23/02/21

Religiöse Medien des frühen Mittelalters

Bilder und Reliquien in karolingischer Zeit

Einleitung

Mit der Ausbreitung des Christentums im frühen Mittelalter im nahezu gesamten europäischen Raum wurden religiöse Medien populär, die zwar religionsgeschichtlich keine Neuerungen darstellten, die jedoch im Kontext der christianisierten ehemaligen germanischen  und keltischen Völker zuvor unbekannt waren und zu erheblichen theologischen Kontroversen, neuen Deutungsversuchen und schließlich zu einer neuen Frömmigkeitspraxis und liturgischen Innovationen führten. Unter „religiösen Medien“ verstehen wir dabei solche Phänomene, die es Menschen ermöglichen Religion zu erfahren, die eine Mediation zwischen dem Immanenten und dem Transzendenten, dem Profanen und dem Heiligen möglich machen.

Das bevorzugte und fast ausschließliche Medium der frühen Christenheit war zunächst das gepredigte Wort. Seit dem dritten Jahrhundert wurden christliche (Haus-)Kirchen auch mit Wandbildern im antiken Stil ausgeschmückt und im byzantinischen Bereich tauchten im vierten Jahrhundert – in der Tradition antiker Kultbilder aus den Bereichen Totenbildnis, Kaiserbildnis und Götterbild – erste Ikonen auf. Im sechsten Jahrhundert setzte sich die Verehrung von Ikonen in der Ostkirche allgemein durch. Die Ikonenverehrung genoss im Volk eine außerordent­liche Beliebtheit, blieb jedoch unter den Theologen und Herrschenden nicht unum­stritten und löste im achten und neunten Jahrhundert erhebliche Kontroversen in der christlichen Kirche aus, den Bilderstreit.

Der Ausgang des Bilderstreits

Auf offizieller kirchlicher Ebene war im frühen Mittelalter zunächst noch keineswegs ausgemacht, ob das neue Medium des Bildes überhaupt einen Platz im religiösen Leben haben sollte oder nicht vielmehr dem alttestamentlichen Bilderverbot wider­sprach. Erst das Konzil von Nicäa im Jahre 787 entschied den Streit zugunsten der Befürworter der Bilder und verhalf dem Bild zu seinem dauerhaften hohen Ansehen in der Ostkirche, einschließlich der Verehrung der Ikonen.

In der westlichen Kirche wurden die Beschlüsse von Nicäa über die Angemessenheit der Verehrung der Bilder allerdings (irrtümlich) im Sinne einer Anbetung der Bilder verstanden und entschieden abgelehnt. Fränkische Theologen  im Dienste Karls des Großen verfassten als Antwort auf die Beschlüsse dieses Konzils die Libri Carolini als Gegenschrift, wobei sie gegenüber der Bilderverehrung eine nüchterne Haltung einnahmen. Die Libri Carolini mahnen, die Bilder nicht als „heilige Objekte“, sondern als „Wegweiser“ zu betrachten, die zum wahren Glauben führen. Nach mittelalter­lichem Verständnis dienten Bilder nämlich der besseren Erkenntnis, da das Sehver­mögen als die Grundlage der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt galt. Damit waren bildliche Darstellungen in den Kirchen erlaubt, doch sollten sie keinesfalls der Verehrung der dargestellten Personen dienen, sondern der „memoriam rerum gestarum – dem Gedächtnis der Heilsereignisse“, womit die im Alten und Neuen Testament geschilderten Ereignisse göttlichen Offenbarungshan­delns und die Heiligenlegenden gemeint waren.

Mit diesen Beschlüssen konnte die karolingische Kunst an die Ausschmückung von Kirchen anknüpfen, wie sie seit dem vierten Jahrhundert als Mosaik oder Fresko im Römischen Reich üblich geworden war. Wesentliche Anstöße wurden auch der irischen und angelsächsischen Buchmalerei des siebten und achten Jahrhunderts entnommen. Die Libri Carolini gaben damit für die kommenden Jahrhunderte der künstlerischen Ausgestaltung der Kirchen des Westens die Richtung vor und beeinflussten damit das gesamte künstlerische Schaffen der Romanik.

Frühmittelalterliche Wandmalerei

Durch das grundsätzliche Ja der karolingischen Theologie zum Bildschmuck in den Kirchen konnten nun an den großen ungegliederten Wandflächen karolin­gischer Kirchbauten, die nach dem Vorbild nahöstlicher und römischer Sakralbauten entstanden,  monu­men­tale Wandmalereien entstehen. Schon die Pfalzkapelle und der Palast Karl des Großen in Aachen waren reichhaltig ausgemalt. Glaubt man den zeitgenössi­schen Quellen, so waren die Kirchen und Pfalzen der karolingischen Epoche insge­samt mit umfangreichen Freskenzyklen geschmückt. Wohl alle Monumentalbauten, aber auch kleinere Kirchen und Kapellen waren mit großforma­tigen Wandbildern ausgemalt und selbst die schlichten Würfelkapitelle der Säulen wurden durch aufgemalte farbige Blätter in Blattkapitelle verwandelt.

Von allen diesen Malereien sind durch Verblassen der Farben, Übermalungen und Umbauten oder Abriss der Kirchen nur wenig erhalten geblieben. Doch eine kleine Klosterkirche in Graubünden in der Schweiz, St. Johann in Müstair im Münstertal, gewährt uns noch einen hinreichenden Einblick in die ursprüngliche Konzeption karolingischer Architektur und Kirchenausmalung, die für die gesamte Romanik richtungsweisend werden sollte. Die Klosterkirche wurde bereits im letzten Drittel des achten Jahrhun­derts zur Zeit Karl des Großen gebaut, der der Überlieferung nach der Stifter dieses Klosters gewesen sein soll, und die Kirchenwände wurden um das Jahr 800 vollstän­dig mit Fresken bemalt. Diese sind das umfassendste und an Bildszenen reichste erhaltene Zeugnis karolingischer Wandmalerei und gewähren uns einen Einblick in die theologische Konzeption karolingischer Architektur und Kunst.

 

Das Bildprogramm der Klosterkirche St. Johann in Müstair[1]

Die Klosterkirche St. Johann war ursprünglich eine Saalkirche mit einer flachen Holzdecke. Die glatten Wandflächen des Kirchenschiffs wurden durch keine archi­tektonischen Elemente gegliedert und dürften von Anfang an auf eine vollständige Ausmalung angelegt gewesen sein. Erst die Wandbilder sorgten für eine Gliederung der Wände. Die in Reihen untereinander liegenden Bilder sind durch plastisch gemal­te Rahmungen in Form von bandumwundenen Blattstäben voneinander getrennt. Die Rahmung unterteilt die Wandflächen in rhythmisch gegliederte Felder und umschließt die Bilder zugleich zu einer fortlaufenden Erzählung.

Durch die symmetrische Aufteilung der Bilder entsteht vom Eingangsportal der Kirche her eine Bewegung auf die gegenüberliegende Schmalseite mit ihren drei Apsiden hin, die optisch durch die Wölbungen der Apsisnischen gekrönt zu werden scheint[2]. Das Kirchenschiff erhält dadurch eine  Längsachse und wird zu einem festlichen Prozessionsweg, der an bedeutsamen Etappen der Heilsge­schichte vorbeiführt.

Das Innere der Klosterkirche St. Joseph in Müstair mit den drei Apsiden und der später eingezogenen gotischen Gewölbedecke. Foto: Andreas Fässler, Wikipedia, gemeinfrei, CC BY-SA 3.0

Dieses Bildprogramm in St. Johann in Müstair besteht aus einem durchdachten thematischen und formalen Gesamtkonzept, dessen einzelne Bildszenen gut durch­komponiert sind und mit ihren ursprünglich wohl leuchtenden Farben aus Erden und Steinen und der Flächigkeit der übereinander gestaffelten Figuren auf eine star­ke Fernwirkung angelegt sind, so dass sie auf den frühmittelalterlichen Menschen, dem diese Art von Malerei zuvor völlig unbekannt war, einen überwältigenden Gesamtein­druck gemacht haben muss. Obwohl die damaligen Künstler noch keine Zentralper­spek­tive kannten, überzeugt die gekonnte Komposition und Harmonie der Fresken auch noch den heutigen Betrachter.

Dieses Bildprogramm setzt sich aus fünf waagerecht untereinander liegenden Reihen zusammen und beginnt in der obersten Südostecke des Kirchen­schiffs mit der Darstellung verschiedener Episoden aus dem Leben Davids, den die Bibel zu den Vorvätern Jesu rechnet. Dieser Zyklus zieht sich in einer Folge von zwanzig Bildern über die Südwand, die Westwand und die Nordwand des Langhau­ses bis in die oberste Nordostecke hin. Die Szenen aus dem Leben Davids, die seinen Vater Saul und seinen Sohn Absalom einschließen, befinden sich für den heutigen Kirchenbe­sucher allerdings oberhalb der später eingezogenen gotischen Gewölbedecke und sind vom Kirchenschiff aus nicht mehr zu sehen. Jedoch ist der Höhepunkt des David-Zyklus in der obersten Reihe der Westwand  dem Auge auch heute noch zugänglich: David tanzt nackt und von seiner Frau Michal verspottet vor der Bundes­lade bei deren Überführung in den Tempel von Jerusalem. Davids Auftre­ten wird hier typologisch als Vorzeichen der Entäußerung und Verspottung Jesu verstanden, weshalb diese Darstellung ihren Platz genau gegenüber der Mittelapsis fand. Die Überführung der Lade in den Tempel ver­weist vorausdeutend auf den Neuen Bund, die Ankunft des Gottesreiches auf Erden in Jesus Christus, die sich mit seiner Wiederkunft vollenden wird.

Unterhalb des David-Zyklus wird an den Längswänden in vier Bilderreihen das Leben Jesu ausführlich dargestellt. Das Bildprogramm – soweit noch rekonstruierbar – beginnt mit Jesu Kindheitsjahren: mit seiner Empfängnis und Geburt, dem Besuch der drei Weisen und seiner Darstellung im Tempel, der Flucht nach Ägypten, dem bethlehe­mitischen Kindemord und seinem Besuch im Jerusalemer Tempel und seiner Disputation mit den Schriftgelehrten. Es fährt fort mit der Darstellung seiner messianischen Wirksamkeit, beginnend mit der Taufe durch Johannes und unter besonderer Betonung der Heilungs- und Wundergeschichten und endet mit der Schilderung seiner Leidensgeschichte, angefangen mit dem letzten Abendmahl, der Fußwaschung und dem Verrat durch Judas über seine Gefangennahme und Verurteilung bis zur Kreuzigung, seinem Besuch in der Vorhölle und der Entdeckung des leeren Grabes.

So wird der Kirchenbesucher beim Durchschreiten der Kirche an die großen Ereignisse der Heilsgeschichte bzw. an die Einbrüche göttlicher Offenbarungen in die Menschheits­geschichte erinnert und nähert sich zielgerichtet dem Höhepunkt dieser Heilsgeschichte, dargestellt in den Apsiden und auf der Apsisstirnwand auf der Ostseite der Kirche. Die ganze Breite der oberen Apsisstirnwand, die jetzt oberhalb des gotischen Gewölbebogens liegt, nahm ursprünglich die Darstellung der Himmelfahrt Christi ein. Die Himmelfahrt führt den Leben-Jesu-Zyklus, soweit dessen irdische Wirksamkeit betroffen ist, zu einem glorreichen Abschluss.

Nach seiner Himmelfahrt kann von dem im Himmel thronenden Christus nur noch als Christus Pantokrator berichtet werden. Die Bilder in den Apsiden unterscheiden sich damit erheblich von den Bilderzyklen an den übrigen Wänden. Sie wollen einen ausschnitthaften Blick in die himmlische Sphäre gewähren. Dazu verwenden sie bildhafte Vorstellungen aus den Prophezeiungen Ezechiels und aus der Offenbarung des Johannes. Die Mittelapsis wird überwölbt von einer ovalen Mandorla mit der Darstellung Christi als Weltenherrscher, umgeben von Engelscharen sowie den Evangelistensymbolen. Die Nordapsis zeigt den in einer Mandorla thronenden Christus, der mit seiner Rechten Petrus die beiden Schlüssel des Bindens und Lösens aushändigt und mit seiner Linken dem Völker­apostel Paulus mit dem Symbol der Heiligen Schrift den Verkündigungsauftrag übergibt. In der Südapsis schwebt ein mit Perlen und Edelsteinen besetztes Gemmenkreuz am Himmel, in dessen Mittel­medaillon das verklärte Antlitz Christi mit Kreuznimbus abgebildet ist, ein Zeichen des Sieges des Auferstandenen über den Tod. Die Kuppeln der Apsiden repräsentie­ren damit die himmlische Sphäre des Göttlich-Transzendenten, die außerhalb der Zeit des Menschen steht und kein Element der Heilsgeschichte ist, aber von wo die Ereignisse der Heilsgeschichte ihren Ausgang nehmen. Das Kirchenschiff wird dadurch zu einem Ort der medialen Darstellung von Gottesoffen­barungen und Theo­phanien, in der sich Transzendenz und Geschichte, Göttliches und Menschli­ches begegnen und durchdringen.

Auf seinem Rückweg von der Apsis zum Kirchenportal konnte der Besucher beim Gang durch das Kirchenschiff den David-Zyklus auch als Fortsetzung der Heilsge­schichte in die Gegenwart verstehen. Denn für den zeitgenössischen Betrachter der karolingischen Zeit verwies der alttestamentliche im Leben-David-Zyklus nicht nur prototypisch auf die kommende Heilsgeschichte Jesu hin, sondern wurde auch als Präfiguration des zeitgenössischen Herrschers Karl des Großen verstanden, der sich selbst als „neuen David“, als Kaiser in der Tradition des weisen Königs des Alten Testaments, verstand. Zudem konnten in karolingischer Zeit die fränkischen Könige als „Sohn Gottes“ bezeichnet werden und es ist anzunehmen, dass auch Karl der Große von seiner Umgebung als „Gottes Sohn“ angesehen wurde[3]. Das war zwar nicht – wie bei Jesus – im Sinne einer göttlichen Natur gemeint, sondern im Sinne einer Adoption als Folge seiner Salbung zum König. König David galt damit nicht nur als Vorläufer Jesu, sondern auch als Hinweis auf den gegenwärtigen König, der die Heilsge­schichte in die Jetztzeit übertrug.

Der Weltenrichter an der Westwand der Klosterkirche.
Quelle: https://www.muestair.ch/unesco-welterbe/kloster-st-johann/

Auf seinem Rückweg durch das Kirchenschiff lief der Kirchenbesucher auf die Bilder der Westwand zu, die –  unterhalb der David-Reihe – von den Ereignissen der End­zeit erzählen. In ihrer oberen Zone schildern die Bilder die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten: von der Südseite her erscheint in einer ovalen Gloriole, von Engeln begleitet, der Menschen­sohn, während auf der Nordseite zwei Engel das gestirnte Firmament wie ein Perga­men­tblatt einrollen. Gleichzeitig gehen die Toten aus ihren Gräbern hervor. In einer Kreis-Gloriole in der mittleren Bildzone thront, von Engel­scharen umgeben, Christus als Weltenrichter. An den Seiten des Thrones präsentie­ren Gerichtsengel offene Schriftrollen, in denen die Taten der Menschen verzeichnet sind. Rechts und links von der Gloriole sitzen unter Arkaden die zwölf Apostel als Gerichtsbeisitzer. In der unteren Bildzone vollzieht sich das Gericht: zwei große Engel scheiden die Guten von den Bösen. Mit der Erlösung der Gläubigen kommt die biblische Heilsgeschichte zu ihrer Vollendung und damit findet das Programm ihrer bildlichen Darstellung ihren Abschluss.

Vergleichbare Bilderzyklen aus karolingischer Zeit mit Darstellungen von Ereignissen der Heilsgeschichte finden sich im Umkreis von Müstair im benachbarten Italien in den Kirchen Sankt Benedikt in Mals und San Salvatore in Brescia, die im neunten Jahrhundert ebenfalls zum fränkischen Reich gehörten.

 

Das Bildprogramm der Kirche St. Georg in Oberzell[4]

In Deutschland ist lediglich ein einziger Bilderzyklus aus karolingischer Zeit nahezu vollständig, wenn auch stark verblichen, erhalten geblieben: in der ehemaligen Klosterkirche St. Georg in Oberzell auf der Insel Reiche­nau im Bodensee vom Ende des neunten Jahrhunderts. Auch hier gliedern die Wand­malereien mit ihren breiten Mäander­rahmen, die im Kirchenschiff oberhalb der Arkaden der Seitenschiffe ange­bracht sind, die Wände des Kirchen­schiffs[5]. Acht große Bild­felder erzählen – wie in Müstair – von der göttlichen Heils­ge­schichte, beschrän­ken sich dabei je­doch auf die Dar­stel­lung der Wundertaten Chris­ti: die Hei­­lung eines Aus­sätzigen, eines Blind­ge­bo­­re­nen, eines Wassersüch­ti­gen und ei­nes Besessenen, weiter­hin die Aufer­weckung des Jünglings zu Nain, der Tochter des Jairus und des Lazarus, schließlich die Sturm­­stillung auf dem See Genezareth.

Südseite des Langhauses von St. Georg in Oberzell, Foto: Wikipedia, gemeinfrei, CC BY-SA 3.0

Christus offenbart in diesen Szenen dem Betrachter seine göttli­chen Kräfte: Er trium­phiert über Krankheit und Tod und beherrscht die Naturkräfte. Auch Apostel sind auf diesen Bildern zu sehen, fungieren je­doch lediglich als Zeugen der Wundertaten Christi. Bedeutungsvoll ist allein die Gestalt Christi, die alle anderen überragt und zudem durch einen großen Heiligen­schein hervorgehoben wird. Ein sich wiederho­len­des Bildelement ist die vorgestreck­te segnende und wunder­tätige Hand Christi, deren erhobene Finger sich in scharfem Umriss vom Hintergrund absetzen. Das ganze Interesse des ausführenden Künstlers gilt „dem systematisch-didakti­schen Bildinhalt. Er geht von der handelnden Figur Christi aus, mit ihren reich differen­zierten Bewegungen, mit ihrer spannungsreichen  Ponderation und den magischen Gesten, und schildert den Effekt der von Christus ausgehenden Kraftströme auf die zu Heilen­den und auf die Zeugen. … alles wirkt zusammen zur überzeugenden Charakterisie­rung des Wundertäters.“[6] Die  Schilderung der realen Umwelt findet in diesen Bildern keinen Platz. Alles Gesche­hen konzen­triert sich auf die Begegnung mit der göttlichen Vollmacht Christi, in  der sich das kom­mende Heil bereits mani­festiert und die Heilsgeschichte ihrer Vollendung entgegenstrebt.

Im Obergaden sind die zwölf Apostel als stehende Figuren dargestellt, die die Ausbreitung des Evangeliums nach Christi Tod und Auferstehung symbolisieren. Und zwischen den Arkadenbögen finden sich kreisrunde Bildwerke mit Brustbildern von Äbten, die für den Fortlauf der Heilsgeschichte durch die Zeit stehen.

Eng verwandt mit dem Bilderzyklus von St. Georg in Oberzell ist der ebenfalls aus karolingischer Zeit stammende Leben-Jesu-Zyklus in der Sylvesterkapelle in Überlingen-Goldbach am Bodensee, der jedoch schlechter erhalten ist, aber die gleiche Gesamtintention aufweist.

Das theologische Programm der Bilderzyklen karolingischer Kirchen

Schon diese kurze Beschreibung der Wandmalereien der Kirchen von Müstair und Oberzell macht deutlich, dass die dortigen Bilderzyklen in ihrer durchdachten thematischen und formalen Konzeption einem theologischen Programm folgen. Angesichts der Komplexität und des Themenreichtums dieser Wandmalereien wäre es naiv die oft gehörte Behauptung zu wiederholen, dass religiöse Bilder die „Biblia pauperum – die Bibel der Armen (im Geist)“, also die Bibel der des Lesens Unkundi­gen gewesen seien und ihnen als Ersatz für die Lektüre der Heiligen Schrift gedient und ihnen wichtige Inhalte des Glaubens vermittelt hätten. Dass diese Bilder ohne weitere Erläuterungen Betrachtern ohne Vorkenntnisse keineswegs verständlich waren, belegt schon die Tatsache, dass sowohl die Darstellung von Personen wie von biblischen Szenen in den meisten mittelalterlichen Wandmalereien mit Personen­bezeichnungen bzw. erklärenden In- oder Unterschriften versehen waren (sogenann­te Tituli). Natürlich konnten auch diese Tituli Leseunkundigen nicht helfen den Inhalt der Bilder zu verstehen. Hinzu kommt, dass die Tituli durchweg in lateinischer Sprache verfasst waren, sich also auch gar nicht an die „Armen im Geiste“, sondern an die Gebildeten richteten, denen der Inhalt der Bilder ohne Erläuterungen auch nicht unbedingt verständlich war. Die Bilder und deren Tituli richteten sich also an Kleriker und des Latein kundige Laien, die zudem über eine hinreichend gute Kennt­nis des Lateinischen verfügen mussten, um die Ligaturen und Abkürzungen zu ver­stehen, die in den Tituli häufig verwendet wurden. Von diesem Personenkreis wurde die Fähigkeit erwartet, mit Hilfe der schriftlichen Erläuterungen nicht nur einzelne Personen und biblische Szenen auf den Wandmalereien zu identifizieren, sondern zwischen den dargestellten Szenen einen inhaltlichen Zusammenhang zu erkennen.

Die Bilderzyklen begnügen sich nämlich nicht damit einzelne biblische Geschichten zu erzählen, sondern sie präsentieren eine theologische Gesamtschau der Geschichte: Sie ordnen biblische Erzählungen einem übergreifenden Geschichtsver­ständnis zu, das den Geschichtsverlauf als eine planmäßige und sinnvolle Abfolge göttlicher Handlungen erscheinen und auf ein zukünftiges Ziel zulaufen lässt. Dieses Konzept der Heilsgeschichte lässt Gottes Heilshandeln in frühester Zeit beginnen (in Müstair mit David als dem ersten König Israels) und mit dem Jüngsten Gericht zum Abschluss kommen und hat seine Mitte im Leben und Werk Jesu Christi als der „Mitte der Zeit“. Diese „Mitte der Zeit“ verbindet die großen Epochen der Heilsge­schichte miteinander zu einer Sinnordnung. Und die Wandmalereien der frühmit­telalterlichen Kirchen wollen diese Sinnordnung der Heilsgeschichte dem Auge des Betrachters als ein Ganzes darbieten.

Die Ausmalung karolingischer Kirchen folgt also der Anweisung der Libri Carolini, dass die Bilder der „memoriam rerum gestarum – dem Gedächtnis der Heilser­eig­nisse“ dienen sollen. Welches die Heilsereignisse waren und wie sie einander zuge­ordnet wurden, blieb allerdings den jeweiligen Auftragsgebern vorbehalten. Die Aus­wahl der Themen dürfte kaum den ausführenden Malern überlassen worden sein. Die Auswahl aus der Fülle der möglichen biblischen Themen war zu komplex und die Art und Weise ihrer Zuordnung theologisch zu anspruchsvoll, um von Laien ausgeführt zu werden. Die Konzeption der Ausmalung der Kirchen dürfte theologisch erfahrenen Fachleuten vorbehalten gewesen sein, die damit ihr Verständnis der Heilsgeschichte zum Ausdruck brachten.

Die Bedeutung dieses theologischen Bildprogramms wird Ungebildeten kaum nach­vollziehbar gewesen sein. Sie werden durch die für sie ungewohnten monumentalen und farbenfrohen Wandmalereien beeindruckt gewesen sein, ihre religiöse Hingabe wird durch die Darstellungen gesteigert worden sein und sie werden auf das gottes­dienstliche Geschehen eingestimmt worden sein. Bei entsprechender mündlicher Unterweisung, etwa durch Predigt und Katechese, werden sie auch den Inhalt der Bilder gekannt haben, doch wer­den sie die dahinterstehende theologische Gesamtschau bestenfalls bruchstückhaft verstanden haben.

Für die Ungebildeten, und das heißt für die große Masse  der Gläubigen, waren diese Bildprogramme schlichtweg zu intellektuell. Die Gläubigen des Mittelalters suchten nach einer sinnlicheren Begegnung mit dem Göttlichen. Was Bilder für die Gläubigen attraktiv machte, zeigte die Aufstellung von Ikonen in den Kirchen des Ostens. Solche Bilder vergegenwärtigten das Überirdische und brachten es den Gläubigen nahe. Deswegen wurden sie verehrt, geküsst und gesalbt. Zu besonderen Anlässen wurden sie geschmückt und bekleidet und in  Prozessionen herumgeführt. Vor ihnen konnte man beten und bei ihnen schwören. Sie vermochten Kranke zu heilen, Dämonen auszutreiben, den Sieg über Feinde zu gewähren und selbst Tote zu erwecken. Das erfüllte die religiösen Bedürfnisse  der Gläubigen im Mittelalter und in dieser Hinsicht entsprachen die Wandmalereien in den Kirchen des Westens – von einzelnen wundertätigen Ausnahmen etwa an Wallfahrtsorten („Gnadenbildern“) abgesehen – nicht ihren Erwartungen.

Reliquien als religiöse Medien

Schon den Verfassern der Libri Carolini scheint bewusst gewesen zu sein, dass theologisch-didaktische Bildprogramme allein die religiösen Erwartungen und Bedürfnisse der Gläubigen nicht erfüllen würden. So lehnen sie zwar eine Sakralisierung und Verehrung der Bilder strikt ab, streichen dafür jedoch die Angemessenheit der Verehrung der Reliquien umso deutlicher heraus: „Den heiligen Leibern Ehre zu erweisen ist von großem Nutzen, zuvörderst deswegen, weil die Heiligen, wie wir glauben, im Himmel auf Thronen mit Christus leben und ihre Gebeine einmal auferstehen werden.“[7] Hinter diesen Formulierungen steht die mittelalterliche Überzeugung, dass Heilige eine zweifache Gegenwart haben: Ihre Seele befindet sich schon jetzt in der Nähe Gottes, während ihr Leib bis zum Jüngsten Gericht auf Erden bleibt. Durch ihre Anwesenheit im Himmel können sie bei Gott Fürbitte für ihre Verehrer einlegen, durch den Verbleib ihrer Leiber auf Erden werden ihre Reliquien zu sichtbaren und greifbaren wunderwirkenden Manifestatio­nen göttlichen Heils.

Die sinnliche Anziehungskraft karolingischer Kirchen lag nicht in ihren Bildern, sondern in ihren Reliquien, die im frühen Mittelalter – soweit sie nicht, wie in Köln, vor Ort entdeckt und geborgen werden konnten – in großer Zahl aus Italien ins Franken­reich gebracht wurden. Zudem wurden die vorhandenen Reliquien immer weiter zerstückelt und auf Kirchen und Kapellen aufgeteilt, was ihrer Wirkmächtigkeit nicht schadete, da einem kleinen Teil die gleiche Wirkung wie dem ganzen heiligen Leib zugeschrieben wurde. Aufbewahrt wurden diese Reliquien zunächst in begehbaren Krypten, die unter den Altären bzw. Chorräumen der Kirchen lagen und mitunter durch einen Sehschacht verbunden waren. Seit dem sechsten Jahrhundert war in den Kirchen des Karolinger­reiches die Aufbe­wahrung von Reliquien allgemein üblich geworden, so dass sich schließlich jede Kirche eines „Märtyrer“- bzw. „Heiligengra­bes“ rühmen konnte und Krypten zu einem Kennzei­chen karolingischer bzw. romani­scher Kirchen wurden. Nachdem die Reliquien zunächst unter dem Altar bestattet wurden, setzte sich zunehmend die Praxis durch, die Reliquien im Altar selbst zu verschlie­ßen und diesen Brauch zur Regel für die Altarweihe werden zu lassen, bis „schließ­lich ein christlicher Altar ohne Reliquien gar nicht mehr denkbar“ war[8]. Auch wuchs die Zahl der Reliquien in den Kirchen rasch an und damit entstand das Bedürfnis die Altäre einer Kirche zu vermehren. Zudem wollte man den Reliquien nicht  nur im Leben, sondern auch im Tod nahe sein, so dass seit dem achten Jahrhundert Beerdigungen nur noch in  unmittelbarer Nachbarschaft der Kirchen (auf „Kirchhöfen“) erfolgten.

Stollenkrypta unter der karolingischen Einhardsbasilika bei Michelstadt im Odenwald aus dem neunten Jahrhundert. Foto: Marie-Paule Neu

Die Gläubigen gaben sich jedoch nicht damit zufrieden, die Reliquien ver­schlos­sen in Reliquiaren oder auf Altä­ren offen zur Schau gestellt ansehen zu dürfen. Das magische Empfin­den des mittelalterlichen Menschen verlangte danach die Hinterlassenschaften von Heiligen berühren zu können, damit sich deren wohltätige und heilende Kraft auf den sie Verehrenden übertrug. Das Schauverlangen der Gläubigen wurde also  noch übertroffen von ihrem Wunsch nach Berührung, um dem Hei­li­gen auch körperlich nahe zu kommen und die ausstrahlende Heilkraft der Reliquien zu empfangen. Bald verfügte jede Kirche über Berührungsreliquien. An den großen Festtagen, wenn die Reli­quien berühmter Heiliger offen ausgestellt wurden, kamen Pilger von weither und die Gläubigen dräng­ten sich zu Abertausenden in den Kirchen, um die heiligen Reli­quien zu verehren, zu betasten und zu küssen. Es herrschte die feste Überzeugung, dass der Anblick und besonders die Berührung des Heiligen heilende Wirkung entfalte.

Wie sich dieses Verlangen in ungehinderter und ungeschminkter Form äußern konnte, dokumentiert ein Augenzeugenbericht: Als Bischof Hugo von Lincoln das Benediktinerkloster Fécamp besuchte, bat er die Mönche um den dort als Reliquie aufbewahrten Armknochen der Maria Magdalena, den bisher noch niemand unver­hüllt gesehen hatte. Hugo ließ sich ein Messerchen geben, zerschnitt die Fäden der Seidenverhüllung und nahm den Knochen aus der Umhüllung heraus. „Da er aber vermittels bloßen Fingerdrucks nichts davon abzubrechen vermochte, nahm er ihn zuerst zwischen die Schneide-, dann zwischen die Backenzähne und brach flink mit kraftvollem Biss zwei Stücke aus ihm heraus.“[9]

Dieser hemmungslose Zugriff auf eine Reliquie lässt die Intensität im Umgang mit religiösen Medien im Mittelalter erahnen. Dabei handelte es sich in diesem Fall keineswegs um das übergriffige Verhalten eines mächtigen Einzelnen. Besonders jene Kirchen, in denen die angesehensten und begehrtesten Reliquien wie die Leidenswerkzeuge Jesu oder bekannter Märtyrer aufbewahrt wurden, waren das Ziel regelmäßiger Wallfahrten. Ein Gotteshaus, das gleich über mehrere solcher Reli­qui­en verfügte, war die Benediktinerabteikirche Saint-Denis bei Paris, die über den Grä­bern der Märtyrer Dionysius (der irrtümlich für den Dionysius vom Areopag aus Apg 17, 34 gehalten wurde), Rusticus und Eleutherius errichtet worden war. Seit dem siebten Jahrhundert war die Kirche zudem die Grablege der fränkischen Könige. Im neunten Jahrhundert wurde sie weiterhin zum Aufbewahrungsort der Krönungsinsig­nien und König Karl der Kahle schenkte der Abtei Reliquien der Leidenswerkzeuge Christi: einen Nagel vom Kreuz Christi und einen Dorn von seiner Dornenkrone.

Die Königsabtei Saint-Denis erfüllte also in idealer Weise die Voraussetzungen einer Wallfahrtskirche und zog schließlich eine nicht mehr kontrollierbare Zahl von Pilgern an. Ihr Abt Suger schilderte den Andrang der Gläubigen mit bewegenden Worten: Die „Basilika (pflegte) solche Bedrängnisse auszuhalten, dass sie oft, nämlich an Feiertagen, bis zum Äußersten voll, durch alle Türen den Überfluss der ihr entgegen­stürmenden Scharen zurückwies; und der Druck der Vorgänger nötigte nicht allein die Eintretenden nicht einzutreten, sondern auch die, die bereits eingetreten waren, hinauszugehen. Man hätte zuweilen sehen können – welch seltsamer Anblick – , dass jenen, die sich hineinzugehen drängten, um die heiligen Reliquien, Nagel und Krone des Herrn, zu verehren und zu küssen, ein derartiger Widerstand seitens der zusammengedrängten Menge entgegenstand, dass unter den unzähligen Tausenden von Menschen aufgrund der eigenen Bedrängnis keiner einen Fuß bewegen konnte und infolge des eigenen Eingezwängtseins keiner etwas anderes vermochte, als wie eine marmorne Statue dazustehen, starr zu sein und, was allein übrig blieb, laut zu schreien. Die Not aber war für die Frauen so groß und so unerträglich, dass sie inmitten starker Männer wie in einer Kelter gepresst gleichsam als Bild des Todes ein leichenblasses Gesicht zeigten, nach Art der Gebärenden furchtbar aufschrien, und dass viele von ihnen, die jämmerlich niedergetreten und dann mit frommer Unterstüt­zung der Männer über die Köpfe der Menschen erhoben worden waren, dort – man würde erschrecken – wie auf einem Fußboden einher schritten, und auch im Garten der Brüder mit letztem Atem vieles herausschluchzten und zu jedermanns Verzweif­lung röchelten. Sogar die Brüder, die die Zeichen der Passion des Herrn den Herbei­strömenden darboten und dabei durch deren Bedrängung und Heftigkeit niedersan­ken, flohen, da sie keinen anderen Ausweg wussten, oftmals mit den Reliquien durch die Fenster”[10].

Für die Gläubigen dieser Epoche war der Umgang mit religiösen Medien nicht einfach ein Mittel zur Befriedigung ihres Informationsbedürfnisses, ihrer Neugier und Sensationslust oder – wie für den modernen Menschen – ein ästhetisches Erlebnis. Es bedeutete für sie die Möglichkeit die Grenze zwischen dem Profanen und dem Heiligen zu überschreiten und dem Heiligen nahe zu kommen. Die erfahrbare Nähe des Heiligen in den religiösen Medien ließ für den mittelalterlichen Menschen die Transzendenz erlebbar und zu einer Bestätigung seines Glaubens werden.

 


Footnotes

[1] Nach Hubert Schrade, Vor- und frühromanische Malerei. Die karolingische, ottonische und frühsalische Zeit, Köln 1958, S. 21-25; Otto Demus, Romanische Wandmalerei, München 1992, S. 130f.; Louise Gnädinger, Bernhard Moosbrugger, Müstair. Das Kloster St. Johann in Müstair, Zürich 1994

[2] Saalkirchen mit drei gewölbten Apsiden, die ihren Ursprung vermutlich in Ägypten haben, sind in Graubünden nicht selten. Vgl. Richard Krautheimer, Die karolingische Wiederbelebung der frühchrist­lichen Architektur, in: ders., Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Kunstgeschichte,  Köln 2003, S. 198-276, hier: S. 204

[3] Andreas Kalckhoff, Karl der Große. Profile eines Herrschers, München-Zürich 1987, S. 189

[4] Nach Hans Jantzen, Ottonische Kunst, Hamburg 1959, S. 61-63; Otto Demus, Romanische Wandmalerei, S. 176 f.; Heinrich Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, Erster Band: Mittelalter 600-1400, München 1998, S. 109-112

[5] Die Ausmalung der Apsis wurde durch Umbauarbeiten völlig zerstört.

[6] Otto Demus, Romanische Wandmalerei, S. 176

[7] Libri Carolini = Monumenta Germaniae Historica, Concilia, Bd. 2, Supplementum I , hg. v. Ann Freeman, Hannover 1998, III, 16

[8] Franz Wieland, Mensa und Confessio. Studien über den Altar der altchristlichen Liturgie, Band I: Der Altar der vorkonstantinischen Kirche, München 1906, S. 5

[9] Magna Vita Sancti Hugonis. The Life of St. Hugh of Lincoln, Vol. 2, hg. v. D. L. Douie und D. H. Farmer, Oxford 1985, S. 169

[10] Abt Suger von Saint-Denis, De Consecratione, kommentierte Studienausgabe, hg. v. G. Binding und A. Speer, 56. Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität Köln, Köln 1995, Kap. 10-13