27/07/21

Maschine mit menschlichem Motiv? Welchen Beitrag leisten digitale Strategien zur Dekolonisierung des Museums und Anerkennung ihrer globalen Verflochtenheit?

A Report about Conceiving a Web Portal on Decolonisation, Restitution, and Repatriation within the State Ethnographic Collections of Saxony (SES)

Dekolonisierung als den komplexen Prozess wahrzunehmen, der er ist, bedeutet auch, keine generelle Strategie suchen zu wollen, keine lineare Problemlösung anzustreben. Aus Sicht der Museen werden Dekolonisierungsprozesse zunehmend so wahrgenommen, dass es nunmehr gilt, in den vielfältigen Ansätzen der unterschiedlich motivierten Akteur*innen einen konstruktiven und nachhaltigen Anfangspunkt zu finden, um das Thema einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Idee zur Entstehung der neuen Plattform zu Dekolonisierung, Restitution und Repatriierung auf den Seiten der Sächsischen Ethnografischen Sammlungen (SES)[1] folgt dieser Orientierung. Wir, die Kurator*innen des neuen Webportals der SES, konzentrieren uns dabei auf die digitale Vermittlungsarbeit und Sichtbarmachung der internen Entwicklungen als einen von vielen Ansatzpunkten. Sie ist ein zentraler Bestandteil im Restitutions-/Repatriierungsprozess, denn sie kann das wichtige Vorhaben, Restitution und den mit ihr verbundenen Wandel bestehender, eurozentrischer und demzufolge stark asymmetrischer mentaler Infrastrukturen, jedoch lediglich unterstützen, wenngleich auch katalysieren.

Analog zur Gewalt des Kolonialismus betrachten wir, die digitalen Kurator*innen, Dekolonisierung im Rahmen des Projekts als einen gewaltsamen Prozess, der ohne die Reibungen einer öffentlichen Debatte, im Zuge derer Machtstrukturen und die Westlichen Rahmenbedingungen globaler Ungleichheit reflektiert und hinterfragt werden, nicht auskommt. Auch wenn wir als Museumspersonal nicht unmittelbar dafür verantwortlich sind, dass sich beispielsweise Vorfahren/ancestral remains im Museum befinden, so gehört es doch zu unserer Aufgabe, unserer ethischen und zwischenmenschlichen Verantwortung nachzukommen, einen menschenwürdigen Umgang mit den deutlichen Spuren vergangenen Unrechts zu finden und durch Reflexion unseres Arbeitsumfelds fortlaufende Machtstrukturen zu unterbrechen. Keinesfalls kann digitale Kommunikation dabei die (zwar strukturell eingeschränkten) Möglichkeiten der Restitution ersetzen. Doch kann sie ein erstes, sehr hilfreiches Werkzeug sein, unterschiedlichen Perspektiven auf museale Objektivierung Raum zu geben, indem sie die Debatte öffentlicher macht und Diskussionsschauplätze außerhalb der Wände des Museums schafft. Bei einem tendenziell alternden, weißen, bildungsbürgerlichen „klassischen“ Museumspublikum erweitern digitale Räume die Möglichkeiten, auch andere Gruppen und Personen zu erreichen und Zugänge zu demokratisieren.

Die Webseite gibt einen Überblick über aktuelle und vergangene Bemühungen der Museen, transparenter mit den Sammlungsbeständen und ihren Hintergründen umzugehen. Bild: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Redaktion: Jan Heidtmann und Miriam Hamburger.

Konkret sehen wir im Konzept der Plattform zweierlei Chance, die digitale Vermittlung im Sinne dieses Ziels (und Wunsches) zu nutzen. Einerseits kann sie eine breitere und über demografische, geografische und disziplinäre Grenzen hinausgehende Aufmerksamkeit und Beteiligung anregen. Darüber hinaus kann sie ein Bewusstsein dafür schaffen, welch unumgängliche Rolle die Transparenz jeweiliger Interessen zwischen den Nachkommen/descendants und den Museen für das Gelingen von Restitutionsprozessen und, insbesondere, von neuen Kollaborationsformen hat. Die digitale Plattform strebt an, Grundbegriffe der Debatte für fachfremdes Publikum zu kontextualisieren und eine Basis für die Diskussion zu bilden. Das erste Ziel der Plattform ist es demnach, zu informieren.

Auf der anderen Seite sehen wir die Notwendigkeit, direktere Wege der Kommunikation zwischen Museumsbesucher*innen, Aktivist*innen, Forscher*innen und in Restitutionsprozesse involvierte Kolleg*innen zu schaffen, um Hürden der öffentlichen Partizipation in und an Museen abzubauen. Dies kann dort geschehen, wo aktiv in der breiten Öffentlichkeit dazu angeregt wird, sich einzubringen und mitzugestalten. Als digitales Medium nehmen wir diese Plattform – oder auch weitere dezentralisierende Projekte ähnlicher Art – als partizipative Kanäle wahr. Das zweite Ziel der Plattform ist neben der Information also die Aktivierung (von Teilen) der (lokalen) Öffentlichkeit, sich mit den Zielen und Hintergründen von Restitution auseinanderzusetzen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Beantwortung von allgemeinen Fragen, die in der öffentlichen Debatte zu Repatriierung oft im Fokus stehen. Bild: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Redaktion: Jan Heidtmann und Miriam Hamburger.

In der ersten Projektphase haben wir uns bislang darauf konzentriert, im Rahmen des ersten Ziels über interne Prozesse zu informieren. Dazu gehört neben der grundlegenden Klärung fachspezifischen Vokabulars auch, den Ablauf von Restitutionsanfragen zu erklären, kurz: eine Einführung in das Thema zu geben. Dieser Schritt trägt dazu bei, einen offeneren Austauschort zu schaffen, der institutionelle Strukturen nicht verschweigt, sondern versucht, sie begreifbar und transparenter zu machen. Der Abschnitt „Aktuelle Projekte“ soll ferner die Möglichkeit geben, sich über einzelne konkrete Restitutionsprojekte der SES zu informieren. Die Darstellung dieser Projekte befindet sich in stetigem Wandel, da sie explizit offen für die Anmerkungen und Änderungswünsche der kollaborierenden Nachkommen/descendents und Projektpartner*innen ist.

In der zweiten, noch nicht abgeschlossenen Projektphase soll die Webseite neben ihrer Funktion als Informationsquelle um einen interaktiven, vermittelnden Teil ergänzt werden. Hier sieht das Konzept des Internetportals in unserem Fall ebenfalls eindeutig vor, für jene imperiale Vergangenheit und koloniale Gegenwart zu sensibilisieren, deren konkrete Auswirkungen auf unser aktuelles Leben in vielen Fällen so deutlich sichtbar werden: struktureller Rassismus, neokoloniale Wirtschaftsbeziehungen oder Ausbeutung von Rohstoffen zugunsten materiellen Reichtums der Industrienationen. Dabei spielen die Perspektiven der Nachkommenden/descendants auf die Zusammenarbeit mit den Sächsischen Ethnographischen Sammlungen (SES) eine wichtige Rolle: Sie erweitern ein eurozentristisch geprägtes Verständnis von dem weitaus mehr als musealen Wert der Museumsstücke und ebnen den Weg für tiefergehenden Respekt voreinander. (Vertreter*innen der) Gemeinschaften sollen schlicht nicht mehr als “Requisiten“[2] der Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit wahrgenommen werden. Die teilweise Verlagerung in den digitalen Raum, so das Ziel, soll darüber hinaus nicht lediglich Ausdruck einer breiteren Digitalisierungswelle sein, sondern explizit ein partizipatives Element in der lokalen Debatte um Restitution, Repatriierung und Dekolonisierung ausbilden. So kann prinzipiell auch jene Autorität geteilt werden, die wir als Websitekurator*innen und Repräsentant*innen des Museums haben. Das Ziel ist es, mittelfristig einen konkreten, digitalen Austauschort für alle Leipziger*innen, internationale Kolleg*innen und Nachkommenden/descendants, Museumspersonal, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zu schaffen. Auf welche Weise dieser Raum genutzt werden wird und inwiefern er sich auf den Öffnungsprozess der Museen der SES auswirkt, werden die kommenden Monate und Jahren zeigen müssen. Wir hoffen, dass auch andere ethnografische Sammlungen und Museen sich dazu anregen lassen, ihre digitalen Angebote konkret im Sinne einer dezentralisierten Öffnung auszubauen.

Das Webportal erklärt, warum der rechtliche Besitz von Objekten aus aller Welt womöglich auch ethische Probleme mit sich bringt. Gezielte Verlinkungen zur Online Collection vermitteln einen Eindruck davon, um welche Art von Objekten es geht. Bild: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Redaktion: Jan Heidtmann und Miriam Hamburger.

Digitale Vermittlungsorte bieten – unabhängig von den in ihnen wirkenden Hierarchien und ganz eigenen kommunikativen Hürden – einen sich von einem Museum und seinen Partizipationsformaten unterscheidenden Raum, in dem wir, die Kurator*innen der Webseite, eine Chance für institutionelle Öffnungsprozesse sehen. Zwar wäre weiterhin zu überlegen, wie die Strukturen und Machtgefälle kultureller Institutionen in die von ihnen moderierten digitalen Räume hineinwirken – denn schließlich ist die Plattform an die SES angebunden. Dafür sollte die Moderation dieser Räume dem Interesse an Öffnung folgen: Sie soll dabei unterstützen, stetig mehr Perspektiven auf die Institution, Ideen zu ihrer Veränderung, kritische Sichtweisen und geschichtliche Reflexion, ebenso wie interne Ansichten zugänglich zu machen und zuzulassen. Für das Ziel der Dezentrierung der Museen können wir uns digitale Werkzeuge und Strategien zu Nutze machen.

 

Jan Heidtmann (M.A.) hat Anglistik und Transkulturelle Studien in Leipzig und Bremen studiert. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit kolonialen Kontinuitäten und ihrer Vermittlung sowie kritischen Diversitätsansätzen.  Als freiberuflicher Mitarbeiter betreut er die Webseiten der Ethnografischen Museen in Leipzig, Dresden und Herrnhut und ist mitverantwortlich für das Portal „Dekolonisierung, Restitution und Repatriierung“.


Fußnoten

[1]Die SES, die Sächsischen Ethnographischen Sammlungen, umfassen drei ethnographische Museen in Sachsen innerhalb des landesweiten Museumsverbundes Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD). Zu ihnen zählen das Museum für Völkerkunde zu Dresden, das GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig und das Völkerkundemuseum Herrnhut.

[2]Elizabeth Bazan, Samuel W. Black, Nike Thurn & Frank Usbeck (2021): Repatriation, Public Programming, and the DEAI Toolkit, Journal of Museum Education, 46:1, 6.


Anmerkungen

Das neue Webportal der SES ist unter folgendem Link erreichbar: https://grassi-voelkerkunde.skd.museum//index.php?id=2179

Es existiert eine verkürzte englische Fassung dieses Beitrags. Dazu einfach auf dieser Seite oben rechts auf EN klicken.