14/10/20

Rückzug

– in Pandemien und Spiritualität

Foto 1: Kerzen für Iansã und Oxum[1], die in Verbindung mit einem Ritual im Umbanda-Haus Casa St. Michael / Haus des Reinen Wassers der Mãe-de-Santo[2] Gabriele Hilgers in Köln standen. Berlin-Wilmersdorf, bei mir Zuhause im Wohnzimmer, 11. Juni 2020. © Inga Scharf da Silva.

 

In meinen ethnologischen Forschungen interessieren mich die Alltagspraxen von Menschen aus ihrer erfahrenen Innensicht und die darin verborgenen Wissensarchive und ihre Imaginationen, die sich u.a. in der Mythologie, in der Spiritualität und kulturell unterschiedlichen Vorstellungswelten finden und vielfach über die sakrale Globalisierung und Migrationsbewegungen verbreitet werden. Einen besonderen Stellenwert bilden dabei für mich die Künste in ihrer Materialisierung von Religion und die Wahrnehmung dar, wie sie in der Anthropologie der Sinne thematisiert wird.

In diesem Blog-Beitrag gehe ich auf den kollektiven Rückzug ins Private und den damit einhergehenden neuen spirituellen Praxen in der aktuellen Pandemie ein, die eine veränderte ethnologische Feldforschung erforderlich macht.

Dem „Lockdown“ der ersten Monate der Pandemie bin ich mit Schreiben begegnet, das ich über einen Aufruf der medizinethnologischen Fachzeitschrift Curare zur Anfertigung eines ethnographischen Corona-Tagebuchs (Curare Corona Diaries Project) von März bis Juni 2020 einlöste. Darin ging es mir neben den alltäglichen ethnographischen Beobachtungen „in the strict sense of the term“ in der Quarantäne-Situation und den wenigen Spaziergängen in meinem unmittelbaren Kiez auch um Aussagen im öffentlichen virtuellen Diskurs in den sozialen Medien, u.a. auch in Blogs spiritueller Gemeinschaften oder im direkten WhatsApp-Austausch mit spirituell gesinnten Menschen (vgl. Scharf da Silva 2020a). Die Deutung dieses vermehrten Austauschs in der digitalen Welt dient mir jetzt als empirischen Einstieg in eine theoretische Diskussion.

Dieses Corona-Tagebuch wird in einem Online-Archiv veröffentlicht, ebenso wie ein Beitrag für den medizinethnologischen Blog ›Witnessing Corona‹ (vgl. Scharf da Silva 2020b). Ich betone dies, weil ich mich damit öffentlich positioniert habe, indem ich diese Pandemie als weltweite Krise verstehe und damit einen anderen Standpunkt einnehme als ein nicht unwesentlicher Anteil der spirituellen Akteur*innen (mit denen ich für mein Forschungsvorhaben reden und sie interviewen möchte), welche aus Angst das SARS-CoV-2 Corona-Virus leugnen oder ihm ausschließlich meditierend entgegentreten (vgl. Grünschloss 12.5.2020). Wenngleich diese Aussage die Gefahr von Generalisierungen beinhaltet, obwohl ich auch differenzierte Sichtweisen vermute, kann sie auch eine Quelle für Vorstellungen von Körper und Geist, Gesundheit und Krankheit sowie Tod beinhalten. Für mich haben beide Weltbilder ihre Daseinsberechtigung und Wirksamkeit und stellen keinen Wiederspruch, sondern eine Ergänzung dar.

 

Aktuelle Feldforschungssituation

Die soziale Umbruchsituation, die durch die Pandemie ausgelöst wurde, traf mich ausgerechnet in einer persönlichen Übergangsituation beruflicher Natur. Nach dem erfolgreichen Abschluss meiner Doktorarbeit über postkoloniale Erinnerungspraxis in der brasilianischen Religion Umbanda im deutschsprachigen Europa, deren virtuelle Disputation über Zoom Ende August wie bereits die schriftliche Arbeit auch Summa cum Laude ergab, bereite ich mich nun für eine Postdoc-Forschung über spirituelle Utopien und gesellschaftliche Transformation im Sinne einer Kritischen Europäisierungsforschung im Bereich der anthropologischen Zukunftsforschung, Migration und Spiritualität sowie deren Finanzierung durch eine Bewerbung um eine Eigenen Stelle bei der DFG vor. Meine aktuelle Feldforschung hat offiziell noch gar nicht begonnen.

Da es zu dieser herbstlichen Jahreszeit draußen gerade noch so angenehm ist, um Akteur*innen in der Natur unter freiem Himmel zu interviewen, was keine gesundheitlichen Risiken mit sich bringt, habe ich inoffiziell im Vorfeld einige wenige Interviews mit Besitzer*innen von Konvoluten eines Familienarchivs über religiöse Akteur*innen des Buddhismus und von Mazdaznan Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin durchgeführt bzw. bin gerade dabei, diese zu planen – so z.B. ein Interview mit einer Forest Guide im Waldbaden des japanischen Shinrin Yoku. Ich habe, da ich vom Wetter abhängig bin, diese Phase der Forschung teilweise vorverlegt. Da dies nur ein Einstieg ins Thema ist, habe ich damit aber die Situation für die ganze Forschung nicht gelöst.

Vor der Sars-CoV-2-Corona-Pandemie bin ich viel unterwegs gewesen, weil ich u.a. zwei Mal monatlich zu einem Umbanda-Haus von Berlin nach Köln gereist bin. Die Struktur meines Alltags bestand darin, täglich die Bibliothek der Humboldt Universität als Rückzugsraum zum Schreiben und als Abgrenzung zur Familie und Haushalt zu nutzen. Diese soziale Struktur meines Lebens ist durch die Sars-CoV-2-Corona-Pandemie grundsätzlich verändert worden, da ich wegen etlicher schwerer Vorerkrankungen eine Risikoperson bin und von daher seit März dieses Jahres überwiegend Zuhause und außerdem damit beschäftigt bin, mit meinem 15-jährigen Sohn Home Schooling zu organisieren.

Diese Situation der Immobilität hat meine Feldarbeit grundlegend verändert und löst einige Konflikt für meine aktuelle Feldforschungssituation aus, die grundsätzlich dadurch verursacht wird, dass ich durch meine persönlichen Kontakte unwillentlich auf mein altes Feld der Umbanda begrenzt werde, da ich beabsichtige, meine Perspektive auf andere spirituelle Akteur*innen aus anderen Traditionen und Glaubensrichtungen auszuweiten. Um in ein ganz neues Feld eintauchen zu können, hätte der erste Schritt einer neuen Feldforschung mit einem „Sprung ins kalte Wasser“ der empirischen Religions-Forschung im Sinne einer Grounded Theory angestanden, Theorie durch das Feld zu entdecken – einer Strategie, die mich schon seit meiner Magisterarbeit in den späten 1990er Jahren begleitet. Sicherlich ist ein wissenschaftlich motivierter und vermittelter Zugang zum Forschungsfeld wichtig, aber ebenso ein vertrauensvoller Dialog unermesslich. Ohne diesen persönlichen und emotionalen Austausch erzählen die spirituellen Akteur*innen nichts.

Momentan stellt sich daher methodisch die Frage, ob ein Zugang zum spirituellen Forschungsfeld über die sozialen Medien sinnvoll ist. Ich vermute, dass die Türen verschlossen bleiben oder relativ kurz danach zugehen, wenn ich mich gleich zu Beginn als forschende Ethnologin oute. Wenn ich mich als spirituelle Akteurin zeige, was ich auch bin, habe ich nur die halbe Wahrheit gesagt. Im persönlichen Gegenüber ist das den sozialen Formen der Kommunikation geschuldet, aber ist es das auch in den sozialen Medien, wo ich ja sofort mit meiner ganzen Person zu finden bin? Meine Vermutung ist, dass ich nicht umhinkomme, mich als spirituelle Person und als Wissenschaftlerin gleichermaßen zu präsentieren, weil das der einzig stimmige Weg ist. Dafür benötige ich aber eine gute Strategie.

 

Vorerfahrungen

In der Feldforschung für meine Doktorarbeit habe ich bereits eine ähnliche Erfahrung machen müssen, die aber nicht durch eine Pandemie, sondern eine eigene schwere Krankheit ausgelöst wurde. So war es mir einige Jahre nach meiner Magisterarbeit und einer Anstellung am Jüdischen Museum in Berlin nicht möglich, mich direkt in die religiöse Welt der Umbanda zu begeben. Wegen anschließender drei Jahre Chemotherapien und Aufenthalten in verschiedenen Reha-Kliniken war ich immobil und konnte nicht reisen.

Also nutzte ich die Zeit, um mich statt eines Eintauchens in die religiöse Alltagswelt ins brasilianische virtuelle Netz zu begeben und es in Bezug auf mein Thema zu analysieren. Auch wenn diese Auseinandersetzung anfangs im Konflikt mit meiner anschließenden Feldforschung im deutschsprachigen Europa etwas sperrig erschien und andere mir rieten, es ganz außen vor zu lassen, fügten sich diese Überlegungen im Prozess des Schreibens überraschenderweise dennoch gut in meine Arbeit ein und wurden zum Kapitel über Bildlichkeit bzw. der Auseinandersetzung mit der materiellen Kultur der Umbanda bzw. ihrer sakralen Objekte.

Diese Exhaustierung meines anfänglichen Forschungsdesigns habe ich in der Einleitung meiner Doktorarbeit zwar beschrieben und reflektiert, da neue Fragen durch das Feld aufgeworfen wurden, aber nicht explizit als zwei aufeinanderfolgende Forschungen präsentiert. Ich habe sie stattdessen als zwei methodische Zugänge im virtuellen und im leiblichen Feld dargestellt, die beide relevant für das Thema der postkolonialen Erinnerungspraxis sind.

 

Medizinethnologische Überlegungen

In einer Religion wie der Umbanda, in der nicht nur der Geist /die Geister bzw. das Bewusstsein, sondern auch der Körper als Vermittler einer unsichtbaren Mit-Welt verstanden werden, kann die religiöse Praxis nicht auf rein mentale Tätigkeiten reduziert werden. So feiern viele Umbandist*innen in Berlin und Köln weiterhin gemeinsam ihre Rituale, in denen Trance von personalen Medien wesentlich ist – entweder in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorlagen oder in verkleinerten Gruppen als sonst unter freiem Himmel im Wald.

Foto 2: Rituelle Gabe an Pombagiras und Exús (spirituelle Wesen in der Umbanda), bestehend aus mit Palmöl angedicktem Mandiokamehl, Zwiebeln, Beeren, Pfefferschoten, Rosen, Zigaretten, angerichtet auf Bananenblättern; dazu Sekt und Schnaps. Veröffentlichung von Fotos mit Personen sind nicht erlaubt. Berlin-Zehlendorf, Ortsteil Wannsee: Düppeler Forst, 24. August 2020. © Inga Scharf da Silva.

 

Die jetzige Situation führt mich wieder einmal zur Wahrnehmung der materiellen Kultur der Umbanda, da sie neue Räume in privaten Wohnräumen und in Naturräumen wie dem Wald einnehmen. Während die Altäre und Gaben ihre Relevanz in Vor-Pandemie-Zeiten häufig auch in öffentlichen Orten wie Nachbarschaftshäusern oder Kulturzentren des gesellschaftlichen Zusammenkommens fanden, ist nun der Rückzug der sakralen Objekte ins Private zu beobachten.

Da ich auch selbst Teil dieses spirituellen Feldes bin, da ich als umbandistisches Medium arbeite, hat diese gesellschaftliche Auseinandersetzung eines Gesundheitsthemas durch die Sars-CoV-2-Corona-Pandemie mich als Risikoperson und als Taube Frau direkt in einen nicht nur methodischen, sondern auch inhaltlichen Konflikt gebracht. Obwohl ich mich vorher nicht direkt, sondern nur indirekt zur Transparenz meiner Forschung, mit medizinethnologischen Themen auseinandergesetzt habe, drängt sich dieses Thema um spirituelle Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Tod und das Menschenbild in spezifischen religiösen oder spirituellen Vorstellungswelten auf.

Meine Involviertheit als umbandistisches Medium habe ich in meiner Doktorarbeit im Kapitel über meine Methodik transparent gemacht und ausgiebig – teilweise autoethnographisch, aber vor allem polyphon – im Kapitel über Wahrnehmung thematisiert und analysiert.

In der Krise zeigt sich, dass die religiösen Akteur*innen nicht nur über ein religiöses Wissensarchiv über die Migrationsbewegungen aus Brasilien beeinflusst werden, sondern scheinbar auch über ihre eigene kulturelle Sozialisation. Meine Vermutung ist, dass die Lebensreformbewegungen Anfang des 19. Jahrhunderts Aufschluss zur Beantwortung einiger aktueller Fragen wie der Ablehnung des Masken-Tragens geben könnte. Diese sozialreformerischen Bewegungen, die sich mit Themen wie ökologischer Landwirtschaft und vegetarischer Ernährung, Architektur und anderen Künsten wie Malerei und Tanz, Kleidung, Naturheilkunde und Spiritualität auseinandersetzten und spezifisch für Deutschland und die Schweiz waren, zeichneten sich durch eine Kritik an der Industrialisierung und Urbanisierung der Moderne aus, den sie durch das Streben nach einem idealisierten Naturzustand auszugleichen versuchten. Da diese Bewegungen sehr vielfältig (über Vereine) und nicht einheitlich waren, sind sie zugleich als humanistisch wie reaktionär einzuordnen.

Ich frage mich, welchen Stellenwert diese durch äußere Faktoren der Sars-CoV-2-Corona-Pandemie herangetragenen medizinethnologischen Themen in meiner anstehenden ethnologischen Religions-Forschung haben können. Werden sie ein Teil meiner methodischen Reflexion oder darüber hinaus auch zu einem Teil meiner Untersuchung? Da dieses Thema um Krankheit, Behinderung und Tod unweigerlich auch ein persönliches und emotional aufgeladenes Thema für mich ist (vgl. dazu auch Maskos 5.5.2020), würde ich mir wünschen, dass es zwar Teil der Forschung sein kann, aber dabei nicht im Mittelpunkt steht. Wie könnte dies aussehen?

Geschrieben am 4. Oktober 2020, überarbeitet am 9. Oktober 2020

 

Inga Scharf da Silva ist Ethnologin (M.A.) and Bildende Künstlerin. Studium der Ethnologie und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin (FUB), Malerei an der Universität der Künste (UdK) und in Brasilien an den staatlichen Universitäten von Bahia (UFBA), von São Paulo (USP) und von Pernambuco (UFPE). Im September 2020 hat sie ihre Doktorarbeit an der Humboldt Universität Berlin verteidigt, wo sie von 2014-2019 am Institut für Europäische Ethnologie als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet hat und von PROMI der Universität Köln gefördert wurde. Als Bildende Künstlerin mit einem Atelier im Atelierhaus Sigmaringer1art (seit 2008, http://www.sigmaringer1art.de/portfolio/inga-scharf-da-silva) des Berufsverbandes Bildender Künstler (BBK) fokussiert sie sich auf Malerei, Installationen und Künstlerische Forschung, in der sie figurative, mythologische und ethnographische Themen vereint. Kontakt unter umbanda[at]gmx.de


Footnotes

[1] Iansã und Oxum sind zwei Göttinnen / Orixás, die in der Umbanda verehrt werden.

[2] Mãe-de-Santo (Mutter-im-Heiligen) bezeichnet in afrobrasilianischen Religionen eine spirituelle Leiterin.


References

Grünschloss, Andreas (12.5.2020): „Zum religiösen und esoterischen Umgang mit der Corona-Pandemie“ [online]. Universität Göttingen: Theologische Fakultät, https://www.youtube.com/watch?v=ICiC1bdSRgI, Abruf am 28.5.2020.

Maskos, Rebecca (5.5.2020): „Ableismus ist etwas, was alle Menschen erleben“ [online]. Hamburg: Norddeutscher Rundfunk, https://www.ndr.de/kultur/kunst/niedersachsen/Ableismus-ist-etwas-was-alle-Menschen-erleben,gleichstellung190.html, Abruf am 21.6.2020.

Scharf da Silva, Inga (2021): Trauma als Wissensarchiv. Postkoloniale Erinnerungspraxis in der Sakralen Globalisierung am Beispiel der zeitgenössischen Umbanda im deutschsprachigen Europa. Berlin: Reimer. [Doktorarbeit] [im Druck]

Diess. (2020a): “Corona Diaries in the strict sense of the term” [online]. Berlin: Curare, Journal of Medical Anthropology, Online-Archiv. [im Druck]

Diess. (2020b): „Hier in Berlin-Wilmersdorf. Autoethnographische Erkundungen des spirituellen Umgangs mit der Corona-Pandemie“ [online]. Boasblogs Witnessing Corona.