14/10/20

Forschen@home? Das sozial- und kulturanthropologische „Home Office“ in der „Corona-Krise“

Das „Home Office“ der Autorin, Foto: JB privat.

Während sich immer mehr Menschen in das Zoom-Meeting einloggen werden die Anzeigebilder immer kleiner. Bald muss ich mehrfach scrollen um einen Überblick über die über sechzig Teilnehmer*innen zu bekommen. In den winzigen Bildern erkenne ich bei Manchen Ausschnitte aus ihren Privatwohnungen: Ich sehe Familienfotos an den Wänden, Haustiere durchs Bild laufen, bei einer Teilnehmerin hält ein Baby immer wieder seine Fäustchen in die Kamera. Auch ich habe vorher getestet, wo ich mich mit meinem Laptop hinsetze. Wie viel Einblick in meine Privaträume möchte ich geben? Irgendwann gebe ich auf – die Auswahl ist in meinem Zimmer doch begrenzt. Die obligatorische Videocall-Schneise habe ich dann doch freigeräumt. Immerhin sieht niemand mein Chaos. Ich habe nicht alles aufgeräumt, wie sonst, wenn ich Besuch erwarte. Und obwohl wir uns nur für zwei Stunden virtuell treffen, fühlt es sich doch ein bisschen so an, als würden die Seminarteilnehmer*innen durch ein Schlüsselloch in meine Wohnung linsen. Ich fühle mich beobachtet. Und gleichzeitig überwältigt von der großen Menge an Teilnehmer*innen – ausgelegt war das Seminar einmal für 15 Personen. Wir alle promovieren in Berlin, an unterschiedlichen Universitäten und in verschiedenen Fächern und doch treffen wir uns seit diesem ersten Treffen über zwei Monate hinweg jeden Montagmorgen virtuell um über das wissenschaftliche Arbeiten in Krisenzeiten zu sprechen. Der bloße Andrang zeigt, dass wir alle etwas vermissen, dass wir alle wissen wollen, wie es weitergehen kann in dieser „neuen Normalität“. Am Ende werden wir mehrheitlich feststellen, dass das Schönste war zu sehen, dass man nicht allein ist mit der eigenen Belastung. Die „Corona-Krise“ hat uns alle vor neue Herausforderungen gestellt und uns vor allem ins „Home Office“ geschickt. Am Anfang dachte ich, Wissenschaftler*innen wie mich, würde diese Situation besonders wenig belasten. Extern Promovieren bedeutete doch schon immer viel Zeit allein mit der eigenen Arbeit zu verbringen, oft auch am privaten Schreibtisch. Aber nach fünf Tagen in sozialer Distanziertheit und einem Alltag der nicht sehr viel mehr als den Weg von meinem Bett an meinen Arbeitsplatz umfasste (etwa drei Meter also), beschloss ich einkaufen zu gehen – schlicht, um mit einem Menschen zu sprechen, der sich materiell und nicht virtuell zeigte. Ich bekam Angst sozial zu verkümmern. An der Kasse trödelte ich besonders lange, um den kostbaren Moment menschlicher Verbindung auszukosten. War das noch normal? War ich noch normal?

Mobile Arbeit und Arbeit 4.0 sind schon länger die neuen zukunftsweisenden Trendbegriffe: Flexiblere Arbeitszeiten und räumliche Abkehr vom klassischen Büroplatz werden von Arbeitnehmenden, Gewerkschaften wie auch der Politik gleichsam positiv bewertet (vgl. etwa BMAS 2015). Büroräume werden immer knapper, Universitäten und Wissenschaftler*innen mobiler, die Arbeit damit „entgrenzter“. Dieser Trend ist nicht erst seit SARS-CoV-2 zu bemerken und auch nicht nur in der Wissenschaft. Das sogenannte „Home-Office“ hat eine grundlegende Bedeutungswandlung vollzogen. Widmeten sich noch die Arbeitskämpfe im 19. Jahrhundert der Abschaffung der Heimarbeit (s. etwa der Näherinnenstreik von 1896), gilt die Verlegung der Arbeit in die eigenen Privaträume heute als vielversprechendes Zukunftsmodell. Gelobt werden die neue Vereinbarkeit mit Familie und Beruf, die flexible Anpassung auf individuelle Arbeitsweisen und Situationen. Im „Home Office“, bestätigen Studien, sind Arbeitnehmende wesentlich produktiver, machen weniger Pausen und neigen eher dazu Überstunden zu machen, klimaschädliche Pendelwege fallen ebenso weg wie die unbequeme Hose mancher Videocall-Teilnehmenden (Bloom et al. 2015; Muri 2004; AOK 2019). Dies überraschte zu allererst konservative Arbeitgeber*innen, die sich lange Zeit gegen eine Entgrenzung der Arbeit stellten, aus Angst die Angestellten würden ihr Soll nicht erfüllen (Ceballos Betancur/Diem/Kerbusk/Rudzio, DIE ZEIT Nr. 25/2020). Erst kürzlich warnte der für den CDU-Parteivorsitz kandidierende Politiker Friedrich Merz im Hinblick auf die extreme Zunahme von „Home Office“ und Kurzarbeit währen der Corona Krise: „Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können“. Wie weltfremd diese Aussage ist und dass die Verlegung des Arbeitsplatzes ins Private vor allem auch negative Konsequenzen hat, zeigt eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien. Die psychische Belastung durch „Home Office“ etwa und sozialer Isolation sind hoch (Benoy 2020). Video-Calls ersetzen keine sozialen Beziehungen oder Gespräche, die in physischer Präsenz abgehalten werden – im Gegenteil setzt eine „Zoom-Fatigue“ ein, die sogar psycho-somatische Auswirkungen haben kann (Rump/Brandt 2020). Soziale Isolation ist einer der großen Gründe warum Heimarbeit als unangenehm empfunden wird. Abhilfe versprechen inzwischen u.a. verschiede Soundanbieter, die mithilfe von Bürogeräuschen die Kreativität von Arbeitnehmenden anregen wollen (vgl. etwa imisstheoffice.eu oder auch soundofcolleagues.com). Gerade die Vermischung von Privat- und Arbeitsleben wird aber als besonders belastend empfunden; Arbeitsschutzmaßnahmen sind kaum gegeben oder einzuhalten; Motivation und Grenzziehungen erfolgen meist ausschließlich durch die Arbeitnehmer*innen. Die „Corona-Krise“, die oft auch als „Brennglas für soziale Zustände“ beschrieben wird, hat zudem gezeigt, dass vor allem marginalisierte Gruppen unter diesen neuen Lebensumständen leiden. Eine Studie des WZB etwa zeigt, gerade bei Frauen entsteht eine Doppelbelastung, emanzipatorische Fortschritte fallen geradezu in sich zusammen; je prekärer das Anstellungsverhältnis desto höher ist die Belastung durch die Arbeit zuhause (Bünning et al. 2020). Anders als oftmals proklamiert behandelt das Virus eben doch nicht alle gleich (Baumann 2020). Jeder fünfte Arbeitnehmende empfindet deshalb „Home Office“ als gravierende Belastung, zeigte eine Studie der Krankenkassen noch vor der Pandemie (AOK 2019). Die Längsschnittstudie „COFIT4U (Corona-Fitness-for-you) – Mit mentaler Fitness stark in der Krise“ der Darmstädter Psychologin Ruth Stock-Homburg zeigt außerdem, dass eine Vielzahl der Studienteilnehmen ihre Arbeit als „sinnlos“ betrachten, im steigenden Verhältnis zur steigenden Arbeitszeit zuhause. Hieraus entstünden schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen, wie etwa Depressionen und Angststörungen, sowie eine Schwächung des Herz-Kreislauf- und Immunsystems, so die Studienleiterin (EPD 2020). Schafft das „Home Office“ also neue „Bullshit Jobs“? Als David Graeber den gesellschaftlichen Schaden und die psychologische Destruktivität von als sinnlos empfundener Arbeit anprangerte (Graber 2018) hatte er wohl kaum seinen eigenen Berufsstand im Blick. Doch gerade Wissenschaftler*innen trifft die neue Arbeitswirklichkeit währen der „Corona-Krise“ härter als vermutet.

 

Forschen @home – das „Home Office“ als Herausforderung für Wissenschaftler*innen im Generellen und Sozial und Kulturanthropolog*innen im Besonderen

Entgrenzung und Ausgrenzung: Bei Lärm am Arbeitsplatz griff die Autorin zu besonderen Maßnahmen, Foto: JB privat.

When public spaces for people to meet and mingle are empty, when the conversations of the regulars at the village tavern have gone silent and people seek out the safety of their own four walls, anthropological research also has to be put in hibernation” (Lems 2020).

Das Leben mit dem Virus stellte auch die Hochschulen vor gravierende Herausforderungen. Auf einen Schlag musste von Präsenzbetrieb auf Online-Lehre umgestellt werden. Auch hier stellte man schnell fest, Videokonferenzen ersetzten weder den Lehrbetrieb noch wissenschaftliche Arbeitspraxis adäquat. Allein schon die Abhängigkeit dieser neuen Arbeitsform von kommerziellen IT-Anbietern muss kritisch hinterfragt werden (Gramelsberger 2020). Ein weiteres Problem stellt sich in der Weiterbeschäftigung von prekär angestellten Wissenschaftler*innen: Nicht alle Förder*innen stellten so wie die DFG Corona-angepasste Förderrichtlinien zur Verfügung. Gerade, wenn auch noch die Betreuung von Familienangehörigen und Kindern geleistet werden muss, stehen Nachwuchswissenschaftler*innen vor großen Herausforderungen (s. #legochallenge). Rückzugsorte mit stabiler Internetverbindung, die vorher auch mobilen Forscher*innen zur Verfügung standen, Cafés und Bibliotheken etwa, schlossen im „Lockdown“ für den Publikumsverkehr. Soziale Räume können anscheinend schwer digitalisiert werden, digitale Räume hingegen sind unumstritten sozial geformt. Wissenschaft so stellten Kai Bremer und Christoph König fest (2020) ist aber mehr als nur schnöde Wissensvermittlung, sie ist eine „Lebensform“; die krisenbedingten Einschränkungen hingegen seien ein klarer Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit und „Ausdruck eines bürokratischen Verständnisses von Universität, das aus Kolleginnen und Kollegen (und übrigens auch Studierenden) Verwaltungsvorgänge macht, die inneruniversitäre Diskussion in der Kommunikation der Gremien untereinander abbildet und die Individualität von Forschung und Lehre konterkariert“. Gerade für die Sozialwissenschaften sind aber diskussionsbegründete und auf persönlicher Begegnung basierende Auseinandersetzungen fundamental. Ethnografische Forschung ist unter gegebenen Umständen damit aber kaum möglich, schon allein aus ethischen Gründen (Lems 2020); Schreiben im Angesicht der Pandemie fällt oft schwer (Kehr 2020) und Reisen wird wohl auch in Zukunft problematisch bleiben. Wie sehr sich Arbeitsplätze durch diese neue Arbeitsweise verändern, musste auch ich feststellen:

Ich stellte meine Wohnung arbeitsgerecht um, kaufte einen neuen Schreibtisch und Bürostuhl. Auch die Geräuschkulisse änderte sich: In meinem Haus hörte ich auf einmal Nachbar*innen telefonieren, die sonst tagsüber in ihren Büros arbeiteten. Mit einem Mal wurde meine Welt beschränkt auf 25 Quadratmeter. Mit Fachkolleg*innen habe ich kaum noch Kontakt. Die informellen Gespräche, das Flurgeflüster und die zufälligen Treffen in der Mensa gingen mir ab. Ich habe das Gefühl abgehängt zu sein. Gleichzeitig habe ich das Gefühl mich von mir selbst abhängen zu wollen. Es reicht, meine Gedanken drehen sich nur noch um meine Existenz in den 25 Quadratmetern, das Leben um mich herum verläuft in Zeitlupe. Corona ist ein Scheinriese, je weiter ich mich wegkämpfe desto größer erscheint er. Von meinem Bett aus kann ich die noch zu lesenden Bücherstapel auf meinem Schreibtisch sehen und kann nicht mehr gut einschlafen. Meine Feldforschung ist bis heute auf ungewisse Zeit verschoben. Der sorgsam angelegte Zeitplan für meinen Stipendiengeber bleicht stetig in der Sonne aus – ich darf ihn nicht zu oft betrachten. An meinem Projekt zu arbeiten fühlt sich sinnlos an. Mit welchem Zeitfenster soll ich planen? Was wenn sich diese Krise doch weiter hinzieht? Wenn meine physische Präsenz im Feld nie möglich sein wird? Ich darf auch über diese Fragen nicht zu viel nachdenken; ich stelle meine Gedanken auf mute.

Written on 5 October 2020 and revised on 12 October 2020

 

Julia Baumann promoviert gegenwärtig an der FU Berlin und untersucht empirisch das emotionale Erleben von Ethnograf*innen in akademischen Arbeitswelten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Den Lockdown hat Julia in Berlin verbracht. Kontakt: j.n.baumann[at]fu-berlin.de


References

Baumann, Julia Nina. 2020. Equality in the shades of Covid-19 in Germany– a critical comment: https://www.anthrometronom.com/corona-realms.

Benoy, Charles (Hg.). 2020. Covid-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Einschätzungen und Maßnahmen aus psychologischer Perspektive. Einschätzungen und Maßnahmen aus psychologischer Perspektive. Stuttgart: Kohlhammer.

Bloom, Nicholas, James Liang, John Roberts Zhichun & Jenny Ying. 2015. Does working from home work? Evidence from a Chinese experiment. In: The Quarterly Journal of Economics, 165–218.[doi:10.1093/qje/qju032]

Bremer, Kai und Christoph König. 2020. Wie die ‚neue Normalität‘ an Universitäten aussehen kann, in Forschung & Lehre 03.07.2020. https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/wie-die-neue-normalitaet-an-universitaeten-aussehen-kann-2919/.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). 2015. MONITOR. Mobiles und entgrenztes Arbeiten. Aktuelle Ergebnisse einer Betriebs- und Beschäftigtenbefragung. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a873.pdf?__blob=publicationFile&v=2.

Bünning, Mareike, Hipp, Lena & Munnes, Stefan. 2020. Erwerbsarbeit in Zeiten von Corona. WZB Ergebnisbericht des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). https://www.econstor.eu/bitstream/10419/216101/1/Full-text-report-Buenning-et-al-Erwerbsarbeit-in-Zeiten-von-Corona-v1-20200415.pdf.

Ceballos Betancur, Karin, Viola Diem, Simon Kerbusk & Kolja Rudzio. 2020. Zu Hause ist es am schönsten.In: DIE ZEIT  25/2020, 10. Juni 2020. https://www.zeit.de/2020/25/homeoffice-buero-flexible-arbeit-digitalisierung-coronavirus.

Evangelischer Pressedienst (EPD) &Jens Bayer-Gimm. 2020. Studie. Homeoffice beschert psychische Probleme. https://www.evangelisch.de/inhalte/168317/05-04-2020/studie-homeoffice-beschert-psychische-probleme.

Graeber, David. 2018. Bullshit-Jobs. A Theory. New York: Simon & Schuster.

Gramelsberger, Gabriele. 2020. ‚Am Ende könnte das Aus der Forschung stehen‘. In: Forschung & Lehre 18.09.2020. https://www.forschung-und-lehre.de/am-ende-koennte-das-aus-der-forschung-stehen-3115/.

Kehr, Janina. 2020. Sich der Pandemie hingeben. Schreiben und Nervosität in Zeiten von Covid-19 (#WitnessingCorona). https://www.medizinethnologie.net/sich-der-pandemie-hingeben/.

Lems, Annika. 2020. The (Im)possibility of Ethnographic Research during Corona. https://www.eth.mpg.de/5478478/news-2020-06-11-01.

Muri, Gabriela. 2004. Pause!. Zeitordnung und Auszeiten aus alltagskultureller Sicht. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

Rump, Jutta & Marc Brandt (Hg.). 2020. Zoom-Fatigue. Eine Studie des Instituts für Beschäftigung und Employability. https://www.ibe-ludwigshafen.de/wp-content/uploads/2020/09/Folien_IBE-Studie_Zoom-Fatigue.pdf.

Wissenschaftliches Instituts der AOK (WIdO). 2019. Eine aktuelle Befragung des Arbeitens im Homeoffice. Höhere Arbeitszufriedenheit, aber stärkere psychische Belastungen. https://www.aok-bv.de/presse/pressemitteilungen/2019/index_22652.html. (letzter Zugriff zu allen Links: 05.10.2020)