18/09/19

“There is no alternative”

Ökonomie zwischen ideologischer Schließung und praktischer Vielfalt

Kaum ein Satz beschwört das Ende der Aushandlungen ökonomischer Denk- und Handlungsmuster so eingängig wie Margaret Thatchers «there is no alternative». Thatcher behauptet damit die absolute Alternativlosigkeit einer modernen kapitalistischen Marktwirtschaft, die, aus ihrer Perspektive, unbeeinflusst vom intervenierenden Staat, kollektiv organisierten Arbeiterbewegungen und (wirtschaftsfeindlichen) sozialen Normen bleiben muss, um zu funktionieren. TINA – so das Akronym des Leitsatzes – ist eine Politik des heraufbeschworenen Notstands, des absoluten Sachzwangs: Die Marktkräfte fordern bestimmte Handlungen, die als alternativlos dargestellt werden. Das TINA-Prinzip wurde deshalb zum Mantra einer sich ab den 1970er Jahren etablierenden neoliberalen Politik.

Margaret Thatcher und Ronald Reagan: Die Architekten des TINA-Prinzips (Quelle: White House Photographic Office, Wikimedia Commons)

Thatcher erhoffte sich vom TINA-Prinzip wohl durchaus auch performative Wirkung – Alternativen im Sinne politischer Handlungsoptionen waren damals noch präsenter. In den kommenden Jahrzenten gestaltete sich die Situation zunehmend einseitiger. Die sogenannte freie Marktwirtschaft setzte sich global durch, TINA wurde an vielen Orten zur Realität. Nicht einfach so, versteht sich. Es bedurfte der radikalen politischen Arbeit von Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA, aber auch der Umsetzung der von ihnen vertretenen Prämissen durch IWF und Weltbank. Dazu wurde eine Propagandamaschinerie gegen die noch existierenden Alternativen aufgefahren, um ihnen, im Konsens des Kalten Krieges, endgültig die Existenzberechtigung abzusprechen.

In den 1990er Jahren waren die meisten Weltregionen im TINA-Zeitalter angekommen. Gestützt durch anhaltendes globales Wirtschaftswachstum, konnte die freie Marktwirtschaft dabei auf breite Unterstützung zählen. Der Neoliberalismus – im Sinne einer Regierungsform, in der der Fokus auf dem individuell nutzenmaximierenden Subjekt liegt, hat sich also weitgehend durchgesetzt. Wie es Michel Foucault in seiner Geschichte der Gouvernementalität (2006) treffend beschrieb, bezog sich diese neoliberale Regierungsform aber nicht nur auf die Organisation des Ökonomischen, sondern schlich sich in alle sozialen und kulturellen Lebensbereiche ein. Der Mensch wurde zum «Unternehmer seiner selbst» mit dem ständigen Auftrag, nicht nur das ökonomische, sondern auch das soziale Kapital stetig zu maximieren.

Die Finanzkrise ab 2008 schien diese Alternativlosigkeit zur freien Marktwirtschaft – zumindest derjenigen, die in der Form eines «capitalism on steroids» daherkam – zu relativieren. Plötzlich durfte man die Marktwirtschaft wieder kritisieren, und das nicht nur in marxistischen Lesezirkeln an den Universitäten. Die Harvard Business Review fragte 2011 «Was Marx right?», und die FAZ publizierte 2009 eine sechsteilige und durchaus kritische Serie zur «Zukunft des Kapitalismus». Diese ideologische Öffnung war jedoch von kurzer Dauer. Vielerorts setzten sich politische Bewegungen durch, die nicht den Mangel an Regulierung, sondern eine zu starke Regulierung als Ursprung der Krise verstanden (so zum Beispiel die Argumentation der Anarchokapitalisten in den USA). Auch hier in Deutschland beschwor die Bundeskanzlerin Angela Merkel in unzähligen Reden die Alternativlosigkeit zu marktbejahenden Handlungen (siehe Séville 2017).

Die Art und Weise, wie über die Finanzkrise gesprochen wurde, nahm schon bald eine Form an, in der der Markt nicht mehr das Problem, sondern erneut die Lösung darstellte. Dabei wurde die freie Marktwirtschaft nicht einfach als die beste aller möglichen Optionen beschrieben, sondern eben als die einzige. Wie bereits in den 1970er Jahren erhofften sich neoliberal argumentierende Ökonom*innen und Politiker*innen damit, die freie Marktwirtschaft als «natürliche Ordnung» zu verstetigen. Damit verbunden war nicht nur die Verweigerung, über mögliche alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsformen zu sprechen, sondern diese als unmöglich und nicht der ökonomischen Realität entsprechend darzustellen. Damit ging auch eine konkrete Politik des Beschreibens ökonomischer Praktiken einher. Der Markt, so das Narrativ, ist eine Art Grundgesetz der menschlichen Interaktion. Man produziert und/oder verfügt über Güter, verkauft diese, und versucht dies möglichst gewinnbringend zu tun. Als Konsument*in wiederum versucht man das Benötigte zu einem möglichst tiefen Preis zu ergattern. Angebot trifft also auf Nachfrage – ohne dass dabei die soziale und kulturelle Einbettung des Handelns entscheidend wäre.

Ethnolog*innen haben diese verengte Sicht auf ökonomische Praktiken immer wieder infrage gestellt und dabei argumentiert, dass das Ökonomische stets in soziale Interaktionen und kulturelle Bedeutungssysteme eingebettet ist. Dies geht soweit, dass kulturelle Normen den Imperativ der ökonomischen Nutzenmaximierung gar komplett untergraben. Man denke hier zum Beispiel an den nativamerikanischen Potlatch, ein Ritual des Schenkens, bei dem keine materielle Gegenleistung erwartet wird. Zwar kann der Potlatch durchaus als nutzenorientiert verstanden werden, denn durch das Schenken steht der Beschenkte «in der Schuld» und der Schenkende gewinnt so an politischer Macht. Diese Form der Nutzenmaximierung widerspricht jedoch dem Verständnis der freien Marktwirtschaft, wo – zumindest gemäß Lehrbuch – Parteien ohne Machtasymmetrien aufeinandertreffen. Ein weiteres Beispiel ist der von Malinowski (2013 [1922]) beschriebene Kula-Ring – ebenso ein Tausch ohne ökonomischen Mehrwert. Durch den Kula-Ring, ein ritueller Tausch von aufwändig angefertigten Halsketten und Armbändern, wird zwar soziale Bindung geschaffen. Der Tausch orientiert sich jedoch weder daran, wer der/die ursprüngliche Geber*in ist, noch kreiert er einen direkten individuellen Nutzen für die am Tausch Beteiligten. Beide Beispiele zeigen, dass die Motive des Tauschens und Handelns stets sozial und kulturell eingebettet sind und sich nicht mit dem Modell eines kulturunabhängigen ökonomisch-nutzenmaximierenden Menschen erklären lassen.

Mwali: Aus Muscheln gefertigte Armbänder, die im Kula-Ritual getauscht werden (Quelle: Bronislaw Malinowski, Wikimedia Commons)

Doch nicht nur in ethnographischen Studien in geographisch weiter entfernten Gemeinschaften lassen sich kulturelle Prägungen ökonomischer Praktiken erkennen, die nicht allein rational einer Nutzenmaximierung folgen und die Existenz einer davon unabhängig gedachten „natürlichen“ Ökonomie infrage stellen. Auch der ethnographische Blick auf die «Hochburgen des Kapitalismus» verrät Interessantes. So konnte Caitlin Zaloom (2006) in ihrer Forschung zu Börsenhändler*innen in Chicago und London zeigen, wie selbst im heute hochtechnologisierten Börsenhandel stets ein fiktives Gegenüber imaginiert wird, welchem ein bestimmtes Ethos zugeschrieben wird. Der Handel mit Wertpapieren, so Zaloom, basiert auf verinnerlichten Normen, Handlungsstrategien und damit auf kulturellen Bedeutungssystemen. Ähnliches lehrt uns die Forschung von Karen Ho (2009). Ho gibt in ihrem Buch Liquidated: An Ethnography of Wall Street einen Einblick in die Rekrutierungsnetzwerke der Wall Street und zeigt, dass diese entgegen der Behauptung der Banker*innen keineswegs meritokratisch organisiert sind, sondern stark auf Herkunft und Habitus basieren.

Die Wall Street: Auch dieser Ort funktioniert nicht frei von Kultur und sozialen Konventionen (Quelle: Giorgio Galeotti, CC BY 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)

Eine weitere Diskrepanz zwischen ökonomischem Lehrbuchwissen und Praxis habe ich in meinem Buch Stories of Capitalism (Leins 2018) beschrieben. Die von Finanzmarktexpert*innen angewandten Marktprognosepraktiken basieren, entgegen der allgemeinen Erwartung, oft nicht auf zahlenbasierten Schätzungen oder Berechnungen, sondern auf Intuition, sozialer Interaktion und persönlicher Überzeugung. In Absenz zuverlässiger und erfolgsversprechender Prognosetechniken nutzen die Expert*innen  alternative Wissensregime, um ihre Expertise zu entwickeln. Ihre Prognosen werden erst nach deren Erarbeitung in eine Form gebracht, in der sie als Resultate kühler Berechnungen erscheinen. So werden widersprüchliche Sachverhalte zuerst zu Marktsignalen reduziert und dann in schlüssige Narrative verpackt. Diese Narrative werden später dazu benutzt, das Marktgeschehen gegenüber Investor*innen als erklärbar und prognostizierbar darzustellen. Wichtig ist dabei, das Bild des/der Expert*in als rationalen, auf Basis objektiver Fakten handelnden Akteuren nicht zu erschüttern. Dies, obwohl empirische Forschungen immer wieder gezeigt haben, dass die Treffsicherheit dieser von Expert*innen entwickelten Marktprognosen im Durchschnitt nicht besser ist als eine rein zufällig getroffene Prognose. Die Finanzmarktprognose ist somit eine Technik, die wirtschaftstheoretisch zwar kaum Legitimität findet, als kulturelle Praxis jedoch besteht und Narrative über eine ungewisse Zukunft produziert.

Informationen helfen nicht immer, die Marktentwicklung vorauszusagen: Bloombergterminal in der Analyseabteilung einer Grossbank (Quelle: Stefan Leins)

Wenn man das von Ethnolog*innen hervorgebrachte Argument der Einbettung ökonomischer Praktiken in soziale und kulturelle Gegebenheiten anerkennt, dann kann man die These der alternativlosen freien Marktwirtschaft und entsprechendes Handeln nicht gelten lassen. Trotzdem haben es ihre Interessensvertreter*innen geschafft, diese Lehrbuchversion als alternativlos darzustellen, selbst in einer Post-Lehman Brothers Crash-Welt. Während in der Praxis also durchaus Alternativen existieren, wird auf diskursiver Ebene weiterhin die Alternativlosigkeit beschworen – sowohl im Sinne politischer Handlungsoptionen als auch in der Art, wie ökonomische Praktiken beschrieben werden.

Die Wirkung des TINA-Prinzips lässt sich seit den 1970er Jahren also auf zwei Ebenen beobachten: Erstens in der Verbannung politischer Handlungsoptionen und zweitens im Anspruch an ökonomische Alltagspraktiken, einer freien Marktlogik zu entsprechen. Während die erste Ebene tendenziell die Domäne der Soziologie und Politikwissenschaft darstellt, können sich Ethnolog*innen vor allem der zweiten Ebene annehmen. Denn es braucht – mehr denn je – Ethnolog*innen, die zeigen, dass ökonomische Praktiken immer kulturspezifisch sind und sich nicht selten ganz anders gestalten, als es von Ökonom*innen behauptet wird. Damit zeigen sie, dass Kulturen der Ökonomie unterschiedlich sind und somit immer auch Raum für wirtschaftliche und politische Handlungsoptionen zulassen. Ethnologische Ergebnisse können also genutzt werden, um dem TINA-Prinzip diskursiv Paroli zu bieten. Denn ökonomische Denkmuster und Praktiken sind eben nie einfach Naturgesetze. Sie müssen stets als nie endgültige Produkte von sozialen und kulturell geprägten Aushandlungsprozessen verstanden werden, ganz unabhängig davon, was die TINAs dieser Welt behaupten.

 

Literatur

Foucault, Michel. 2006. Die Geburt der Biopolitik: Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Ho, Karen. 2009. Liquidated: An Ethnography of Wall Street. Durham and London: Duke University Press.

Leins, Stefan. 2018. Stories of Capitalism: Inside the Role of Financial Analysts. Chicago: University of Chicago Press.

Malinowski, Bronislaw. 2013 [1922]. Argonauts of the Western Pacific. Long Grove: Waveland Press.

Séville, Astrid. 2017. “There is no alternative”: Politik zwischen Demokratie und Sachzwang. Frankfurt am Main: Campus.Zaloom, Caitlin. 2006. Out of the Pits: Trading Technologies from Chicago to London. Chicago: University of Chicago Press.

 

Bio

Stefan Leins ist Juniorprofessor für Ethnologie mit Schwerpunkt Kulturen der Ökonomie an der Universität Konstanz. Er interessiert sich für Neoliberalismus und seine Alternativen und forscht zu den Themen Wirtschaftswissen, Finanzmarktpraktiken und Wertschöpfungsketten. Sein Buch Stories of Capitalism: Inside the Role of Financial Analysts erschien 2018 bei der University of Chicago Press.