Umwelt, Handlungsoptionen und Differenz
Überlegungen zu sozial- und kulturanthropologischer Forschung zwischen lokalen Praktiken und globalen Phänomenen
Einleitung
Weitgreifende Umweltveränderungen durch Klimawandel und Artensterben gefährden globales Überleben und Sicherheit. Entsprechend müssen sich Menschen weltweit damit auseinandersetzen, wie lokale/globale (Um)welten für die Zukunft gestaltet werden können. Diese Veränderungen und Dynamiken können verbinden, stellen Akteur:innen unterschiedlicher Lokalitäten gleichzeitig aber in neue Spannungsverhältnisse zueinander. Dies geschieht beispielsweise durch Rahmenrichtlinien zu Umweltschutz und Maßnahmen zu Klimawandelanpassungen, die Handlungsoptionen vorgeben und regulieren, aber vor allem auch im Kontext der Aushandlungsprozesse von Praktiken des Alltags, bei denen verschiedene Expertisen und Wissensbestände aufeinandertreffen. Maßnahmen, die in situiert entwickelt werden und als lokale Antwort auf globale Umweltherausforderungen intendiert sind, eint, dass in ihrer Konzeptualisierung und Durchführung Wissen unterschiedlicher Herkunft aufeinandertrifft und dass Umweltherausforderungen kosmopolitisch werden (vgl. Hulme 2010).
Dabei spielen verschiedene Interessen sowie epistemologische und ontologische Differenzen eine Rolle (vgl. Blaser und de La Cadena 2018). Sichtbar wird dies z.B. in Klimawandelanpassungs- oder Naturschutzprojekten, bei denen basierend auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen das Überleben und Wohlergehen im Kontext anthropogenen Klimawandels sichergestellt werden soll. Der Rückgriff auf verschiedene Wissensformen und -bestände kann zu Konflikten zwischen beteiligten Akteur:innen führen, aber auch konstruktive Prozesse der Wissensgenerierung stimulieren (Pascht 2019).
In unseren jeweiligen Forschungskontexten, die drei Kontinente miteinander verbinden und in denen verschiedene vernetzteUmweltherausforderungen thematisiert werden, fragen wir: Wie generieren Akteur:innen im Zusammenhang mit lokalen Prozessen von Austausch, Übersetzung und Aushandlung Wissen und Praktiken? Ausschnitte aus unserer jeweiligen Forschung zeigen, dass unterschiedliche Akteur:innen mit sowohl zunehmend fortschreitenden Umweltveränderungen, als auch mit neuen Wissenskontexten und Konstellationen interagieren müssen. Arno betrachtet die Gestaltung von Wissen und Praxis im Zusammenhang mit Klimawandel und Klimawandelanpassungsprojekten in Vanuatu, Desirée trifft verschiedene Expert:innen der Modellierung einer Wasserlandschaft entlang der Spree in Deutschland und Laura setzt sich mit Aushandlungsprozessen zu Landschaftsgestaltung in der Interaktion mit Algen am Strand von Yucatán in Mexiko auseinander. Unser Ziel ist es, im Zuge dieser globalen Verbindungen (Tsing 2005) mit unseren Forschungen nicht nur einen Beitrag zum besseren Verständnis dieser Dynamiken beizutragen, sondern auch zu reflektieren, welche Rolle sozial- und kulturanthropologische Forschung in einer von anthropogenen Umweltveränderungen geprägten Welt spielt.
Wissen um Landwirtschaft in Vanuatu
Seit mehr als einem Jahrzehnt ist der Klimawandel eines der wichtigsten Themen des politischen Diskurses in Vanuatu, einem Inselstaat im Südpazifik. Die Regierung von Vanuatu unternimmt in diesem Zusammenhang vielfältige Anstrengungen, die den Menschen eine Anpassung an die negativen Auswirkungen des Klimawandels ermöglichen soll. Projekte zur Anpassung an den Klimawandel werden meist von internationalen Entwicklungsorganisationen durchgeführt und sind zu wichtigen Schnittpunkten geworden, an denen unterschiedliche Wissenssysteme und Annahmen über die Welt zusammentreffen. Da der Anbau von Nahrungspflanzen eine zentrale Rolle für die (Selbst-)Versorgung der Einwohner:innen Vanuatus darstellt, fanden zahlreiche Projekte zu diesem Bereich statt.
In solchen Klimawandelanpassungsprojekten werden Wissensbestände und Praktiken vermittelt, die eine Veränderung der lokalen Anbaupraktiken zur Folge haben sollen, um sie an gegenwärtige und prognostizierte Herausforderungen durch den Klimawandel anzupassen. Eine solche während der Projekte (und in anderen Zusammenhängen) propagierte Veränderung ist beispielsweise die Abkehr vom Brandrodungsfeldbau hin zu einem Anbau ohne die Verwendung von Feuer, die ohne einen Wechsel der Anbauflächen auskommt. Wie Arno bei seiner Forschung feststellen konnte, setzten die Teilnehmer:innen an den Projekten diese Veränderung jedoch nicht um. Als ich mit Mitarbeiter:innen einer NGO und des nationalen Landwirtschaftsministeriums darüber sprach, zeigten sie sich irritiert darüber. Für sie bedeutet Brandrodung eine „Umweltzerstörung“, die hinsichtlich des Klimawandels große Nachteile hat, und sie erklärten mir, dass sie nicht verstehen, weshalb die Menschen an dieser Praxis festhielten. Meine lokalen Forschungspartner:innen erklärten mir hingegen, dass Brandrodung keine Umweltzerstörung sei, sondern eine Praxis, die die Umwelt nicht schädigt, sondern als notwendig angesehen wird, da es zu den Aufgaben von Menschen dazugehört. Weiterhin erklärten mir die Bewohner:innen eines Dorfes, dass sie diese Methode der Brandrodung zwar in der küstennahen Region anwenden, in der sie gegenwärtig ihre Gärten anlegen, dass es jedoch an anderen Orten im Landesinneren nicht notwendig wäre, sie zu benutzen. Statt der wesentlichen Veränderung landwirtschaftlicher Methoden zur Sicherung des Lebensunterhalts kann man in Vanuatu den Trend zu einer Diversifizierung der Tätigkeiten feststellen: Die Dorfbewohner:innen wendeten sich verschiedenen anderen Möglichkeiten zu – von Lohnarbeit bis zu selbständigen Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich – und kombinierten diese mit dem Anbau von Nahrungspflanzen.
Für die Welt von Menschen in Vanuatu und damit für ihr Alltagswissen und -handeln spielen im Unterschied zu dem in Anpassungsprojekten vermittelten Wissen häufig Beziehungen, die keine scharfe Abgrenzung von Umwelt und Sozialität enthalten, eine zentrale Rolle. Dies ist ein Charakteristikum, das für die Region Ozeanien bereits häufig beschrieben wurde. Im Zusammenhang damit steht die zentrale Bedeutung von Relationalität für die Lebenswelten der Menschen in Melanesien (Strathern 1988). Das bedeutet, dass Menschen nicht durch ihre Eigenschaften charakterisiert sind, sondern durch die Beziehungen, die sie mit anderen Menschen haben. Dies gilt aber nicht nur für Menschen und Beziehungen zwischen Menschen, sondern beispielsweise auch für Tiere, Pflanzen, Orte, Geister, Gottheiten und materialisierte Ahnen. Austausch und Reziprozität sind dabei grundlegend für Sozialität und Umwelt (Emde, Dürr und Schorch 2020, 7). In diesem Netzwerk von Beziehungen und Gegenseitigkeit haben auch Menschen, Tiere und Pflanzen ihre Aufgaben oder Arbeit und es existiert für alles auch ein (geeigneter, passender) Ort („ples“). Dass es für alles einen richtigen Ort gibt, hat wichtige Konsequenzen. Meine Forschungspartner:innen pflanzten verschiedene Arten und Sorten im selben Garten an, während sie gleichzeitig Gärten an verschiedenen Standorten unterhalten. Sie wissen um die Bodenverhältnisse an diesen Orten, insbesondere um die (potenzielle) Feuchtigkeit des Bodens. Und sie wissen auch, an welchen Orten Brandrodung verwendet werden muss und an welchen nicht.
In diesem Beispiel trafen bei der Zusammenarbeit verschiedener Akteur:innen also ganz unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte aufeinander, die aufgrund unterschiedlicher Wissensbestände, verschiedenen Intentionen und ontologischer Differenzen zu Reibungen, aber auch zu neuen (unerwarteten) Entwicklungen führten.
Wissen um Wasser in Deutschland
Das Zusammenarbeiten unterschiedlichster Akteur:innen im Kontext von Klimawandel in Deutschland stellt die Frage nach Entscheidungsprozessen und Bewertung unterschiedlichen Expter:innenwissens ins Zentrum. Der Nordosten von Deutschland ist für die zahlreichen Seen und Flussläufe bekannt und durch die Flutung von ehemaligen Braunkohlegruben sollen noch weitere Gewässer hinzukommen. Jedoch erregt die Region zwischen Lausitz und Berlin derzeit die meiste mediale Aufmerksamkeit durch die jahrelange Trockenheit und die immer stärker diskutierten Auswirkungen für die Wasserlandschaft. Die Spree wird dabei zur fluiden Verbindung zwischen den Orten des Braunkohleabbaus und der wachsenden Metropolregion Berlin. Steigende Temperaturen und ausbleibender Niederschlag lassen Diskussionen um das Wasservorkommen der Spree von Politik und Wissenschaft auch im Alltag der Menschen entlang des Flusses ankommen und stellen Beziehungen zwischen Wasser und Mensch in den Mittelpunkt des Geschehens. Das „Weniger“ an Wasser wird zentral in wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um Gewässer – und es bringt eine Diskussion zu zunehmend umstrittenem Wissen über „modernes“ Wasser als ausschließlich nutzbare Ressource zutage (Linton und Budds 2014).
Ins Diskussionsgemenge zwischen von Ingeneur:innen und Naturwissenschaftler:innen geleiteten Studien zu Wasserüberleitungen, Wasserrückhalt und Wasserversorgung mischen sich lokale Stimmen aus dem Flussdelta des Spreewaldes. Diese Natur/Kulturlandschaft des Spreewaldes (Rössig 2015) verortet sich geographisch und thematisch zwischen Wasser für Grubenseen und Wasser für die Stadt Berlin – was durch den Spreewald fließt, soll in Berlin ankommen. Das Wassernetz des Spreewaldes wurde über das letzte Jahrhundert durch eine Zusammenarbeit von Menschen und Fluss geschaffen, erarbeitet durch die Anlegung von Wasserläufen, Kanälen, Drainagesystemen, Wehren und Schleusen. „Der Spreewald ist nicht ohne den Menschen denkbar“ ist die gängige Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Region. Das Zusammenarbeiten mit der Umwelt ist hier über Generationen weitergegeben worden.
Nun erzeugen überregionale Interessen an Wasser mit Plänen der Wasserregulierung in Kombination mit steigenden Temperaturen und ausbleibendem Niederschlag zunehmend Unsicherheit vor Ort. „Das hier ist kein Naturwunder, das ist harte Arbeit. Das muss erhalten werden”. Eine ältere Spreewälderin sitzt auf ihrem Grundstück am Wasser und versichert, dass man für das Wohl des Flusses in den letzten Jahrzehnten viel erreicht hätte – und nun mehr darum bemüht ist, sauberes Wasser in den sogenannten Fließen zu halten. Aber da nun das Wasser weniger werde, steigt die Sorge, dass Entscheidungen über die Region woanders getroffen werden. Verschiedene Expert:innen aus Alltag und Wissenschaft regulieren, formen und diskutieren die Zukunft der Wasserlandschaft des Spreewaldes. Klimatische Veränderungen bringen Unsicherheiten darüber, welche Art von Wissen hier zur Anwendung kommt, und welche Handlungen dies nach sich zieht. Die fließende Zusammenarbeit wird verzögert, und neue Formen der Kooperation müssen gefunden werden, die den Blick in Zeiten von tiefgreifenden Veränderungen abseits von Wasser als Ressource auch auf die sozialen Beziehungen zu und durch Wasser und den Fluss richten. Hierbei wird im Falle des Spreewalds Wissen über Wasser auf verschiedene Weise neu diskutiert.
Wissen um Algen in Mexiko
Ähnlich wie Flüsse, erfahren auch Küsten im Kontext von Klimawandel intensive Veränderungen. Sie lassen sich als „contact zone“ (Pratt 1991) verschiedener Spezies beschreiben und sind mit all ihren Gestaltungskräften – Palmen, Sand, Schildkröten, Fischen, Vögeln, Menschen, Algen und vielen mehr – eine „multispecies landscape“ (Tsing 2012, S. 141; Tsing et al. 2019). So auch die weltbekannte Riviera Maya in Mexiko, die sich rund 160 Kilometer von Cancún im Norden bis nach Tulúm auf der Halbinsel Yucatán erstreckt. Die Region gehört mit rund 30 Millionen Tourist:innen im Jahr zu den meistbesuchten Feriendestinationen der Welt. Doch seit 2015 landen nicht nur die Reisenden in Massen an, sondern auch Sargassum. Dabei handelt es sich um eine schwimmende, braune Makroalge, die sich zu kilometerlangen Teppichen verweben und den gesamten Atlantik überqueren kann. Das bislang ungewohnte Anlanden der Algen ist mit zahlreichen Effekten verbunden: Das türkisblaue Meer verfärbt sich braun und weist Sauerstoffmangel auf, Seegras stirbt ab, Futter suchende Vögel meiden die in Folge ihrer Zersetzung (stark) riechenden Algen, Tourist:innen beschweren sich über das ästhetische Problem auf ihren Urlaubsfotos, Biolog:innen sind besorgt um den Zustand des Ökosystems, Hoteliers bangen um ihre Einnahmen, Fischer:innen klagen über Atembeschwerden, Meeresschildkröten haben Schwierigkeiten, Nester an den Algen-geplagten Stränden zu bauen.
Für sämtliche von den Algen betroffene Akteur:innen bringt die Situation neue Herausforderungen und zahlreiche Unsicherheiten mit sich. Die anfängliche Hoffnung, Antworten auf das Problem in der indigenen Maya-Community zu finden, ist schnell verpufft. Feldforschung vor Ort zeigt, dass auch in den Maya-Gemeinden ähnliche Unsicherheiten herrschen wie in den anderen Teilen der Bevölkerung: Wie lange werden die Reisenden noch kommen? Werden wir in Zukunft hier noch fischen können? Was passiert, wenn das küstennahe Ökosystem kippt? Und während verschiedene Akteur:innen – vor allem menschliche – in ihrer Sargassum-Abneigung vereint sind, hat sich bislang keine Situation formiert, in der gemeinsam und in eine Stoßrichtung das Algenproblem diskutiert, reguliert und geformt wird. Vielmehr werden Wissenschaft, Tourismusbranche, Wirtschaft und Politik vor Ort in ein neues Spannungsverhältnis zueinander gesetzt.
Junge Unternehmen, die z.B. veganes Leder oder Dünger aus den Algen herstellen wollen, finden – wie andere Start-Ups auch – einen Dschungel an bürokratischen Hürden vor: Seit Jahren wird ohne Ergebnis diskutiert, ob Sargassum als Ressource oder als Abfall klassifiziert werden soll. Je nach Definition ändern sich behördliche Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Offiziell ist die Marina de México auf dem Meer für Sargassum zuständig, die ersten 50 Seemeilen ab der Küste fallen unter die Zuständigkeit des Zona Federal Maritimo Terrestre (ZOFEMAT) und liegt Sargassum am Strand, sind die Gemeinde (öffentliche Strände) oder die Hotels (gepachtete Strände) zuständig. Start-Ups, die aus Sargassum Biogas oder Dünger herstellen wollen, würden das Sammeln der Algen auf dem Meer bevorzugen. Dies hat den Vorteil, dass kein Sand mit den Algen vom Strand abgetragen wird. Auch Hotelbetreibende bevorzugen die Entfernung auf dem Meer, damit ihre Gäste die Algen am Strand nicht sehen und unbeschwert baden gehen können. Sie haben in Barrieren, Boote, spezielle Sauger und Förderbänder investiert. „Aber die Reinigung auf dem Meer ist ein bürokratischer Albtraum“, berichtet Rosa García, die seit vielen Jahren versucht, ein Sargassum-Protokoll zu etablieren und mit Unternehmen, Politiker:innen und Behörden zusammenarbeitet. Die bürokratischen Hürden sind aber bei Weitem nicht die einzige Herausforderung: Während Wissenschaftler:innen, wie Rosa García, versuchen, gemeinsam mit anderen Beteiligten Rahmenbedingungen und Richtlinien zu etablieren, um die Algen-Situation möglichst kontrollieren zu können, befinden sie sich in einer Situation, in der sie permanent neues Wissen über Sargassum – über dessen Agency in küstennahen, karibischen Gewässern wenig bekannt ist – generieren. So zeigen neuere Studien und Testreihen den hohen Arsen- und Schwermetallgehalt der Algen auf. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse führen neben bürokratischen Herausforderungen, Rechtsunsicherheit und hartnäckigen Differenzen zwischen einzelnen Akteur:innen hinsichtlich der Frage, was Sargassum eigentlich ist, zu einer Situation, in der gemeinsames Arbeiten kaum möglich ist. Die Kämpfe um die Zuständigkeit, um Umweltvorschriften und die Finanzierung des Umgangs mit Sargassum werden durch Rivalität, verschiedene Interessen und unterschiedliche Wissensbestände der Akteur:innen noch verschärft.
Weiterführende Gedanken
Was haben Landwirtschaft in Vanuatu, Wasser in Deutschland und Algen in Mexiko gemeinsam? Zunächst könnten wir sie als illustrierende lokale Praktiken in Zeiten des sich global verändernden Planeten rahmen.
Während unseres Treffens zu diesem Blogbeitrag sind wir jedoch, beeinflusst von ethnographischen Beispielen, auf die einzelnen alltäglichen, nicht immer einfachen oder glatt laufenden Auseinandersetzungen und Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Akteur:innen gestoßen. Diese sind von verschiedenen notwendigen Kollaborationen geprägt, welche sich durch ihre lokalen und auch globalen Verflechtungen auszeichnen.
Als wichtig erwies sich dabei zum einen die Konzentration auf lokale Handlungen des Alltags. Fortune et al. (2021) weisen beispielsweise auf den von Elinoff und Vaughan (2020) geprägten Begriff „quotidian Anthropocene“ hin, um sozial- und kulturanthropologische Forschungen anzuregen, die Herausforderungen des Anthropozäns immer in der doppelten Bedeutung von global und lokal angehen, und sowohl das Partikulare und Spezifische, als auch gleichzeitig die gemeinsamen planetaren Herausforderungen beachten. Und zum anderen ist uns wichtig, mit sozial- und kulturanthropologischer Vorgehensweise diesen lokalen Beispielen der alltäglichen Handlungen entlang von Reibungen (in Bezug auf Wissen) im Sinne des von Anna Tsing verwendeten Konzepts „friction“ (2005) zu folgen. Mit diesem weist Tsing auf die vielfältigen und oft widersprüchlichen Interaktionen hin, die die Welt formen und gestalten.. Dabei sehen wir diese Reibungen nicht als Hindernisse, sondern als Prozesse, bei denen Menschen Handlungsoptionen und Konzepte in Zeiten neuer Problematiken schaffen.
Aus unseren Forschungskontexten ergibt sich, dass lokal beobachtete (Umwelt)Veränderungen, Prognosen, unterschiedliche Handlungsoptionen und Lösungsmöglichkeiten mit verschiedenen ökologischen und sozialen Veränderungen zusammenspielen. Ein Zusammentreffen von Wissen aus unterschiedlichen Zusammenhängen, von globalen, nationalen, regionalen und lokalen Interessen geschieht im Kontext von neuen Herausforderungen und kann neue Unsicherheiten erzeugen. Es zeigt sich jedoch, dass neue Prozesse des Wandels und daraus resultierende Unsicherheiten innovative und zukunftsgewandte Prozesse des Zusammenarbeitens erfordern – diese sind zwar nicht konfliktfrei, stellen aber dennoch kreative Prozesse der Wissensproduktion dar und bilden neue Formen von Beziehungen zu menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen. Präferierte Optionen und Handlungen vor Ort sind nicht (nur) Resultat von (gescheiterter oder geglückter) Vermittlung von Wissen über verschiedene Kanäle oder von Konflikten und Spannungen aus einem Zusammentreffen von Expert:innen- und Alltagswissen oder ‚indigenem‘ Wissen. Sondern sie weisen immer auf das lokal erarbeitete Neue in seiner derzeitigen überlokalen Vernetzung hin.
Im Zuge der globalen Verbindungen (Tsing 2005) und somit Herausforderungen sehen wir für die Sozial- und Kulturanthropologie die Aufgabe, aus einzelnen Forschungslokalitäten heraus miteinander in einen Dialog zu treten, bei dem lokalisierte Wissenspraktiken in Bezug zueinander gesetzt werden. Wir schlagen vor, dies nicht nur als Austausch zu einem zuvor gewählten Überthema vorzunehmen, sondern entlang von Reibungsmomenten im Feld (aber auch jenen im fachlichen Austausch) darüber nachzudenken, wie neue Konzeptionen von (Um)Welt erarbeitet werden. So spielt in Brandenburg die Option, durch technische Lösungen wieder die Gestaltungsmöglichkeit der Wasserlandschaft zu erlangen, eine zentrale Rolle. In Vanuatu entscheiden sich immer mehr Menschen dafür, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auch auf die lokale Praxis der Diversifizierung zurückzugreifen, statt den Ratschlägen von Agrarexpert:innen zu folgen. In Mexiko wird das Verhandeln der Antwort auf die Frage, was Sargassum ist, immer dringlicher, um Entscheidungen bezogen auf den Umgang mit den Algen treffen zu können.
Dies bedarf weiterer fachlicher Auseinandersetzungen mit sowohl emischen als auch fachspezifischen Konzepten (vgl. Holbraad 2017) für die nie zuvor dagewesenen Herausforderungen unserer Zeit. Wir sehen die Notwendigkeit, diese Prozesse des Erarbeitens entlang von Reibungen und Irritationen, die wir in unseren Feldern beobachtet haben, auch in unsere wissenschaftliche Zusammenarbeit einzubringen. In einem ersten Schritt werden dafür im Dialog mit allen beteiligten Akteur:innen, einschließlich der Wissenschaftler:innen aus den einzelnen Forschungslokalitäten heraus, die lokal relevanten Konzepte, Differenzen und Spannungsverhältnisse untersucht und ihre Charakteristika herausgearbeitet.
In einem weiteren Schritt kann dann – und dazu soll dieser Blogbeitrag anregen – ein Prozess stattfinden, der unterschiedliche lokale Forschungen miteinander in Dialog setzt, um auch auf dieser Ebene aus den Spannungen, Differenzen und „frictions” neues Wissen zu kreieren. Dadurch kann es zu einer Veränderung unserer (wissenschaftlichen) Konzepte kommen, die einer Situation der globalen Verflechtungen lokaler Veränderungsprozesse gerechter werden als die vorhandenen.
Literatur:
Desirée Hetzel arbeitet derzeit als Postdoktorandin am Institut für Europäische Ethnologie und dem IRI THESys an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht im transdisziplinären Projekt Climate and Water Change (CliWaC) zu Imaginationen von Hydrosozialen Territorien in Berlin Brandenburg. Dabei arbeitet sie mit Expter:innen des Alltags vor Ort, interdisziplinär mit Wissenschaftler*innen im Projekt und kooperiert mit dem Experimantallabor für Wissenschaftskommunikation AnthropoScenes. Zuvor forschte Desirée im Rahmen ihrer Promotionsforschung mit Arno Pascht zu Klimawandel und Gartenbau in Vanuatu.
Laura Otto (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Aktuell forscht sie im Rahmen ihres von der DFG-geförderten Projektes zu Umgangsweisen mit schädlichen Algenblüten in der Karibik, primär in Mexiko.
Arno Pascht (Dr. phil.) war in den letzten Jahren als Sozial- und Kulturanthropologe an mehreren sozialwissenschaftlichen und interdisziplinären Forschungsprojekten zu verschiedenen Umweltthemen in Ozeanien beteiligt und hat mehrjährige Feldforschungserfahrung in dieser Region. Die Darstellung in diesem Blogbeitrag stammt aus der Forschung im Rahmen seines DFG-Projekts zu Lokalisierung von Klimawandelwissen und -praktiken in Vanuatu.