15/01/19

Ovizire Somgu: Von woher sprechen wir?

Kommentar zur laufenden Ausstellung im MARKK (bis zum 12.4.19), und in M.Bassy (bis zum 27.1.19), Hamburg

Von woher kommen wir[1]?

Als junge Studentin der Ethnologie begann ich im Jahr 1988/89 meine Ausbildung am Rothenbaum, im Institut hinterm Museum für Völkerkunde. Das war vielen sofort ein Begriff, aber wenn ich erzählte, dass wir mehr oder weniger in einem Kellerraum des Gebäudes unsere Seminare abhielten und die Bibliothek aus allen Nähten platzte, weil das Museum keine Veranlassung sah, Räume abzutreten oder gar eine Zusammenlegung der Buchbestände mit der Universität anzustreben, interessierte das kaum jemanden. Nur zu unseren Vorlesungen durften wir den herrschaftlichen Vorlesungssaal in Eichenholz nutzen und den Sounds vom Zeigestock lauschen, wenn der Professor seinen Hiwis Signal gab, die Dias über seine Vorträge zu Ozeanien zu wechseln. Das Museum als Arbeitsfeld für Ethnologen hatte mich nie gelockt, schon bei meinen ersten Besuchen stellte ich wie schon so oft in andern Häusern mit vielen Glasvitrinen fest: alles sehr verstaubt. Vielleicht lag es auch daran, dass uns derselbe Professor deutlich zu verstehen gab, dass vor der Promotion im Museum sowieso nichts laufe, keine Idee von Projektstudium oder kooperativer Lehre mit den MitarbeiterInnen des Museums, streng getrennte Sphären zwischen den Objektexperten und denen des akademischen Diskurses über sie. Einzig der Besuch der Museums-Bibliothek war erlaubt, wo immer ein gastfreundlicher Ton der leitenden Bibliothekarin herrschte, war sie vermutlich an den Nutzerstatistiken interessiert, die sich durch uns Studierende erhöhte und dafür sorgte, dass die Etats für Neuanschaffungen nicht schrumpften? Angeregt durch eine Vorlesung in der Politologie zu Kolonialismus in Afrika hatte ich mich mal wieder in die schmalen Etagen dieser Museumsbibliothek begeben, um nach Werken über das Kolonialzeitalter zu suchen. Ich wurde fast in allen regionalen Abteilungen fündig: Ozeanien, die Amerikas, Afrika, China …. wo sollte ich bloß anfangen? Mir dämmerte, was alles überhaupt noch nie in meiner Schulzeit behandelt worden war, dabei hatte ich einen sehr guten Geschichtslehrer gehabt. Dafür studiert man wohl, dachte ich mir und stürzte mich mutig in das „Selbststudium“, das aber schnell  von anderen Anforderungen im Studium eingeholt wurde, meine guten Vorsätze blieben auf der Strecke, genauso wie die Vorlesung im Studium Generale bei den Politologen. Von Kolonialismus las ich erst wieder in einem Oberseminar, als ich zur Hauptstadt Khartum im Sudan ein Referat hielt und vom Mahdi-Aufstand erfuhr, eine der erfolgreichen Widerstandsbewegungen gegen die Briten, die bis heute als eine Wurzel sudanesischer Unabhängigkeitswerdung und Nationalstaatsbildung gewertet wird.

Es wäre im weiteren wohl sehr aufschlussreich, biografisch zu rekonstruieren, wann man im eigenen Fach mit Kolonialismus und Postkolonialismus zu tun hatte, was davon curricular verankert war und was eher eigenen Interessen und Forschungsthemen überlassen blieb. An eine explizite Ausstellung im Völkerkunde-Museum zum Thema kann ich mich in der Zeit meiner Ausbildung von 1989 bis zum Dr.phil. im Jahr 2000 jedenfalls nicht erinnern; das Gebäude suchte ich erst wieder auf, als ich mit Freunden und Familie meine Promotion im Restaurant feierte, das heute „Okzident“ heißt.

Auch das Museum trägt seit Sommer 2018 einen neuen Namen: Museum am Rothenbaum für Kulturen und Künste der Welt, kurz MARKK. Wow, das geht ins Mark, wer hätte das von uns ehemaligen Hamburger Ethnos jemals für möglich gehalten?

Worüber sprechen wir?

An einem nasskalten Sonntag im Dezember 2018 wandelte ich nun auf alten Pfaden am Rothenbaum, um die jüngst eröffnete Ausstellung „Ovozire – Somgu“ anzuschauen, weil diese sich mit der visuellen Aufarbeitung des kolonialen Genozids an Herero und Nama in Namibia beschäftigt, so der Hinweis auf den Webseiten. Durch meine Rolle als Beauftragte für Internationale Beziehungen am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen bin ich motiviert, hat diese mich 2018 nämlich nach Namibia geführt, um mit der University of Namibia (UNAM) in Windhoek Kooperationsbeziehungen anzubahnen. In einer ehemaligen deutschen Kolonie zu reisen, war eine berührende Erfahrung, und es war ein produktiver Zufall, dass ich auf einer Konferenz zu „Namibian Cultural Heritage“ drei von den vier jungen KollegInnen kennen lernte, die in der Forschungsgruppe zum Postkolonialen Erbe Hamburgs um Jürgen Zimmerer (Universität Hamburg) damit betraut wurden, die Foto- und ethnografische Sammlung des MARKK, die vom damaligen Kolonialadministrator Alexander von Hirschfeld seit 1907 an das Hamburger Völkerkundemuseum übergeben wurde, aus zeitgenössischer Perspektive für eine Ausstellung aufzubereiten. Wieder entlockte es mir ein „wow“, dass die Leitung des neuen MARKK diesen Mut hat, mit solch einem Projekt an den Start zu gehen. Start, weil sich das Haus in einer grundlegenden Umbauphase befindet: einzelne Sääle sind komplett leer geräumt, nur die strukturierende Architektur des geräumigen Baus seit seiner Gründung Ende des 19. Jahrhunderts erinnert an die alte Institution. Es ist etwas unheimlich, im Erdgeschoß durch den „Zwischenraum“ zu wandeln, wo die Fragezeichen geradezu spürbar herumgeistern: Was könnte hier alles Platz haben? Hör-Sääle für eine Public History, die alle mit dem Wissen versorgen könnte, was in unseren Bibliotheken und Forschungsinstituten über Kolonialismus seit Jahrzehnten lagert und produziert wird, und endlich curricular angeschlossen und für die Allgemeinheit aufbereitet werden könnte …. Gruppen- und Versammlungsräume für die diversen migrantischen Vereine und interkulturellen NRO`s, die chronisch an den Rändern unserer Gesellschaft in Kegelclubs, Kirchengemeinden oder Studentenwohnheimen unterschlüpfen müssen, um wöchentliche Treffen abhalten zu können; Werkstätten für Künstler und Kreative, Messen und Infobörsen, um die Archive zu öffnen und über die aktuellen Kooperationen, Interessensgruppen und Projekte zu berichten, die zwischen Herkunftsländern und Objekthütern schon lange bestehen -?

Statt einer totalen Schließung des Museum werden nun neugierige BesucherInnen mit kleinen Sonderausstellungen gelockt, die einem durch das neue PR-Design schon an der Außenfassade entgegen flattern. Weiße Transparente mit schwarzen Schriftzügen und farbigen Unterstreichungen, die auf die aktuellen Projekte verweisen, so auch auf die im Dezember eröffnete Ausstellung „Ovizire – Somgu: From Where Do We Speak?“ Aber: Weder im Ober-, noch im Untertitel wird auf den Gegenstand, den kolonialen Genozid der Deutschen an Nama und Herero, explizit hingewiesen.

Ovozire – Somgu. Von woher sprechen wir?

In einer Lokalsprache Namibias wird es durch den Titel gesagt: Die Ausstellung setzt an den langen „Schatten“ des Vergangenen an, bei den Brüchen, Auslassungen und Schmerzen, die die kolonialen Bilder über Zwangsarbeit, über kriegerische Handlungen und gewaltvollen Umgang der Kolonisten mit den Einheimischen bis hin zum Genozid hinterlassen haben. Was für eine Aufgabe, in einer Sammlung von über 1000 solcher Bilder, die Zeugnis ablegen über das koloniale und imperiale Blicken, die richtige Auswahl zu treffen: Was kann überhaupt noch gezeigt werden, was sollte lieber gleich in den „Giftschrank“, um rassistische, sexistische und xenophobe Muster nicht weiter zu nähren? Was kann oder muss durch Kontextualisierung erklärt werden, was sollte gründlichen Reinigungsprozessen unterzogen werden, und auf welche Weise? Wie kann man das alles für heutige Seh- und Konsumgewohnheiten von Museumsbesuchern des 21. Jahrhunderts inszenieren, ohne dem Vermarktungsvorwurf ausgesetzt zu sein oder Dinge beschönigen zu wollen, weil man den subjektiven und kollektiven, ja auch institutionellen Verdrängungsmechanismen unterliegt?

Aber der Apell der geistigen Eliten Europas, auch Deutschlands ist in den letzten Wochen und Monaten mehr als deutlich formuliert worden, dass das „ohrenbetäubende Schweigen, das über viel zu viele Jahre das deutsche Narrativ über die koloniale Vergangenheit“ (Zimmerer 2018, Katalog S. 23) beherrscht hat, endlich zu überwinden ist. Angesichts dieses Steinbruchs haben die vier Teamworker – Nicola Brandt, Vitjitua Ndjiharine, Ulrike Peters und Nashilonweshipwe Mushaandja – zusammen mit den begleitenden KuratorInnen – Johanna Wild und Bisrat Negassi – eine beeindruckende Arbeit geleistet; dennoch wird deutlich, wie sehr alle Profis am Anfang stehen, unser koloniales Vermächtnis anzupacken. Die Zeit ist überreif, personell, finanziell und bildungspolitisch in diese Aufgaben zu investieren, anstatt sich in langen Feuilleton-Debatten darüber zu ereifern, wer das richtige Konzept habe.

Das Schweigen brechen – Ansätze der Provenienzforschung

Etwa tausend Fotos aus der deutschen Kolonialzeit in Namibia lagern in den Archiven des Völkerkundemuseums Hamburg, nun seit mehr als 100 Jahren, zumal die Schenkung um 1907 durch weitere Ankäufe bis ins Jahr 2016 ergänzt wurde[2], wohl zu einem Zeitpunkt, als die Relevanz des Themas und ihre Aufbereitung von der alten Direktion noch nicht als relevant erkannt wurde; umso fraglicher, warum in der Ausstellung diese Geschichte durch die neue Leitung kaum reflexiv thematisiert wird: Warum wurde so lange über dieses Archiv geschwiegen, was waren die internen Beweggründe, und warum werden externe ExpertInnen, junge HistorikerInnen und KünstlerInnen aus Namibia und der Diaspora nun damit beauftragt, das Schweigen zu brechen? Für unwissende BesucherInnen gibt es viel zu wenig Einführendes, auch viel zu wenig Hinführung, welchen historischen Zeitraum man politisch und kulturhistorisch zunächst durchschreiten muss, um zu realisieren, was in den vergangenen 100 Jahren im Verhältnis von Deutschland und Namibia alles passiert ist, was sich verändert hat, – auch wenn es inmitten der Ausstellung durch einen schulbuchmäßigen Zeitstrahl angegangen wird. Der zeigt leider nur die post-kolonialen Entwicklungen Namibias auf, kaum die weitere Verflechtungsgeschichte zwischen Deutschland und Namibia, die von zähen Verhandlungen, Stagnationen, aber jüngst auch wichtigen symbolischen Ereignissen und Zugeständnissen gezeichnet ist.

Stattdessen werden wir als BesucherInnen sofort mit den überdimensional vergrößerten Ikono-Katalogkarten konfrontiert, die den kolonialen Blick spiegeln: „Fotografie als Beweismittel“ heißt es im Untertitel, vor allem aber als eine damals noch neue und sich etablierende Technologie der Dokumentation, mit der das „Fremde“ festgehalten, das als „authentisch“ oder „exotisch“ Wahrgenommene transportiert und zuhause als Medium der Erzählung des Erlebten, nicht immer Verarbeiteten fungieren konnte. Zu Zwecken der Inventarisierung im Museum auf der damals noch so typischen Karteikarte mit entsprechenden Daten versehen, von wem es stammte, wo und wann es aufgenommen wurde; selten sind Name und Identität der Abgebildeten genannt, wichtiger waren die Namen des Fotografen und systematische Ordnungsziffern (wie wir sie bis heute bei Inventarisierungssystemen gewohnt sind).

Die Künstlerin Vitjitua Ndjiharine geht hier offensiv mit Techniken der Dekonstruktion vor, um uns heutigen Betrachtern den kolonialen Blick bewusst zu machen: indem sie die Abgebildeten ausschneidet, diese durch Spiegelfolie oder Farbflächen ersetzt, größer projeziert, und Beschreibungs-Details blockt oder streicht. Als Besucher werden wir mit den kolonialen Sehgewohnheiten konfrontiert, realisierend, was in den Fokus gerückt und mit welchen vermutlich rassistischen oder stereotypen Formeln die Anderen beschrieben wurden. Was dabei leider verloren geht, ist die Quantität der Sammlung zu erfassen, die Vielzahl der Bilder, all die, die vom Kuratoren-Team aussortiert wurden. Welche Kriterien waren hier leitend? Welche Gefühle treiben eine junge Frau aus Namibia um, wenn sie heute mit diesen Fotos von vor 100 Jahren umgehen soll, die potenziell ihre Vorfahren abbilden, die zu Opfern imperialer Blickregime und oftmals auch von Waffenregimen geworden sind?

Der Performanz-Künstler Nashilongweshipwe Mushaandja geht noch selektiver vor, indem er nur noch Bilder zeigt, die Überraschendes transportieren, Entdeckungen, die seinem anderen, heutigen Blick gezollt sind: Er spricht von queeren Momenten, Zwangsarbeiterinnen, die nicht in Uniform, sondern in sehr weiblicher und lokalspezifischer Kleidung vor Eisenbahnschwellen abgebildet wurden, und vermutlich mit ihrer Körperkraft elementar zum Bau der kolonialen Eisenbahnlinien in Namibia beigetragen haben. Was bizarr für das heutige Auge wirkt, mag einen Funken Respekt versprühen, dass auch der damalige Fotograf die Ästhetik und Schönheit der akkurat gekleideten Frauen anerkannte?

 width=Abb. 1: Zwangsarbeiterinnen an einer Bahnschwelle © MARKK

Oder Momente des Widerstands auch für ihn spürbar waren, wenn er eine einzelne Frau in ihrer Pause beim genüsslichen Rauchen fotografierte -?

 width=Abb. 2: „Raucherpause“ einer Zwangsarbeiterin © MARKK

Die koloniale Bildsprache wird somit durch die Neukompositionen konsequent gespiegelt, ohne dass die verübte Gewalt nochmals reproduziert oder die Abbildung von Opfern wiederholt wird.

So ist es nur stimmig, dass die Lebenswelt des Kolonialadministrators Alexander von Hirschfeld durch Ulrike Peters, die einzige Historikerin im Team, rekonstruiert wird. Auf Basis eines Fotos über seine „Hütte“, sein Zuhause im kolonialen Feld, wird deren Inventar als ein Diorama nachgebildet. Vor allem Fotografien von weißen Frauen aus der Heimat pinnten an der Wand, neben der gängigen Uniform und Jagdausrüstung, und ausgewählten Alkoholika auf einem kleinen Wandboard. Peters fand zudem Negative, die über Hirschfelds Freizeitleben Auskunft geben, vom Bad in einem nahe gelegenen Wasserfall oder wie er ein Kameljunges fütterte. Die auf den Dokumenten sonst unsichtbare Identität des Fotografen wird auf diese Weise als „weisse Männlichkeit“ im Sinne eines Machtstatus sichtbar, dem koloniale Phantasien erlaubt waren genauso wie Sehnsüchte nach der Heimat. Auch wenn Hirschfeld hier als Subjekt schimmert, betont Peters das Bizarre seiner gegenläufigen Realitäten, „die friedliche Inszenierung eines Soldaten während seiner Beteiligung am Genozid.“ (Katalog S. 55).

 width=Abb. 3: Einblick in die Wohnung eines „Schutztruppen“-Mitglieds (Foto aus der Sammlung Hirschfeld, das U. Peters inspirierte, in der Ausstellung ein „von Hirschfeld-Diorama“ zu konstruieren) © MARKK

Diese Installation hat mich als Ethnologin besonders angesprochen, weil die Legende über die „Hütte“ von feldforschenden Ethnologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts genau jenen Raum in der Fremde repräsentierte, der als legitimer Rückzugsort galt – die kritische Reflektion dessen, wofür diese „Hütte-n“ u.a. zum Ausgangspunkt wurden, setzte erst sehr viel später ein, z.B. im Rahmen der Writing Culture Debatte. Solche subtilen kollaborativen Verstrickungen zwischen den diversen Wissenschaften und dem „kolonialen Projekt“ werden durch weitere Details aus Peters Recherchen unterfüttert, dass z.B. der Handel von Funden menschlicher Überreste aus Afrika für wissenschaftliche Zwecke, wie wir heute wissen, für eugenische Forschungen in Europa durchaus üblich war, wie aus Korrespondenzen zwischen dem Hamburger Arzt Focke, der in der damaligen deutschen Kolonie „Süd-West“ reiste, und dem Museumsdirektor am Rothenbaum um 1907/08 hervorgeht.

Wie kommunizieren wir: multimedial und sensitiv

In einer zentralen Installation in der Mitte des Raumes wird vermutlich bewusst das Medium gewechselt: in einem eher nüchtern, einsehbaren Pavillon werden Licht und Sounds kombiniert, um die Sinne anders zu lenken, weg vom Visuellen hin zum Horchen an zwei schlichten Kopfhörern, die zum hinhocken einladen. Relativ knappe und klein gedruckte Texttafeln zum Künstler Mushaandja verweisen auf sein Schaffen als Musiker zwischen traditionellem Liedgut „verspielter Jugendkultur bei den Herero“ und seinem Interesse an zeitgenössischen Widerstandsformen in Katutura, der eigentlichen Hauptstadt Namibias, dem heute größten Township von Windhoek. Die Geräusche einer Dampflok, als audio-sinnliche Metapher der kolonialen Landnahme durch technisierte Infrastruktur ist noch am ehesten selbsterklärend, während die eingespielten Songs, überwiegend in Lokalsprachen und ohne englische Übersetzung der Strophen, jeglicher Kontextualisierung entbehren. Fragmente wie „There is Fire in Katutura“ oder “Rain in the City“ hinterlassen bei unwissenden Zuhörern zwar spontane Assoziationen, aber kaum profundes Wissen über die realen, postkolonialen Lebenswelten von Jugendlichen in Katutura, wenn sie nicht mit weiteren KonTexten vermittelt werden – leider verschenktes Potenzial gerade im Hinblick auf ein jüngeres Publikum, was über Medien der Popkultur erreicht werden könnte? Aber ein sensitives „Archiving with the Body“, wie der Künstler es an anderer Stelle postulierte[3], muss eben erst gelernt werden in europäischen Gesellschaften, die lange Zeit vom Logozentrismus dominiert waren und aktuell von der Ikonostase der Neuen Medien erfasst sind.

Ein weiteres Audio-Element versucht die Dezentrierung von Aufmerksamkeit: eine Art Mantra, geheimnisvoll gesprochen durch eine Frauenstimme, das in einer Endlosschleife abgespielt wird: „The master`s tools will never dismantle the master`s house“. Nach genauem Hinhören, während ich die verschiedenen Abteilungen der Ausstellung durchquerte, war ich mir schließlich sicher, dass es sich um diesen Satz handelte, so dass ich nach Autorinschaft und Quelle im Internet suchen konnte: ein Zitat von Audre Lorde[4]. Einen Kommentar dazu fand ich in der Ausstellung nirgends, weder an den Wänden noch im Katalog, der am Büchertisch auslag oder an der Kasse für 4 Euro zu erwerben ist.[5] Wie so oft in postkolonialen Debatten hierzulande, wird zu viel akademische Vorbildung vorausgesetzt, als ob man solch ein Zitat sofort einer schwarzen Feministin zuordnen und als herrschaftskritische, in diesem Fall auch selbstkritische Geste verstehen können muss? Denn wie im Gespräch mit dem KuratorInnen-Team deutlich wurde, entstand diese Idee, um die eigenen Widersprüche und Begrenztheiten der aktuellen Herkunftsforschung zu thematisieren: Mit heutigen Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften wird versucht, die dokumentarischen und archivarischen Schieflagen vergangener Zeiten zu rekonstruieren, aber auch hier nicht ohne Widerstände der dominanten Institutionen, durch nach wie vor eingeschränkte Zugänge zu den Archiven oder in Verhandlungen darüber, ob Objekte in Vitrinen oder ohne gezeigt werden dürfen.

So erklärt sich nach erster Irritation auch, dass die künstlerisch gefertigten Bronzemasken des togolesischen-nigerianischen Künstlers Ali Amonikoyi von höchst symbolischen Stellenwert für die nun rekonstruierte Sammlung sind, weil sie durch die kolonialen und wissenschaftlichen Netzwerke jener Zeit als „Kulturgüter“ erworben und entsprechend deklariert wurden und ins Archiv des Völkerkundemuseum wanderten, statt sie als afrikanische Kunst anzuerkennen und entsprechend in Kunstmuseen oder Galerien der damaligen Zeit zu präsentieren. Und auch im jetzigen Design beharrte das MARKK darauf, die Masken in den eigenen Vitrinen zu zeigen, statt sie etwa an die Kunst-Galerie M.Bassy auszuleihen. Diese ist zum zweiten Ort der Ausstellung geworden, weil die beteiligten KünstlerInnen in mancher Hinsicht keinen Commonsense erzielen konnten, ihre Inszenierungen innerhalb der dominanten Institutionen der Wissensproduktion, hier Universität und Museum, zu zeigen.

Von WO sprechen wir? Ortswechsel!

Deshalb wurde der Schritt unternommen, eine weitere Location, quasi einen „third space“ nach Homi Bhabha, einzurichten, um spezifische Positionen der KünstlerInnen in Auseinandersetzung mit dem Genozid in Namibia präsentieren zu können: die Kunst-Galerie M.Bassy, die sich auf afrikanische Kunstproduktionen inner- und außerhalb des Kontinents spezialisiert und in unmittelbarer Reichweite des MARKK, in der Schlüterstrasse 80, zu finden ist. Diese Suche nach einer räumlichen Alternative wurde im Prozess des Kuratierens notwendig, um die Erfahrung von Vielstimmigkeit innerhalb eines Teams, die in Dissens und Sprachlosigkeit münden kann, wieder produktiv zu wenden. Ein imaginiertes „wir“ im Sinne einer Positionierung des Sprechens muss selbst in der kleinsten Gruppe immer wieder ausgehandelt werden, um aus polaren Zuweisungen von „ihr“ versus „wir“ auszusteigen. Das Angebot der Organisatoren von M.Bassy, nicht nur Platz für Arbeiten der beteiligten KünstlerInnen zu bieten, sondern auch Raum für Gespräche unter den Ausstellungsmachern sowie fortgesetzt für ein interessiertes Publikum, erweist sich als besonderer Clou von Ovozire – Somgu: Nicht an jedem Ort lässt sich gleich sprechen oder inszenieren, sondern manchmal muss gewohntes Terrain verlassen werden, um neue Wege gehen oder um schlicht eine Außenperspektive einnehmen zu können. Die Institutionen werden so herausgefordert, ihre bisherigen Monopole der Repräsentation zu relativieren genauso wie die Besucher zum Wandern zwischen zwei Schauplätzen motiviert werden und beim Luftschnappen vielleicht manches sacken lassen. Hier ist nur zu bedauern, dass diese Multilokalität bislang nicht offensiv ausgeschildert und beworben wurde, sondern nur einer kleingedruckten Texttafel zu entnehmen ist (wohl aber der website). „Collaboration is an opportunity to fail in the most splendid way“, zitiert die Kuratorin vom MARKK, Johanna Wild, den postkolonialen Ausstellungsexperten Ivan Karp (2015; Katalog 2018, S. 8) – meint sie damit das Scheitern an einem kohärenten Konzept? Denn in mancher Hinsicht ging mit Ovozire – Somgu die neue Vision von MARKK erstmal nicht auf, Kulturen und Künste der Welt zeigen zu wollen, wenn die eingeladenen KünstlerInnen aus Namibia sich lieber einen unabhängigen Space, das M.Bassy für ihre Werke suchen. Vermutlich ist es in der internationalen Kunst-Szene auch renommierter, eine Galerie denn ein Ex-Völkerkunde-Museum zu bespielen:

So hängen die viel farbenfroheren Collagen von Vitjitua Ndjiharine in einer gut bürgerlichen, aber leer geräumten und shabby-renovierten Altbauwohnung des Hamburger Grindelviertels, die sie, inspiriert durch die Ausschneidungen von den Iconocards, zu visionären Portraits potenzieller Vorfahren der Herero, Nama und anderer „Schwestern“ aus Namibia umgearbeitet hat.

 width=Abb. 4: Vitjitua Ndjiharine bei der Arbeit © MARKK, Paul Schimweg

 width=Abb. 5: Collagen von Vitjitua Ndjiharine © MARKK, Paul Schimweg

Ebenfalls hier findet sich die großformatige Videoinstallation von Nicola Brandt, die die Metapher von „landscape-s“ nutzt, um durch konkrete Szenerien in Namibia zu verdeutlichen, welche Orte, Landstriche und Denkmäler von traumatischen Erfahrungen durchdrungen sind, und wie diese Landschaften (die Wüsten, die Küsten) oftmals unwissend zu touristischen Attraktionen Namibias avanciert sind. Die Filmemacherin dokumentiert ihren Dialog mit einer aktiven Herero, wodurch die Problemlagen lokaler Erinnerungspolitik durch spezifische Bevölkerungsgruppen sprechen, die um angemessene Repräsentation auf nationaler wie internationaler Ebene ringen.

Das Herzstück im M.Bassy bildet interessanterweise eine gedeckte Tafel, an der diverse Gäste geladen werden um Tee zu trinken und zu reden – oder auch zu beten, zusammen mit dem Ritualexperten Mushaandja, der uns das Fotografieren für eine halbe Stunde verbot, um „archiving with the body“ (s.o. Fußnote 3) zu demonstrieren, wie er es aus seiner Herkunftskultur kennt: stille werden, dem Performer zuhören, poetische Sätze inhalieren, ohne verbale Kommentierung oder materialisierte Dokumentation. Das war schlicht und ergreifend, wohl auch weil das anschließende Gespräch zwischen BesucherInnen und anwesenden KünstlerInnen um so offener und detailreicher wurde.

Wie präsentieren wir?

Diese Veranstaltung im M.Bassy hat bestätigt, was viele Ausstellungsmacher immer mehr beherzigen: künstlerisch-ästhetische Installationen können Anlass bieten, Menschen zu bestimmten Themen ins Gespräch zu ziehen. Eine rein visuelle oder objektzentrierte Wissensvermittlung hat ausgedient, sondern es geht um die interaktive Inszenierung und Aneignung, ja auch Aushandlung von Wissen, sicht- und nachvollziehbar aus verschiedenen Perspektiven. Sich um Objekte versammeln, sie auf sich wirken lassen, dann angeleitet oder frei assoziierend sich darüber auszutauschen – darin besteht ein großes Potenzial von bewahrten Dingen, die zum Erzählen ihrer Geschichte-n gebracht werden können.

Gerade in dieser Zielrichtung ist verwunderlich, dass das Begleitprogramm von Ovizire – Somgu im MARKK eher mager ausfällt: Wo sind die Angebote für Schulklassen, die über deutschen Kolonialismus und den Genozid in Namibia auf aktuellem Wissensstand informieren, wo die Angebote für die ältere Generation von Deutschen, die zum Teil noch aus eigener Erinnerung erzählen könnten? Welche beteiligten WissenschaftlerInnen halten Vorträge über post-koloniale Herkunftsforschung, damit der Otto-Normalbesucher überhaupt versteht, was da gerade an Umbrüchen im ehemaligen Völkerkundemuseum vor sich geht, und über welche Methoden oder Erkenntnishorizonte diskutiert wird?

Warum wurden die Stipendien für die Artists in residence nicht verlängert, damit die KünstlerInnen während der Laufzeit vor Ort sein und über ihre Erfahrungen der Archivarbeit erzählen können, so wie es durch die Events in M.Bassy exemplarisch initiiert wurde?

Allein durch die Ausstellung zu wandern reicht nicht, vieles ist nicht selbst erklärend, sondern bedarf der in situ Kommentierung, nicht nur durch Texttafeln oder Multimedia-Animation, sondern durch engagierte ÜbersetzerInnen im weiteren Sinne, die die akademischen Diskurse alltagssprachlich und lebhaft an eine breite Öffentlichkeit vermitteln sollten.

Wo viel Schatten, da ist auch Licht?!

Die langen Schatten der kollektiven Amnesie sind spürbar, aber sie würden nicht ohne Lichtquellen entstehen: jeder Versuch der heutigen Durchleuchtung ist ein wichtiger Schritt zur Spurensuche im Prozess der vorangegangenen Verdrängung von aufrichtiger Erinnerung, jede Annäherung, Licht ins Dunkel des deutschen Kolonialismus zu bringen, angemessen. Es gibt nicht den optimalen Zugang, sondern es geht nur durch vorsichtiges Vorwärtstasten und durch kuratorische Experimente. Das macht das jüngste Projekt im MARKK und M.Bassy allzu deutlich. Genau deshalb ist es so wichtig, diese Ausstellungen vor Ort auf sich wirken zu lassen und darüber ins Gespräch zu kommen:

Ovizire – Somgu: From Where Do We Speak? Von Woher sprechen wir?

Bis zum 12.4. 2019 im MARKK, Rothenbaumchaussee 64, und

NUR bis zum 27.1. 2019 im M.Bassy. Schlüterstrasse 80; Eintritt 8 Euro.

Katalog „Ovizire – Somgu: From Where Do We Speak? Von Woher sprechen wir?“ im Eigenverlag des MARKK, 2018; 4 Euro.

Cordula Weißköppel lehrt als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen. Nach ihrer Promotion zu multikulturellen Schulklassen in Deutschland (Juventa 2001) und ihrer Habilitation zu transnationalen Netzwerken von SudanesInnen (2010) forschte sie zum orthodoxen Christentum in Ägypten, insbesondere seit den politischen Umbrüchen in 2011. Sie publizierte zur Ethnologie der Globalisierung (2005, zusammen mit Roman Loimeier und Dieter Neubert) sowie zum Verhältnis von Religion und Migration (2008, zusammen mit Andrea Lauser), jüngst über „Trauern um Terroropfer“ (in Martin Tamcke (Hg.) 2016, sowie in „Transnational Death“ (Samira Samaro et al. 2018). Aktuell arbeitet sie am Transfer von Erkenntnissen aus Ethnologie & Kulturwissenschaft in relevante Praxisfelder: z.B. Diversity-Beratung in staatlichen Organisationen, Weiterbildung für Ehrenamtliche in der Arbeit mit Geflüchteten, Anbahnung von Curriculums-Reformen zur Kolonial- und Einwanderungsgeschichte im deutschen Bildungswesen.

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[1] Ein kollektives „wir“ zu bestimmen, ist bekanntlich sehr umstritten, bezieht es sich hier auf die provokative Titelfrage der Ausstellung „Von woher sprechen wir“ um gewohnte Definitionsmonopole oder Repräsentationsstrategien bewusst zu machen und zu dezentrieren. In diesem ersten Absatz beziehe ich das „wir“ bewusst auf meine Profession, Kolleginnen und Kollegen der Ethnologie. In den folgenden Abschnitten geht es dann mehr um das „wir“ der KuratorInnen.

[2] Der Fotobestand aus der deutschen Kolonialzeit in Namibia ist zum Großteil von Alexander von Hirschfeld produziert worden (seine Sammlung umfasst 600 der bisher erfassten 1000 Aufnahmen), aber er beinhaltet auch Bilder von anderen Sammlern und Fotografen, die in der Ausstellung noch nicht konkret bearbeitet wurden.

[3] So bei seiner Performance im M.Bassy am 9.1.2018; ähnlich äußerte sich Mushaandja bei der Roundtable-Discussion, die wir mit dem gesamten Künstlerteam am 11.12.2018 am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen ausrichteten; s.a. N. Mushaandja 2018: When applied Theatre is no rehearsal for the revolution. In: S. Krishnamurthy/ H. Vale (eds. 2018): Writing Namibia. Literature in transition. Windhoek: UNAM Press, pp. 183-203.

[4] In: Audre Lorde 2007: Sister Outsider. Essays and Speeches. Berkeley: Crossing Press.

[5] MARKK ed. 2018: Ovizire – Somgu: From Where Do We Speak? Von woher sprechen wir? Katalog zur Ausstellung. Eigenverlag Museum am Rothenbaum (MARKK).