02/10/18

Schlafende Objekte

Über die Zukunft der Museumsartefakte

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Die Nachricht vom verheerenden Brand im Nationalmuseum von Rio de Janeiro ruft auch folgenden Aspekt der Museen einer vergleichbar enormen Größe in Erinnerung: Gemäß ihrem Anspruch, die Nation und den Reichtum ihres Kulturerbes zu repräsentieren, wurden für sie Artefakte in großer Menge in aller Welt gesammelt und mit der Zeit überwiegend in den Depots dieser Prestigegebäude aufbewahrt. Aber diese Konzentration macht eben dieses Kulturerbe für die Katastrophe eines Brandes verwundbar. Zwar werden in ihren Stauräumen die vielen Objekte konserviert und an einem Teil von ihnen wird geforscht – denn das Depot ist „das kontinuierlich pochende Herzstück eines Museums“[1]–, doch verwahrt man dort in der Regel Objekte, die keinen öffentlichkeitswirksamen „Schaustatus“ haben; deren mühevolle Instandhaltung im Depot führt ein Schattendasein. Auch lagern in den Depots der großen Museen hunderttausende bis hin zu Millionen von Kulturgütern, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte keine wissenschaftliche Zuwendung erfahren – und so dem Weltwissen vorenthalten werden.

 width=Diana Guzmán und María Morera beim Sichten des Depots des Ethnologischen Museums Berlin im Juli 2014, Screenshot aus Sleeping Objects © Ingrid Kummels

Auch im Ethnologischen Museum Berlin „schläft“ ein Großteil der halben Million Artefakte, die von 1873 an unter der Leitung von Adolf Bastian systematisch in der ganzen Welt außerhalb der „Provinz Europa“ gesammelt worden sind. „Schlafen“ ist das Wort, welches Diana Guzmán wählte, als sie auf unsere Einladung hin zum ersten Mal Objekte im Berliner Depot sah, die Teil des Kulturerbes der Kotiria und Wira poná (Ethnien des kolumbianischen Amazonas-Gebietes; auch als Wanano und Desana bekannt) sind. Die Artefakte „schlafen“, da ihre unmittelbaren Erben, die heutigen Angehörigen dieser Herkunftsgesellschaften, von welchen sie einst erworben wurden, oft keine Kenntnis von ihrer Existenz haben.[2] Zudem sind ihre Möglichkeiten begrenzt, dieses Vermächtnis in den Museen, die überwiegend im globalen Norden angesiedelt sind, vor Ort in Augenschein zu nehmen. Weil so ihr fundiertes Wissen über die gelagerten Artefakte fehlt, erfahren diese eine Dekontextualisierung von ihren Epistemologien, die den „schlafenden Objekten“ erst einen tieferen Sinn verleihen. Die Objekte werden deshalb in den Museen oft in erster Linie als Wegmarken der Expeditionen berühmter Forschungsreisender interpretiert oder aufgrund ästhetischer Kriterien geschätzt. Das sind beides durchaus informative und legitime Zugänge zu ihrem Verständnis – aber eben nur partielle. Die immense Bedeutung vieler „schlafender Objekte“ als Weltkulturerbe entgeht so der Menschheit.

Doch fangen wir von vorne an: 2014 initiierten Michael Kraus, Ernst Halbmayer und ich ein kollaboratives Projekt mit Vertreter*innen der Kotiria und Wira poná. Zwei Jahre zuvor hatte Michael Kraus sie im kolumbianischen Mitú aufgesucht und sie auf die Existenz des materiellen Vermächtnisses in Berlin aufmerksam gemacht. Unser Ausgangspunkt waren die 1.298 Objekte, die der deutsche Forscher Theodor Koch-Grünberg, damals Angestellter am Königlichen Museums für Völkerkunde (wie das Ethnologische Museum Berlin hieß), auf seiner Reise zum oberen Río Negro in den Jahren von 1903 bis 1905 zusammentrug. Sein wissenschaftliches Vorgehen in dieser Region und seine Interaktion mit deren Bewohner*innen ist Teil unserer Wissenschaftsgeschichte als deutsche Altamerikanist*innen und Ethnolog*innen – ob wir diese persönlich gutheißen oder nicht. Doch gerade mit Koch-Grünberg kann man/frau sich zum Glück auch heute in vielen Aspekten identifizieren. Dieser Forscher arbeitete für seine Zeit wissenschaftlich vorbildlich, wenngleich sein Tun inmitten des Kautschuckbooms keineswegs frei von Widersprüchen war.[3] Bei seinen drei Forschungsreisen nahm er ausgiebig beobachtend teil am kulturellen Leben der ethnischen Gruppen des Amazonas-Zuflusses Río Negro. Er bewunderte deren Humanität und Wissen. Wie viele Ethnologen finanzierte er seine Reisen mit dem Erwerb von materiellem Kulturgut für das Berliner Museum. Allerdings begeisterte ihn das Ausmaß seiner Sammeltätigkeit keineswegs. Auf Drängen des Museums hin, verbrachte er viel Zeit mit der Logistik des Transports der sperrigen Güter. Viel lieber hätte er mehr über die geistige Kultur erfahren und Mythen aufgezeichnet, was er sich für die nächste Reise aufhob. Aber dazu kam er nicht mehr: Zu Beginn seiner vierten Erkundungsreise in Südamerika starb der 51-jährige Koch-Grünberg an Malaria.[4]

 width=Theodor Koch-Grünberg mit Bewohner*innen des unteren Río Apaporis;
© Universität Marburg https://www.uni-marburg.de/fb03/ivk/vk/bilder/koch/image

Ende Juni 2014 war es dann so weit: Im Ethnologischen Museum Berlin empfingen wir Diana Guzmán, Orlando Villegas, María Morera und Gaudencio Moreno, die zum zweiwöchigen Workshop aus Mitú angereist waren. Sie würden in Berlin Gegenstände wie Amtsstäbe, Rassellanzen, Kristallquarze, Tanzfederschmuck und -schürzen, Schamanenrasseln, Zigarrengabeln, verzierte Tongefäße und fein geflochtene Siebe entweder zum ersten Mal sehen oder in einem gewissen Sinn wiedersehen. Viele dieser Artefakte sind in den Gemeinden der Kotiria und Wira poná heute nicht mehr im Gebrauch. Insbesondere die Utensilien des Schamanen wie der Krug für das halluzinogene Yagé oder Ayahuasca, die elaborierte, mit Federn geschmückte Tanzkleidung und die Musikinstrumente sind von den katholischen Missionen als Teil eines rivalisierenden Wissenssystems gezielt eliminiert worden. Auch erfuhren die Kotiria und Wira poná ebenso wie die Angehörigen der insgesamt 27 ethnischen Gruppen des Departamento Vaupés über Jahrzehnte eine rücksichtslose Ausbeutung als Arbeitskräfte in der Kautschukgewinnung, was sie zur Aufgabe von vielen Aspekten ihrer geistigen und materiellen Kultur gezwungen hat. Während ich die Vorstellungsrunde am ersten Tag des Workshops filmte, fiel ein Satz, der dazu führte, dass ich innehielt. Die Objekte, die ich als „die“ der Sammlung Koch-Grünberg auffasste – d. h. ich begriff sie als Artefakte, deren Erhaltung wir vor allem diesem Forscher verdanken – sah ich plötzlich aus einer anderen Perspektive. In ihrer ersten Ansprache bedankten sich unsere Gäste zunächst nachdrücklich für diese Bewahrung im Ethnologischen Museum Berlin, die uns und ihnen erlauben, diese nach über 100 Jahren zu untersuchen. Sie zollten im Übrigen der Arbeit und Expertise der Museumskonservator*innen stets höchsten Respekt. Dann fiel der Satz. Die 80-jährige María Morera, deren Kotiria-Name Horiphokó (die Besitzerin der Figuren) ist, erklärte schlicht: “Die Objekte, die sich hier befinden sind für uns wie das Zentrum des Körpers, die Wirbelsäule“.

 width=Richard Haas, Orlando Villegas, María Morera, Ernesto Belo, Diana Guzmán, German Laserna und Gaudencio Moreno zwischen den Vitrinen des Museumsdepots, Screenshot aus Sleeping Objects © Ingrid Kummels

So kam ich ins Grübeln und fragte mich: Was wissen wir denn wirklich über die im Museumsdepot „schlafenden Objekte“?[5] Mein Blick verschob sich von der Dominanz dieses berühmten Forschers und „seiner“ Sammlung, die für die Biographien der Museumsobjekte stets zentral zu sein scheinen, auf das, was wir gerade im Rahmen der interkulturellen Zusammenkunft im Museum sinnlich erfuhren: Eine emotional heftige (Wieder)begegnung unserer Gäste aus dem oberen Río Negro mit einem Kulturerbe, mit welchem sie (was diese bestimmten Gegenstände anbelangt) noch vor kurzem nicht gerechnet hatten. Ich wiederum lernte eine mir vertraut erscheinende Sammlung nun mit ihrer Hilfe neu kennen und schätzen. Hinzu kam mein spezifischer Zugang des Filmens: Die VW-Stiftung hatte gebeten, dass wir den Verlauf des Workshops, den sie finanzierte, detailliert dokumentieren. Also übernahm ich es über Stunden mit einem Camcorder aufzunehmen. Filmen bedeutet mehr als eine audiovisuelle Dokumentation von Abläufen; die Kamera kann als ein weiterer Akteur und Katalysator wirken, der die gefilmten Protagonist*innen anregt, Botschaften an ein breiteres Publikum zu richten, das künftig diese Filmaufnahmen sehen wird. Zugleich enthüllen die Filmbilder mehr als die verbalen Inhalte: Sie zeigen Räume, Interaktionen, Gesichtsausdrücke und Gestik, die von der Affektivität geprägt sind, die uns als Menschen mit diesen Objekten verbindet. Der emotionale Zugang betrifft Fragen wie: Wie und wozu bewahren wir die Rassellanze auf? Wessen Erbe ist sie? Wer darf sie wie ausstellen? Welche Rolle spielt sie für unsere Zukunft? Auf dem Bildschirm meines Camcorders sah ich oft Gesichter in die sich Anspannung, hoffnungsvolle Erwartung, Neugier, Skepsis oder Zweifel zeichneten. In dieser Vorstellungsrunde erklärten Diana Guzmán, Orlando Villegas, María Morera und Gaudencio Moreno, dass sie dankbar sind, dass es diese Objekte gibt und dass sie hier über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert mit viel Sorgfalt (wenngleich nicht ohne Bedrohungen wie etwa Bombardierungen und Plünderungen während des Zweiten Weltkriegs) aufbewahrt worden sind. Sie betonten aber auch – oder zeigten es einfach durch ihre Praktiken – dass sie diese Gegenstände zwar nicht mehr haben – aber sie sehr genau kennen: Denn trotz der erfahrenen neokolonialen Expansion und Zerstörung im 20. Jahrhundert tradierten sie diese ungebrochen als Teil ihres immateriellen Kulturerbes weiter. Folglich besaß die bevorstehende Wiederbegegnung mit dem materiellen Kulturgut eine historische Dimension. Dieser bewegende Moment verlangte danach, Botschaften und Praktiken für die Nachwelt audiovisuell festzuhalten.

 width=Michael Kraus, Gaudencio Moreno und Orlando Villegas diskutieren über die Ordnung der Dinge im Depot, Screenshot aus Sleeping Objects © Ingrid Kummels

Die Objekte befreiten sie daraufhin systematisch aus ihrem Dornröschendasein. Diana Guzmán, María Morera, Orlando Villegas und Gaudencio Moreno übernahmen ab Tag 1 beim Workshop die Führung: Nach der Vorstellungsrunde ließen sie sich die Gesichter von der „Besitzerin der Figuren“ sorgfältig bemalen, ohne dies zunächst groß anzukündigen. Ich filmte. Tage später während des Workshops erfuhren wir auf Nachfrage von Diana: „Wir bemalen uns, um uns vor allen Objekten zu schützen, die es an diesem Ort gibt, denn hier gibt es viele Menschen, das heißt Objekte. Sie sind mächtig, sehr mächtig. Wenn wir uns nicht bemalen, werden wir krank. In der ersten Nacht hatten wir deswegen Albträume. Die Objekte sind lebendige Wesen und besitzen unterschiedliche Formen von Wissen. Für euch mögen sie reine Gegenstände sein, aber für uns sind sie Menschen, die leben und die Energie haben.“ Alle vier beschäftigen sich schon seit langem intensiv mit Fragen des Kulturerbes: Diana und Orlando setzen sich als Lehrer der Schule ENOSIMAR (Escuela Normal Superior Indígena María Reina) in Mitú für die Stärkung des indigenen Vermächtnisses im Schulalltag ein. Der kolumbianische Staat hat ihnen den Titel „Wächter des Kulturerbes“ verliehen. Orlando und Gaudencio stellen gerade ein Buch über die Kotiria-Mythologie fertig.[6]

Vor dem ersten Rundgang durch das Depot der Südamerika-Abteilung informierte Richard Haas, der damalige Vizedirektor, dass die Artefakte aus Gründen der Konservierung in Materialien wie Keramik, Körbe und Federschmuck geordnet sind. Wir hatten einzelne Objektgruppen provisorisch thematisch geordnet, so in „Rituelle Objekte und Machtobjekte“, „Tanz und Musik”, “Objekte und Kindheit. Objekte und Sport”, “Symbole und Ornamente” und “Objekte und Alltag ”. Die indigenen Expert*innen beschlossen: Um Wissen über sie auszutauschen, müssen die Artefakte aus dem Depot raus und neu geordnet werden. Nur so lassen sie sich nach den Ursprungsmythen der Kotiria und Wira poná erklären, die den Gegenständen eine Geschichte zuschreiben, die lange vor den Kolonialismus zurückreicht. Diese Geschichte handelt von der innigen Beziehung zwischen Menschen und Objekten.

 width=Die Rassellanze, die „Wirbelsäule unserer Kultur“, wird in einen Nebenraum verlegt, damit Gaudencio Moreno (Mitte) sie als Teil der Ursprungsmythe der Kotiria erläutern kann,
© Foto: Ingrid Kummels

Ein Beispiel dafür, wie dieser Lernprozess half, im Verlauf der zwei Wochen gegenseitig unsere Perspektiven auf dieses Kulturerbe zu erweitern, ist die caja de plumas. Ohne dass wir von der deutschen Seite zunächst davon erfuhren, hegten die indigenen Expert*innen die große Hoffnung, eine vollständige caja de plumas mitsamt Inhalt am Museum zu finden. In dieser großen, länglichen Korbschachtel wurden früher die rituell wichtigsten Utensilien aufbewahrt, wie der Tanzfederschmuck, aus dem die Ahnen der heutigen Menschen bestanden. Dieser Behälter, der auch „Schachtel des Wissens“ genannt wird, wurde sorgfältig über der Feuerstelle gelagert und so vor Feuchtigkeit geschützt. Die Depotordnung, die Gegenstände in Materialgruppen aufteilt, weckte schlimme Vermutungen. Unsere indigenen Gesprächspartner*innen mussten befürchten, dass der Inhalt dieser Korbschachtel im Museum auf verschiedene Schränke verteilt ist, oder in früherer Zeit, als man um die große religiöse Bedeutung der gefüllten caja nicht wusste, sogar unter verschiedenen Museen aufgeteilt worden war. Dies verglichen sie mit der Vierteilung eines Menschen. Wenn auch ungeplant, so kamen wir in solchen Momenten der Forderung von Amy Lonetree nahe, dass zur kollaborativen Zusammenarbeit im Museum auch das Sprechen über solche “hard truths” gehört.[7]

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Nachdenken über „hard truths“, Screenshots aus Sleeping Objects © Ingrid Kummels

Die Betroffenen selbst stießen also eine Diskussion an, die weit über die bloße Restitution  der Kulturgüter hinausging. Vielmehr betraf diese übergeordnete Aspekte und neue Möglichkeiten des Austauschs von Wissen auf dieser Welt sowie insbesondere die Forderung nach einer regelmäßigen, systematischen Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen den Angehörigen der verschiedenen Nachfolgegesellschaften. Wir diskutierten auch eine Bandbreite praktischer Fragen, wie die der Aufbewahrung des Kulturerbes der Kotiria und Wira poná, seiner Konservierung, seiner Anordnung im Depot, seiner wissenschaftlichen Untersuchung, etwa  der Wissensquellen, die es über einzelne Gegenstände zu konsultieren gilt. Es beschäftigte uns insbesondere die Frage der Zirkulation von Wissen, die im Fall der „schlafenden Objekte“ langfristig unterbrochen worden ist. Dies bedeutet, dass zentrale Objekte, kulturelle „Wirbelsäulen“ und deren Epistemologien ignoriert werden; dieses Ignorieren ist ein wesentlicher Bestandteil der bestehenden Schieflage und Ungleichheit in der globalen Wissenslandschaft. Es ging den indigenen Expert*innen also keineswegs um ein „Zurück zum Originalzustand“, ein Ding der Unmöglichkeit hinsichtlich von Jahrzehnten der Missionierung, des internen Konfliktes in Kolumbien und des neoliberalen Extraktivismus. Vielmehr stand die Zukunft der Dinge und unseres Dialoges im Mittelpunkt, die Aufbausteine für eine gleichgewichtigere Geopolitik des Wissens sein können. Deshalb plädierten unsere Gäste vor allem dafür, diese Aspekte voranzubringen. Als Orlando Villegas auf unserer öffentlichen Abschlusskonferenz ausdrücklich auf die Frage der möglichen Restitution der Objekte angesprochen wurde, antwortete er: „Wir wollen sie nicht mit in den Vaupés nehmen. Warum? Weil wir in erster Linie das Wissen haben. […] Da wir nun Bescheid wissen, dass diese hier sind, können wir sie besuchen und ihnen wieder Leben einhauchen, so wie wir es gerade in diesem Moment tun.“[8]

Bisher hat sich dieser beidseitige Wunsch nach einem Fortbestand des Dialogs erfüllt. Das erweiterte Wissen über das Kulturerbe der Kotiria und Wira poná, das in Berlin lagert, zirkuliert unter anderem in einem Tagungsband und dem nun veröffentlichten Trailer zur Workshop-Dokumentation; ein großformatig bebildertes, mehrsprachiges Workshop-Buch für die Leserschaft in Mitú ist gerade in Entstehen. Auch in Absprache mit Andrea Scholz und ihrem Projekt „Lebende Dinge in Amazonien und im Museum – Geteiltes Wissen im Humboldt Forum“ wird die enge Zusammenarbeit fortgesetzt. Diana, Andrea und ich trafen uns im Juni 2018 in  Salamanca. Wir sahen uns eine erste Fassung des 60minütigen Films zum Workshop, den ich bald auch in Mitú zeigen möchte: Sleeping Objects / Objetos dormidos. Er weckte viele Erinnerungen, von den schmerzhaften bis zu den hoffnungsfrohen – und gab uns Auftrieb.  Dieses Beispiel, welches nur eines von einer wachsenden Zahl an kollaborativen Projekten ist,[9] zeigt: De facto wird das Ethnologische Museum Berlin, insbesondere sein Depot,  längst als ein „Forschungscampus“ genutzt, so wie es seit 2017 von Seiten der Direktion der Stiftung Preußischen Kulturbesitzes öffentlich eingefordert wurde.[10] Doch die Ankündigung Hermann Parzingers weist darauf hin, dass es noch etliche Desiderata auf diesem schon eingeschlagenen Weg gibt. „Vor-Ort-Forschung unter dem Gesichtspunkt einer Wissenskommunikation“ soll im Forschungscampus Dahlem stattfinden, wie es in der aktuellen Ausschreibung der Stelle eines/r Vizedirektors/in für das Ethnologische Museum Berlin und das Museum für Asiatische Kunst angegeben wird. Der/die neue Stelleninhaber/in soll eine Strategie für die wissenschaftliche Arbeit des Forschungs-Campus Dahlem entwickeln und umsetzen.

Was jetzt noch fehlt? Eine Ermöglichungsstruktur für die bestehenden und künftigen kollaborativen Herangehensweisen sowie für einen Dialog, an welchem Protagonist*innen der Nachfolgegesellschaften, die eine Geschichte hinsichtlich dieser Objekte teilen, gleichberechtigt teilnehmen können. Als Angehörige dieser Nachfolgegesellschaften haben wir eine „geteilte Geschichte“,[11] die von vielfältigen Austauschprozessen wie von kommerziellen Transaktionen bis hin zur widerrechtlichen Aneignungen von Kulturgütern geprägt worden ist; diese Geschichte ist nicht auf die Zeit des europäischen Kolonialismus beschränkt, sondern ist länger und facettenreicher. Mit Zusammenarbeit kann nicht ein einseitiges Instrumentalisieren des „Wissens der Anderen“ gemeint sein.[12] Die Kollaboration erfordert es vielmehr, die Ausbildung für den Umgang, die Konservierung, das Forschen mit und Ausstellen von Objekten neu auszurichten. So ist etwa die Provenienzforschung an den Museumsartefakten neu zu denken, wie es Diana Guzmán und Andrea Scholz fordern. Deren Biographien müssen auch aus der Perspektive der Herkunftsgesellschaften erfasst werden. Ethnologischen Museen und Universitäten ist es ein Bedürfnis, ihre Zusammenarbeit enger und systematischer zu gestalten. So könnten kollaborative Herangehensweisen bereits in der Ausbildung, etwa im Rahmen eines Graduiertenkollegs zur materiellen Kultur und deren schlafenden Objekten, integriert sein und praktiziert werden.[13]

Ingrid Kummels ist Univ.-Prof. für Altamerikanistik / Kulturanthropologie am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Mit der kollaborativen Arbeit in ethnologischen Museen hat sie im Rahmen mehrerer Foto- und Objektausstellungen Erfahrung gesammelt. Diese Projekte waren und sind Teil längerer Feldforschungen in Mexiko, den USA, Kuba und Peru zu den Themen von Migration und der transnationalen Gemeinschaftsbildung mittels audiovisueller Medienpraktiken. Aktuell leitet sie das Teilprojekt zu „Die affektive Produktion von ‚Heimat‘: Patronatsfestvideos im transnationalen Kontext Mexiko/USA“ im Rahmen des SFB „Affective Societies“. Als Filmemacherin hat sie zahlreiche Dokumentarfilme für das deutsche Fernsehen hergestellt.

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[1] Martina Griesser-Stermscheg (2013): Tabu Depot. Das Museumsdepot in Geschichte und Gegenwart. Köln: Böhlau, p. 9.

[2] Wenngleich das Ethnologische Museum Berlin ihre Gegenstände und Fotos partiell auf einer Online-Datenbank öffentlich zugänglich macht (siehe http://www.smb-digital.de/eMuseumPlus), waren sie den Kotiria und Wira poná nicht bekannt.

[3] Michael Kraus (2018): Testigos de la época del caucho: experiencias de Theodor Koch-Grünberg y Hermann Schmidt en el alto río Negro. In: Michael Kraus, Ernst Halbmayer and Ingrid Kummels (eds.) Objetos como testigos del contacto cultural. Perspectivas interculturales de la historia y del presente de las poblaciones indígenas del alto río Negro (Brasil/Colombia). Estudios Indiana 11: 97-133.

[4] Michael Kraus, Ernst Halbmayer & Kummels Ingrid (2018): The Perspective from Germany: Steps towards a Dialogue on Objects. In: Michael Kraus, Ernst Halbmayer and Ingrid Kummels (eds.) Objetos como testigos del contacto cultural. Perspectivas interculturales de la historia y del presente de las poblaciones indígenas del alto río Negro (Brasil/Colombia). Estudios Indiana 11. Available online: https://www.iai.spk-berlin.de/fileadmin/dokumentenbibliothek/Estudios_Indiana/EI_11_introcuction_EN.pdf

[5] Ingrid Kummels (2018): Trailer zu Sleeping Objects. https://vimeo.com/292484834.

[6] See also: Mirigõ – Diana Guzmán and Maha-piria – Orlando Villegas (2018): The Perspective from Mitú, Colombia: Museums, Objects, and Narratives. In: Michael Kraus, Ernst Halbmayer and Ingrid Kummels (eds.) Objetos como testigos del contacto cultural. Perspectivas interculturales de la historia y del presente de las poblaciones indígenas del alto río Negro (Brasil/Colombia). Estudios Indiana 11. Available online: https://www.iai.spk-berlin.de/fileadmin/dokumentenbibliothek/Estudios_Indiana/EI_11_introcuction_EN.pdf

[7] Amy Lonetree (2012): Decolonizing Museums. Representing Native America in National and Tribal Museums. Chapel Hill: The University of North Carolina Press, S. 5. Die Recherchen am Museum ergaben später, dass Koch-Grünberg vermutlich nie eine vollständige Korbschachtel sammelte bzw. erwerben konnte. Die Suche nach der caja de plumas aber bleibt eine machtvolle Metapher, die besagt, dass unsere Unkenntnis über die „schlafenden Objekte“ mit dem Verlust bedeutender Epistemologien auf dieser Welt einhergeht.

[8] Michael Kraus, Ernst Halbmayer & Kummels Ingrid (2018): The Perspective from Germany: Steps towards a Dialogue on Objects. In: Michael Kraus, Ernst Halbmayer and Ingrid Kummels (eds.) Objetos como testigos del contacto cultural. Perspectivas interculturales de la historia y del presente de las poblaciones indígenas del alto río Negro (Brasil/Colombia). Estudios Indiana 11. Available online: https://www.iai.spk-berlin.de/fileadmin/dokumentenbibliothek/Estudios_Indiana/EI_11_introcuction_EN.pdf

[9] Für das Ethnologische Museum Berlin siehe Andrea Scholz (2017): Sharing Knowledge as a Step toward an Epistemological Pluralization of the Museum. In: Museum Worlds. Advances in Research 5: 133-148. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Mensch-Ding-Verflechtungen indigener Gesellschaften“ der Universität Bonn, https://www.iae.uni-bonn.de/forschung/forschungsprojekte/laufende-projekte/medivig/201emensch-ding-verflechtungen-indigener-gesellschaften201c; siehe auch Alexander Brust (2013): Amazonas-Indianer und ihre Blicke auf Museumssammlungen. Museumskunde 78(2): 62-68.

[10] Hermann Parzinger (2017): Der Museumskomplex Dahlem wird zum Forschungscampus. Der Tagesspiegel, 17 March 2017 https://www.preussischer-kulturbesitz.de/newsroom/dossiers-und-nachrichten/dossiers/dossier-sammlungswelten/museumskomplex-dahlem-wird-zum-forschungscampus/?L=0&cookie_notice=1ebd.

[11] Nicola Kuhn (2018): „Rückgabe? Wichtiger ist die geteilte Geschichte.“ Der Tagesspiegel, 23 July 2018 https://www.tagesspiegel.de/kultur/humboldt-forum-rueckgabe-wichtiger-ist-die-geteilte-geschichte/22819922.html

[12] Siehe den Beitrag von Andrea Scholz in diesem Blog: https://boasblogs.org/de/dcntr/das-wissen-der-anderen-in-der-provenienzforschung/.

[13] Zur historisch gewachsenen und sich wandelnden Beziehung dieser beiden Institutionen siehe Karoline Noack (2015): Museum und Universität. Institutionen der Ethnologie und Authentizität der Objekte. Rückblicke, gegenwärtige Tendenzen und zukünftige Möglichkeiten. In: Michael Kraus und Karoline Noack (Hg.): Quo vadis, Völkerkundemuseum? Aktuelle Debatten zu ethnologischen Sammlungen in Museen und Universitäten. Bielefeld: transcript, S. 48-61.