Kapitalismuskritik als Sprachmagie
Im August 2019 besuchte ich in Nairobi eine Veranstaltung mit dem klangvollen Titel Why does nobody speak about capitalism in Kenya? Die Veranstaltung war das Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Politikwissenschaftler Jörg Wiegratz, den ich kurz zuvor in Nairobi kennengelernt hatte, und der Nichtregierungsorganisation Mathare Social Justice Center, die sich erfolgreich um die Belange kenianischer Slumbewohner*innen kümmert, indem sie auf Polizeibrutalität und andere, häufig auch ökonomische, Probleme aufmerksam macht. Zwischen Postern von afrikanischen Bürgerrechtlern, Widerstandskämpfern und Kapitalismuskritikern wie Thomas Sankara und Steve Biko sitzend erklärten uns zwei ältere indisch-stämmige Kenianer, die recht schnell die Diskussion an sich gerissen hatten, wie es um die kenianische Arbeiterklasse steht und warum in Kenia niemand über Kapitalismus spricht. Nach mehreren Stunden, aber ohne großen Erkenntnisgewinn, verließ ich die Veranstaltung recht ernüchtert und kehrte nach Pipeline zurück, eine Hochhaussiedlung im Osten Nairobis, in der es trotz vieler sozialer und ökonomischer Probleme keine einzige NGO gibt, da es sich bei den endlosen Plattenbauten nicht um „Slums“ im engeren Sinn handelt.
Kurz bevor ich meine Wohnung in Pipeline erreichte, sah ich zufällig meine kenianischen Freunde Paul, Samuel und Patrick, die sich auf einer Bank sonnten. Sie fragten mich, woher ich kam und nachdem ich wahrheitsgemäß geantwortet hatte, brachen alle drei in schallendes Gelächter aus. Sie hatten nicht erwartet, dass Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen sich mit so etwas Banalem wie dem Kapitalismus beschäftigen würden. Für die drei Arbeitsmigranten aus Westkenia war die Frage, warum niemand über Kapitalismus spricht, daher schnell beantwortet: Es spricht niemand über Kapitalismus, weil es nichts zu sagen gibt. Der Kapitalismus sei, wie andere natürliche Gesetzmäßigkeiten, nun einmal Realität. Nachdem ich zwischen 2019 und 2022 über zwei Jahre in Pipeline damit verbracht hatte zu verstehen, warum männliche Binnenmigranten in Nairobi ihre Probleme vorrangig als ausgelöst von den Erwartungen ihrer intimen Anderen – romantische Partnerinnen oder dörfliche Verwandte – begreifen, und weniger als durch ein ungerechtes Wirtschaftssystem hervorgebracht, überraschte mich ihr Desinteresse am Kapitalismus nicht. Nach erneuter Lektüre des von Laura Bear, Karen Ho, Anna Tsing und Sylvia Yanagisako verfassten Gens: A Feminist Manifesto for the Study of Capitalism stellte ich mir jedoch die Frage, ob das Manifest Paul, Samuel und Patrick dabei helfen könnte, die Entstehung, Logik und Wirkmächtigkeit des Kapitalismus zu verstehen beziehungsweise, ob das Manifest mich dabei unterstützen könnte, das Interesse der drei Arbeitsmigranten am Kapitalismus zu wecken.
Die Antwort auf diese Fragen lässt sich recht schnell geben. Das Manifest versucht in einer unzugänglichen Sprache, eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Kapitalismus und der Möglichkeiten einer Kapitalismuskritik zu geben. Dies geschieht in einer für die zeitgenössische Ethnologie üblichen Art, indem der Kapitalismus als heterogenes Phänomen porträtiert wird. Er entziehe sich jeder Definition, fliehe jeder näheren Bestimmung, und sei weder durch eine bestimmte Struktur oder Logik noch durch einen besonderen Entwicklungsmechanismus gekennzeichnet. Die präziseste Annäherung an den Kapitalismus, die das Manifest anbietet, ist die des Kapitalismus als „vielfältiges, intimes Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Beziehungen“. Eine derart offene Begriffsbestimmung, die bis auf einige Andeutungen, dass der Kapitalismus auch irgendwie etwas mit ‚accumulation‘, ‚production‘ und ‚labor‘ zu tun habe, nicht weiter präzisiert wird, hat den Vorteil, dass sie letztlich auf nahezu alles angewandt werden kann. Es ist hier nicht mehr der Kapitalismus, der totalisierend wirkt, sondern die Definitionsmüdigkeit seiner Kritiker*innen. Das Manifest scheint mir daher nicht aufgrund einer präzisen Programmatik wissenschaftlich anschlussfähig, sondern aufgrund der Fokussierung auf ‚flexible‘ und ‚generative‘ Begriffe und Konzepte. Diese Fokussierung ermöglicht es der Ethnologie als Disziplin, weiterhin vorrangig Artikel zu publizieren, die Begriffe zerlegen anstatt sich an tatsächlichen Fragestellungen und Problemen der Menschen, mit denen wir als Ethnologen oft jahrelang zusammenleben, abzuarbeiten, um im Anschluss daran, Begriffe zu schärfen.
Während also laut Paul, Samuel und Patrick niemand über Kapitalismus spricht, weil es nichts zu sagen gibt, vermeidet die Ethnologie über die Struktur und die innere Logik des Kapitalismus zu sprechen, damit sie weiterhin irgendetwas über Kapitalismus zu sagen hat. Wäre die Ethnologie ein Staat, so scheint es, wäre Kritik am Kapitalismus oberste Staatsräson. Inspiriert von feministischer Theorie scheinen die Autorinnen gar nahezulegen, dass das Aufheben von begrifflicher Klarheit, die meiner Ansicht nach nur durch kategorische Unterscheidungen erreicht werden kann, dabei helfen könne, Ungleichheit abzubauen, die, so die Autorinnen „gerade durch die Schaffung solch kategorischer Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen menschlichen Handlungen und verschiedenen Akteur:innen generiert wird“. Paul, Samuel und Patrick glauben, dass der Kapitalismus nicht verschwindet, nur weil man über ihn spricht. Ethnolog*innen dagegen, als in der empirischen Wirklichkeit gefangene Sprachmagier*innen, glauben, dass der Kapitalismus verschwindet, weil man ihn sprachlich umkreist, immer wieder entwischen lässt, und erneut und anders(wo) beschreibt. Wie Magier*innen nur selten wirklich aufzeigen können, wo sich denn nun die Zauberkräfte befinden und was es mit ihnen wirklich auf sich hat, so sind die zeitgenössischen Kapitalismuskritiker*innen damit zufrieden, raunend und mit begrifflichen Wünschelruten bewaffnet, die Welt nach dem Kapitalismus abzusuchen. Man wird es schon in den Fingerspitzen fühlen, wenn man auf etwas Kapitalistisches stößt. Brutale Akzeptanz auf der Seite meiner kenianischen Freunde, ein Glaube in die Magie der Sprache auf der Seite ethnologischer Kapitalismuskritiker*innen. Was tun?
Anstatt miteinander den Kapitalismus zu ‚zersprechen‘ oder Kapitalismuskritiker*innen aktivistisch zu unterstützen, könnte die Ethnologie versuchen, ihren Gesprächspartner*innen ein durch Bezug auf lokale Gegebenheiten empirisch gesättigtes Verständnis über die Genese und Logik des Kapitalismus als historisch gewachsenes, ausbeuterisches System der Mehrwertproduktion und -aneignung zu vermitteln. Mit Bezug auf meine eigene Forschung bedeutete dies (1) lokale Diskurse über ‚Stress‘ (stress) und ‚Druck‘ (pressure) ernst zu nehmen und analytisch als subjektive Verarbeitung objektiver kapitalistischer und patriarchaler Zwangszusammenhänge zu verstehen. In meinem Fall gelang dies durch die Analyse von ‚Druck‘ als Reaktion auf soziale Erwartungen, die männliche Migranten als qualitativ gerechtfertigt, aber quantitativ ungerechtfertigt konzeptualisieren. Migranten betonten regelmäßig, dass sie nur noch etwas mehr Zeit für den eigenen Erfolg bräuchten und dass die Erwartungen der Partnerinnen und Familienmitglieder, wenn auch grundsätzlich legitim, in ihrem Ausmaß nun wirklich unrealistisch seien. Durch diese Akzeptanz der Verkoppelung der objektiven Zwänge existierender Verwandtschafts- und Geschlechternormen – der Mann als ‚breadwinner‘ und ‚provider‘ – mit den Zwängen eines konsumorientierten Kapitalismus, in dem Akteure vor allem anhand ihres wirtschaftlichen Erfolgs moralisch beurteilt werden, konnten Arbeitsmigranten wie Samuel, Paul und Patrick vermeiden, die vorherrschenden kapitalistischen und patriarchalen Verhältnisse zu kritisieren. Statt Kritik beobachtete ich die Akzeptanz der eigenen Rolle als schlecht bezahlte Tagelöhner vermischt mit einer Prise Hoffnung, eines Tages doch noch erfolgreich zu sein.
Im Anschluss an eine derartige Analyse gilt es (2) die Erkenntnisse in einer Form niederzuschreiben, die den Wechsel der Leserschaft weg von anderen Ethnolog*innen hin zu ‚normalen‘ Menschen nicht nur mantraartig einfordert, sondern auch tatsächlich durch eine möglichst einfache, jedoch klare Stellung beziehende Sprache auch aktiv unterstützt. Die in der empirischen Wirklichkeit gefangenen Sprachmagier*innen und Begriffszerstörer*innen müssen wieder zu ethnographisch inspirierten Begriffshandwerker*innen werden. Da unser einziges Werkzeug tatsächlich die Sprache ist, sollten wir daher nicht aufgeben, deutliche und klare Begriffe zu finden, die uns und unsere Forschungspartner*innen in die Lage versetzen, die Wirklichkeit besser zu verstehen.
Mario Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung “Anthropology of Economic Experimentation” des Max Planck Instituts für ethnologische Forschung in Halle an der Saale. Dort beschäftigt er sich mit den Auswirkungen evidenzbasierter Entwicklungshilfe auf die ökonomischen Lebenswelten westkenianischer Dorfbewohner. Außerdem arbeitet er an einer Analyse sich verändernder Männlichkeitsvorstellungen unter kenianischen Binnenmigranten in Nairobi. Hierzu wird Ende 2023/Anfang 2024 sein Buch “Migrants and Masculinity in High-Rise Nairobi: The Pressure of Being a Man in an African City” erscheinen (James Currey).