WAS TUN MIT „KETZERISCHEN FRAGEN“? EIN PLÄDOYER FÜR DEN PRAKTISCHEN HUMANISMUS
Der Artikel Die Mär des edlen Wilden erscheint heute wie eine Polemik, doch zur Hochzeit des Kolonialismus würde Christian Webers Argumentation die gängige Geisteshaltung widerspiegeln. Kolonialismus definierte sich nicht nur durch die Landnahme oder die Ausbeutung von Arbeitskräften, sondern auch durch die Beherrschung des Bewusstseins und Denkens. Die Mittel hierfür waren nicht physische Gewalt, sondern die Sprache der Kolonialherren und die Einführung von kolonialen Bildungseinrichtungen. Diese Rechtfertigungsfigur des Kolonialismus als wohlfahrtsstaatliche Mission ähnelt den rhetorischen Fragen mit denen der Artikel beginnt:
Und vielleicht darf man sogar ein bisschen Verständnis zeigen, wenn traditionsbewusste Inuit-Völker in der Arktis oder die San in der Kalahari zumindest früher ihre Alten aussetzten und verhungern ließen; das Essen war halt knapp. Die Frage ist allerdings, ob nicht ein staatliches Gewaltmonopol oder eine allgemeine Rentenversicherung die freundlichere Art der Daseinsvorsorge ist, zumindest dann, wenn man in einem westlichen Industriestaat lebt, der sich solche Institutionen leisten kann.
Und es klingt auch heute nicht viel anders, wenn Forderungen nach der Anerkennung kolonialen Unrechts entgegnet wird, der Kolonialismus sei ja nicht nur schlecht gewesen.
Der Autor des Artikels würde sich vermutlich derartige Vergleiche verbieten. Aber ohne eine Antizipation dieses Vergleichs—er kann keinesfalls nur Zustimmung erwartet haben—versteht man nicht so recht wie er seine Leser_innen mit einer Argumentation konfrontieren kann, die sich zu der „ketzerischen Frage“ zuspitzt, ob es denn überhaupt wünschenswert sei, wenn jede „menschliche Gesellschaftsform als bewahrenswert“ gelte. Genau für diese Enttabuisierung erwartet der Artikel Zustimmung. Nicht alle Gesellschaftsformen könnten über einen Kamm geschert werden, wie der Autor zugibt. Aber das Fazit ist, dass man es NGOs zu verdanken habe, dass Praktiken wie die Genitalverstümmelung zurückgedrängt würden, während alle diejenigen Ethnolog_innen zu kritisieren sind, die das Wegschauen verinnerlicht hätten. So einfach ist es natürlich nicht mit der moralischen Pflicht des weißen, heterosexuellen Mannes. Weder zur Zeit des Kolonialismus noch heute.
Dies alles wäre möglicherweise ein bedauerlicher Fall von schlechtem Journalismus, wie verschiedene Beiträge in diesem Blog bereits festgestellt haben. Darüber hinaus sind derartige Artikel, ob sie von der SZ oder einem anderen Blatt gedruckt werden, für viele Ethnolog_innen nichts Neues. Vielleicht wäre man besser beraten, den Sturm der Erregung an sich vorbeiziehen zu lassen, anstatt von ihm mitgerissen zu werden – wäre die Form des Tabubruchs nicht zu einem festen Bestandteil rechtspopulistischer Rhetorik geworden. Wenn ich die vehemente Kritik der Beiträge in diesem Blog richtig verstehe, dann geht es auch um diese Form der Enttabuisierung, die die entwürdigende und menschenfeindliche Rede als vermeintlichen Bruch mit sozialen Konventionen legitimiert.
Diese Enttabuisierung als ein öffentlicher Sprechakt ist vielerorts ausführlich diskutiert worden. Ich überspringe diese Diskussion und folge einer der zentral gewordenen Einsichten, dass wir den Raum des Nehmens und Gebens von Gründen verlassen haben. Das sind keine Auseinandersetzungen in denen unbegründete Behauptungen zurückgenommen oder gar Missverständnisse eingeräumt werden. Daher meine ich, dass eine Richtigstellung der Fakten oder die Verteidigung der Ethnologie allein auf wenig Verständnis stoßen wird.
Vielmehr muss es darum gehen, den praktischen Humanismus zu stärken, der uns von kulturrelativistischen Perspektiven zu einer Auseinandersetzung mit Rassismus und Nationalismus führt. Wenn die Beobachtung richtig ist, dass seit Sarrazins Auslassungen vor etwa sieben Jahren die Inszenierung von rassistischen Vorurteilen als Enttabuisierung immer mehr Zustimmung erfährt, dann trifft Herr Webers ketzerische Frage den Nerv der Zeit. Wir müssen vielmehr diskutieren, ob und in welchem Sinne Artikel wie Mär des edlen Wilden zum Diskurs des neuen Nationalismus gehören, der von Journalisten genauso wie von Philosophen geführt wird.[1]
Um zu verstehen, ob wir es überhaupt mit einem neuen Nationalismus zu tun haben, kämen wir aber nicht umhin, die ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Klassiker zum Nationalismus zu lesen. Neben den einschlägigen Arbeiten von Benedikt Anderson und Eric Habsbawm wäre auch eine Re-lektüre von Michael Herzfelds The production of social indifference lohnenswert, dessen Untersuchung nationalstaatlicher Verwaltungen mit der Frage beginnt, “Why do kindly friends and amiable neighbors become racists and bigots when they discover, or (more accurately) decide, that others do not „belong“?[2] Und selbstverständlich würde die Re-lektüre ethnologischer Arbeiten zum Nationalismus uns direkt zu Franz Boas führen, der wie kein anderer Gründer*vater* der Ethnologie sich dem wissenschaftlichen Rassismus und dem aufkommenden Nationalsozialismus entgegenstellte (siehe Beitrag Cora Bender). Da auch die Ethnologie selbst zutiefst im wissenschaftlichen Rassismus verwurzelt ist, wäre auch die fachgeschichtliche Reflexion des kolonialen und nationalsozialistischen Erbes der Ethnologie eine hilfreiche Quelle der Inspiration.[3] Schließlich müssten wir uns die postkoloniale Kritik vergegenwärtigen, der wir die wichtigsten Impulse verdanken, um den methodischen Nationalismus in den Sozial- und Humanwissenschaften zu überwinden.
Der Konjunktiv ist hier natürlich völlig falsch. Ich will lediglich sagen, dass wir statt dem Versuch die öffentliche Meinung über Ethnologie zu korrigieren, vielmehr diejenigen Arbeiten hervorheben sollten, die nicht aufgehört zu fragen haben, was Rasse, Nationalismus und Rassismus in der heutigen Welt machen.[4] Gleichwohl glaube ich, dass es noch mehr zu tun gibt. Im Sinne von Etienne Balibar müsste die Ausbreitung des internationalen Nationalismus in den Vordergrund der ethnologischen Forschung rücken.[5] Eine Beschäftigung mit dem internationalen Nationalismus wäre eine unerlässliche Ergänzung zu dem vielseitigen Engagement von Ethnolog_innen in der sogenannten Flüchtlingskrise, an der sich dieses Jahr noch weitaus schrillere Tabubrüche festmachen werden.
Dies alles wäre keinesfalls ein Versuch auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Es wäre Teil einer längeren empirischen und systematischen Auseinandersetzung mit gelebten Wirklichkeiten, die von Indifferenz und Ablehnung einer „common humanity“ gekennzeichnet ist, wie Michael Herzfeld es ausdrückt. Ethnolog_innen verklären mit ihrer Kritik an dem Artikel Die Mär des edlen Wilden nicht die Wirklichkeit, die dem Autor vorschwebt, wenn er über Genitalverstümmelung sprechen will. Sie ergänzen das Bild dieser Wirklichkeit um die wichtige Frage was es bedeutet Mensch zu sein; und anders als der Autor tun wir es im Wissen, dass trotz jeder mühsam erarbeiteten Ergänzung, das Bild stets partiell bleiben wird.
Am Ende meines Kommentars muss ich leider wieder zum Konjunktiv wechseln. Es wäre unglaublich wichtig, würden Journalist_innen dazu gelangen, über die Arbeit von Ethnolog_innen zum neuen internationalen Nationalismus zu berichten.
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