und wo Antiamerikanismus herrscht, ist der Antisemitismus auch nicht mehr so fern (Knappertsbusch 2016). Im Zuge meiner Auseinandersetzung mit den bisherigen Beiträgen und den Autor*innen, bin ich über ein von Bernhard Streck verfasstes Gutachten gestoßen (siehe auch Ege 2018). In diesem Gutachten[3] spricht Bernhard Streck Wolfgang Gedeon – einen den Holocaust leugnenden AfD-Politiker – von seinem Antisemitismus frei. An dieser Stelle möchte ich Bernhard Streck nicht direkt rechtsideologische Tendenzen oder Sympathien mit antisemitischen Positionen unterstellen. Nichtsdestotrotz hat mich schon allein die Tatsache überrascht, dass ein Mensch, der sich als Ethnologe bezeichnet, ein Gutachten für einen Politiker angefertigt hat, der aufgrund seiner rechtsextremen Positionen vor einem Ausschlussverfahren in seiner Partei steht, die selbst rechtspopulistische bis rechtsextrem einzustufen ist, Und wenn wir in diesem Blog schon von dem rechten Zeitgeist lesen, dann lasst uns über den rechten Zeitgeist diskutieren und ihn sichtbar machen. In diesem Sinne und im Sinne der Operation Ruhestörung wünsche ich mir mit Nachdruck eine Kenntnisnahme des von Streck angefertigten Gutachtens und eine Stellungnahme hierzu aus der ‚deutschen Ethnologie.‘
* * *
Simon Holdermann ist Doktorand am Institut für Ethnologie an der Universität zu Köln sowie Kollegiat an der a.r.t.e.s. Graduate School. Er arbeitet im Teilprojekt „Digitale Öffentlichkeiten und gesellschaftliche Transformation im Maghreb“ des SFB 1187 „Medien der Kooperation“. Seine thematischen Interessen umfassen Medien- und Technikethnologie, sozio-ökonomischen Wandel und Entwicklung, Tourismus, (Medien-)Ethnographie, Praxistheorie und Postkolonialismus; mit regionalem Fokus auf Nordafrika und den Mittelmeerraum.
Christoph Lange ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie an der Universität zu Köln. Er promoviert zu „Genealogien und Stammesgeschichten arabischer Pferde – Eine vergleichende Netzwerkanalyse des transkulturellen Milieus arabischer und westlicher Züchter, Händler & Pferde-Liebhaber“. Seine Schwerpunkte sind die Ethnologie des Nahen & Mittleren Ostens, Repräsentationsdiskurse arabischer Beduinen, kritischer Orientalismus, medienethnologische Forschung, translokale Verflechtungsgeschichte, STS mit Fokus auf Multispecies-Ethnography/ human-animal-studies. Email: c.lange[at]uni-koeln.de
Julian Schmischke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Global South Studies Center (GSSC) an der Universität zu Köln. Er studierte zuletzt in Köln den 1-Fach Master Ethnologie mit Schwerpunkten auf Globalisierung und Sozioökoomie, ergänzt um das Research Master Programm der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Seine Masterarbeit „Practices of Development Work: Cooperation, Transformation and Expertise in an Indian NGO“ basiert auf einem Feldforschungsaufenthalt in Neu-Delhi und Kolkata. Er interessiert sich für Expert*innen, Communities of Practice, Organisationen, Entwicklungszusammenarbeit, das Verhältnis von Ethnologie und Kritik sowie die Praxistheoriebewegung. Email: julian.schmischke[at]uni-koeln.de
Souad Zeineddine ist Marie Skłodowska-Curie Fellow an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Im Rahmen des Programmes a.r.t.e.s EUmanities global promoviert Souad Zeineddine aus einer dekolonialen Perspektive zu Fragen von Standardisierung, Regulierung und Infrastrukturierung in Hinblick auf die Hafeninfrastrukturen von Durban, Südafrika. Nach ihrem Masterstudium der Transkulturellen Studien (Universität Bremen) erhielt sie ein Brückenstipendium der Forschungsverbundinitiative Worlds of Contradiction der Universität Bremen. Des Weiteren ist sie weiterhin mit der WoC-Verbundinitiative, sowie dem Bremen NatureCultures Lab assoziiert.
Literatur
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––––
[1] Die Verwendung von ‚wir/uns‘ bezieht sich, wenn nicht anders explizit gemacht, nur auf uns vier Autor*innen des Schreibkollektivs und soll keine erweiterte Wir-Gruppe heraufbeschwören.
[2] So schreibt es eine*r von uns als private Notiz ins Feldforschungstagebuch.
[3] http://www.wolfgang-gedeon.de/2016/11/antisemitismus-gutachten/