De/Masking Western Civilization
Der Weg der Masken: Eine Bilanz in Bildern aus Deutschland
Es scheint […] gar nicht so schwer zu sein, auch westliche und europäische Länder zu überzeugen, vom Modell des unzureichenden Schutzes eigenen Wohlergehens auf das Modell der Fürsorge für den anderen umzuschalten. […] Wie Claude Lévi-Strauss einmal anhand amerindianischer Erziehungsmethoden ausgeführt hat, kann man die Kindererziehung, aber auch die Erziehung von Erwachsenen auf zwei entgegengesetzte Weisen begründen. Und man wird kaum leugnen können, dass es sich bei der Einführung einer Maskenpflicht um eine Form der Erziehung handelt, die zumindest beim nächsten Auftreten dieser oder einer anderen Pandemie greifen sollte oder am Widerstand der Schwererziehbaren scheitern wird. Lévi-Strauss stellte für die indianischen Gesellschaften (aber nicht, um ihnen ein Monopol in dieser Angelegenheit zuzubilligen) fest, sie gingen nicht von Sartres bekanntem Diktum aus: “Die Hölle, das sind die anderen”, sondern von der entgegengesetzten Prämisse: “Die Hölle, das sind wir selbst.” In jedem Kind, aber auch in jedem Heranwachsenden und Erwachsenen lauern Kräfte, die sich mit der Außenwelt verbünden könnten, um nicht nur die Welt, sondern auch den Kosmos in Unordnung zu bringen. Daher ist gutes Benehmen und ein Leben nach den Regeln der Etikette so wichtig, nicht um den Einzelnen vor dem Andrang der Welt zu schützen, sondern um ihm oder ihr zu helfen, die eigenen Kräfte richtig einzuschätzen, um ihn oder sie vor sich selbst zu schützen. Lévi-Strauss schreibt:
„Wenn man heute … Eltern fragte, warum sie ihren Kindern verbieten, Wein zu trinken, würden wohl alle in gleicher Weise antworten: der Wein ist ein zu starkes Getränk; und man darf ihn nicht ohne Gefahren schwachen Organismen verabreichen, die nur Nahrungsmittel vertragen, deren Zartheit der ihren entspricht. Doch nichts ist jüngeren Datums als diese Erklärung, denn vom Altertum bis zur Renaissance und selbst darüber hinaus verbot man den Kindern den Wein aus genau den entgegengesetzten Gründen: indem man sich nicht auf die Verletzbarkeit eines jungen Organismus durch eine äußere Aggression berief, sondern auf die Heftigkeit, mit der die Lebenserscheinungen sich darin kundtun: daher die Gefahr, explosive Kräfte miteinander zu verbinden, die beide eher ein mäßigendes Mittel erfordern. Statt also den Wein für zu stark für das Kind zu erklären, erklärte man das Kind für zu stark für den Wein, oder zumindest für ebenso stark wie er“ – und damit für zu stark für eine Multiplikation, die darauf hinausliefe, den Organismus so sehr zu beschleunigen, dass er vor der Zeit wie in einem Zeitraffer alterte und andere in Mitleidenschaft zöge.
Wenn Lévi-Strauss recht hat, dann haben auch die europäischen und westlichen Gesellschaften eine Zeit hinter sich, in der sie ganz im ostasiatischen Sinne auf das gute Benehmen des einzelnen achteten, damit dieser nicht zum Kontaminationsherd für beschleunigten Verfall würde, um die anderen zu verschonen und vor dem Übermut des spontanen Risikos abzuschirmen. Dieses kulturelle Modell gilt es daher nur, aus der Vergessenheit zu holen, und vielleicht wäre das auch gut für all die denkbaren und sinnvollen institutionellen und gesellschaftlichen Reformen, die nach der Krise notwendig werden. Das Tragen von Atemschutzmasken zum Schutz der anderen vor dem eigenen Atem wäre eine gute Übung auf dem Weg zur Zivilisierung unserer Umgangsformen – mit den apokryphen Worten, die Mohandas Ghandi posthum zugeschrieben wurden: „Western Civilisation? It would be a good idea.“
Erhard Schüttpelz & Ulrich van Loyen, 6. April 2020: Die Überwindung der Maskenphobie
The Way It Is:
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