20/04/20

Monströs oder gespenstisch?

Fragen von Schuld, Verantwortung und Solidarität in Zeiten der Corona-Pandemie

Dieser Text stellt eine theoretische Reflexion zur Corona-Pandemie dar, die ich aus einer Situation in meiner Feldforschung zur lokalen Aushandlung des globalen Klimawandels im Rheinland entwickelt habe.

Da in Deutschland seit Ende März 2020 aufgrund der globalen Corona-Pandemie alle Bürger*innen angehalten sind, sich weitestgehend abzuschotten und körperliche Distanz zu ihren Mitmenschen zu wahren, fand ich mich eines Freitagabends mit meinen Feldforschungspartner*innen statt im Stuhlkreis in einem Gemeindehaus in einem Zoom-Meeting wieder. Die Teilnehmer*innen des digitalen Treffens sind alle auf unterschiedliche Weise in Netzwerken von Kohlegegner*innen, Klimaaktivist*innen und Umweltschützer*innen aktiv und versuchen, als zivilgesellschaftliche Akteur*innen den in ihrer Braunkohleabbauregion angelaufenen Strukturwandel mitzugestalten. Zu ihren Hauptanliegen zählt dabei, dass die globale Bedrohung des Klimawandels einen zentralen Stellenwert in den regionalen Zukunftsplanungen erhält und auch die Belange der lokalen Bevölkerung ernsthaft in politische Entscheidungen einbezogen werden. Dieses kritisch-gestalterische Engagement war bisher auf Formen von Versammlung und direktem Austausch angewiesen, die in Zeiten physischer Kontaktverbote mehr oder minder unmöglich geworden sind[1]. Die Videokonferenz fand somit im gleichen Kontext statt, der mittlerweile in zahlreichen Zeitungen und Onlineveröffentlichungen Deutschlands debattiert wird: dem Verhältnis zwischen der akut spürbaren „Corona-Krise“, die uns gegenwärtig an unseren Wohnraum fesselt (sofern dieser vorhanden ist) und der zurzeit weniger dringlich erscheinenden Klimakrise, die uns vor zukünftige Unsicherheit stellt.

In diesem Zusammenhang changiert der allgemeine Diskurs der Umweltbewegung momentan überwiegend zwischen der Hoffnung auf eine einmalige Chance, das westliche („imperialistische“) Lebensmodell[2] zu überwinden, und der zynischen Enttäuschung über die plötzliche Handlungsfähigkeit der Regierenden[3].

Nachdem gut eine Stunde über Möglichkeiten zur Partizipation und technische Details des Strukturwandels im „Rheinischen Braunkohlerevier“ diskutiert wurde, räsonierte einer der Teilnehmer*innen des digitalen Treffens, dass das Virus zu seiner Verbreitung die gleichen Kanäle nutze, die auch für die voranschreitende Zerstörung der Umwelt in globalem Maßstab verantwortlich seien.

Dieser Kommentar zum Zusammenhang zwischen Pandemie und Umweltschutz soll mir als Ausgangspunkt zu einer Reflexion dienen, die über eine Einordnung meines empirischen Materials hinausgeht und politisch-ökologische Diskurse zur Corona-Krise berücksichtigt. In der Tat haben die staatlichen Reaktionen auf die Pandemie zu einer Entkoppelung und Entschleunigung des globalen Wirtschaftssystems geführt, während Nachrichten über erste Anzeichen der Erholung von Ökosystemen prominent verbreitet werden[4] und auch bei meinen Forschungspartner*innen Anklang finden. Allerdings ist wohl zu erwarten, dass eine nachholende wirtschaftliche Aktivität zur „Ankurbelung der Konjunktur“ diese temporären Effekte bald vergessen macht[5]. Ohnehin gleicht die weltweite Politik zurzeit einer Kalkulation darüber, welche Elemente sich noch frei bewegen dürfen und welche nicht. Die Pandemie führt uns also eine der zentralen Fragen neoliberaler Biopolitik deutlich vor Augen, die auch in gewöhnlichen Zeiten den Verlauf globaler Ströme bestimmt: Welche Zirkulationen (von Waren, Menschen etc.) müssen gewährleistet sein (und welche können gekappt werden), um die Produktivität der Bevölkerung zu steigern und das Wirtschaftswachstum zu erhöhen? Die Gesundheit der Bevölkerung ist dabei ein entscheidender Faktor für die Reproduktion der Ökonomie, doch offenbart die aktuelle Krise, wie sich biologische Gesundheit und volkswirtschaftliche Interessen gegenüberstehen können und ihr Verhältnis einer ständigen Kosten-Nutzen-Abwägung unterworfen ist[6]. Im Kontext kapitalistischer Zirkulation fungieren die Infrastrukturen der globalen Ökonomie mit ihren kontrollierten Öffnungen und Schließungen üblicherweise wie Reinigungsapparate, die bestimmte Elemente nach einem ökonomischen Kalkül passieren lassen respektive aufhalten (der gesamte entmenschlichende Diskurs um die Illegitimität und Illegalität sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge, materialisiert in einem tödlichen Grenzregime, wäre ein Paradebeispiel für dieses Kalkül). Doch diese Transport- und Migrationskanäle scheinen nun selbst infiziert, weshalb ihre Schnittstellen wo immer möglich geschlossen werden (Grenzen, (Flug-)Häfen etc.), damit sie das System des globalen Kapitalismus nicht weiter „verunreinigen“. Die Analogie von der Gesellschaft im „abgesicherten Modus“, die der Satiriker Jan Böhmermann in seinem Podcast vorgeschlagen hat, erscheint somit realistischer als hoffnungsvolle Szenarien einer achtsameren Welt nach der Pandemie[7]. Denn der abgesicherte Modus eines Computerbetriebssystems dient unter anderem dazu, kritische Fehler zu isolieren und zu beheben (im Fall der Corona-Pandemie vermutlich nicht zuletzt über die Installation einer weitreichenden digitalen Überwachungsinfrastruktur für (potenziell) Infizierte), um das System möglichst unbeschadet und mit gleicher Leistung wie zuvor wiederherzustellen[8].

Vorne das karge Tagebauvorfeld, hinten links der Braunkohletagebau und hinten rechts am Horizont die Kohlekraftwerke: Industrielle Landschaftszerstörung zieht den gesamten Globus in den Sog des Klimawandels – wie hängt sie mit der aktuellen Pandemie zusammen?“ Copyright: Felix Lussem

Der in dieser Analogie ausgedrückte Isolations-, Absonderungs- oder Trennungsprozess bestimmt dabei das Projekt des modernen Fortschritts schlechthin (Latour 2008) und wird nun in seiner biopolitischen Dimension für Teile der Menschheit sichtbar, denen die Infrastrukturen der globalen Ökonomie bisher allgemein eine „glatte“, „nahtlose“ Erfahrung der Welt ermöglicht haben. Denn unter den Bedingungen der Corona-Pandemie sind auch für Menschen des „globalen Nordens“ zahlreiche Grenzen geschlossen, Flugrouten dicht und Warenknappheit ist – zumindest in der kollektiven Imagination – zu einer realistischen Möglichkeit geworden. Insofern erscheint uns die momentane Pandemie wie eine Monstrosität, da die üblichen „Reinigungsmechanismen“ der globalen Infrastrukturen nicht mit der allzu engen Verflechtung von Mensch und Virus zurande kommen, wodurch das kapitalistische Wirtschaftssystem entscheidend ausgebremst wird.

In Arts of Living on a Damaged Planet: Ghosts and Monsters of the Anthropocene führen Tsing et al. die Figur des „Monsters“ ein, um auf die lebensnotwendigen Verflechtungen zwischen Spezies aufmerksam zu machen, aber auch um zu verdeutlichen, dass die Spaltungs- und Reinigungslogik der Moderne allerlei neue (biologische) Gefahren hervorgebracht hat. So schreiben sie, dass „our entanglements, blocked and concealed in these simplifications [wie Monokulturplantagen oder Massentierhaltung], return as virulent pathogens and spreading toxins“ (2017: M4). Die aktuelle Corona-Pandemie offenbart diese verdrängten Verflechtungen aufs schmerzlichste, die die Basis für das Leben auf unserem Planeten bilden, aber auch die Koordinaten biologischer Verletzlichkeit definieren. Mit Tsing et al. kann man SARS-CoV-2 folglich als Monster des Anthropozän verstehen, welches die modernen Fantasien des endlosen Wachstums – die auf der Trennung des Menschen von seiner Umwelt, auf der technischen Transzendierung der Natur basieren – durch seine allzu riskante Nähe zum Menschen durchkreuzt und die materiellen Netzwerke kapitalistischer Zirkulation ausbremst. Monster sind in dieser Perspektive also Figuren, die irreduzibel ihre Anwesenheit demonstrieren und sicher geglaubte Grenzen übertreten – so wie das Virus die Immunschranke der Menschen durchbricht und ihren zellulären Stoffwechsel zur eigenen monströsen Vervielfältigung kapert. Auch die nicht selten mit rassistischer Verachtung verbundene Ursprungsgeschichte des Virus zeugt von der Monstrosität der Grenzüberschreitung, die am angeblichen Beginn der Pandemie lag. Schließlich wird die Schuld des Ausbruchs in dieser Geschichte den „exotischen“ Konsumgewohnheiten der Bewohner*innen Wuhans gegeben, welche das vermeintlich rationale westliche Mensch-Tier Verhältnis nicht genügend respektiert haben[9].

Diese moralisierende Verortung der Pandemie verdeutlicht, dass die Verfestigung des Virus in der Figur des Monsters den Mechanismen der Externalisierung Tür und Tor öffnet, die das Virus zum Monster der Anderen machen, sobald die entsprechenden Infrastrukturen zu seiner Kanalisierung – analog zu den kapitalistischen Reinigungsapparaten – geschaffen wurden. Die Figur des Monsters privilegiert somit eine Lesart, das Virus als Rache eines falschen Lebensstils zu verstehen und als Schuld, die gegenüber der Umwelt eingelöst werden muss. Die These, dass Umweltzerstörung im Namen des modernen Fortschritts den monströsen Ursprung der Pandemie bildet – indem sie Ökosysteme degradiert, Biodiversität verringert und somit die Ansteckungswahrscheinlichkeit über Artengrenzen hinweg erhöht[10] – läuft damit ebenso Gefahr zu einer Variante dieser externalisierenden Erzählung zu werden, wenn Schuld und Verantwortung allzu voreilig und säuberlich verteilt werden.

Eine andere Art von „Geisterorten“: Noch immer verschwinden Dörfer im Rheinland für Kohleextraktion. Aktivisten verweisen auch hier auf das Problem von mangelndem Wohnraum, das sich in der Corona-Krise weiter zuspitzt. Copyright: Felix Lussem

Während Monster durch einen Überschuss gekennzeichnet sind, durch ein zu viel an Leben, Präsenz und Bedeutung, ist ein Virus durch seinen fehlenden Stoffwechsel gar kein Lebewesen im strengen Sinne und hat durch seine Position zwischen Leben und Tod eher gespenstische als monströse Qualitäten. Das Virus wandelt also nicht nur die lebhaften Knotenpunkte des Kapitalismus vorübergehend in Geisterstädte[11], es kann auch auf keinen spezifischen Ursprung zurückgeführt werden, da es wie ein Wiedergänger immer nur in Mutationen von Mutationen auftritt und jeder propagierte Ursprung, der das Virus als lokalisierbares Monster bestimmen würde, nichts als willkürliche Setzung ist. Denn auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass die Degradierung der Biodiversität sozial-ökologischer Systeme im Zusammenspiel mit hoher globaler Mobilität die Wahrscheinlichkeit neuer Pandemien erhöht, ist das Überspringen eines Virus ein radikal unbeherrschbares Zufallsereignis, aus dem keine allgemein übertragbaren Lehren oder tiefere Bedeutungen gezogen werden können[12] – wohl aber aus der konkreten Verteilung der Auswirkungen der Pandemie. Die weitreichende Verbannung der Menschen aus der Öffentlichkeit liegt dabei in einem weiteren gespenstischen Charakteristikum von SARS-CoV-2 begründet: Die Infektion kann auch in Abwesenheit von Symptomen anwesend und virulent sein, weshalb die Eindämmungsmaßnahmen auf die komplette Bevölkerung verallgemeinert werden.

Diese Unentscheidbarkeit zwischen gesund und krank, die mittlerweile jede Begegnung mit unseren Mitmenschen bestimmt, ist vermutlich die größte Herausforderung im Umgang mit der Pandemie. Nicht zuletzt die Überforderung mit diesem gespenstischen Charakteristikum des Virus hat eine Solidarität begründet, die sich in brutaler Sichtbarkeit entlang nationalstaatlicher Grenzen orientiert, damit das Monster der Anderen vornehmlich an anderen Orten seine Geister produziert. Dass die Solidarität an Staatsgrenzen endet, wenn das Risiko nicht kalkulierbar ist, haben uns nicht zuletzt die Bilder aus Bergamo in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Während Ethnographie als Zeitzeugnis schon lange offenbart, dass Zeitgenossenschaft auch räumliche Verbindung bedeutet, allerdings zunehmend als Folge geteilter Risiken in globalem Maßstab (Beck 2008), beginnt sich in der aktuellen Krise auch die Erkenntnis durchzusetzen, dass diese Risiken in ihrer Intensität höchst ungleich verteilt sind.[13] Die Unentscheidbarkeit im Herzen der aktuellen Pandemie, das gespenstische Verharren des Virus zwischen an- und abwesend auf der Ebene von Individuum und Bevölkerung, wirkt jedoch ebenso gewissermaßen als widerspenstige Kraft gegen die Tendenzen zur Externalisierung der Krise. Denn das Selbst (auf der Ebene von Individuum, Bevölkerung, etc.) könnte immer schon unbemerkt infiziert sein, womit jegliche produktivitätssteigernde Zirkulation vom Risiko der Ansteckung heimgesucht wird und die Ökonomie der Kanalisierung guter („eigener“) und schlechter („fremder“) Elemente nachhaltig gestört wird. Momentan wird alles darangesetzt, dieses Problem über Techniken digitaler Kontrolle zu lösen. Vielleicht läge an dieser gespenstischen Widerspenstigkeit gegen die monströsen Mechanismen der Externalisierung jedoch auch ein Anknüpfungspunkt für die Möglichkeit einer Solidarität, die sich über Grenzen hinweg sowie jenseits von Kategorien des Selbst und Anderen erstreckt, eine Solidarität, die nicht nach den Maßen von Schuld und Verdienst abgestuft ist, die nicht nach Gewinn und Verlust kalkuliert. Wie eine weitere Teilnehmerin des Zoom-Meetings an jenem Freitagabend jedoch sinngemäß mahnte: „Wir können nicht auf eine Veränderung durch das Virus hoffen, wir müssen weiter selbst aktiv sein.“

Submitted on 08. April 2020

 

Felix Lussem ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie der Universität zu Köln. Er promoviert zu lokalen Aushandlungsprozessen globaler Krisen und begleitet dafür Klima- und Umweltaktivisten sowie Flüchtlingshelfer im Rheinland. Seine Forschung ist von der Frage geleitet, wie die Überforderung nationalstaatlicher Institutionen durch multidimensionale Krisen neue Formen des Engagements hervorbringt und welche Verschiebungen räumlicher und zeitlicher Ordnungen sich in diesem Zusammenhang abzeichnen.

 

#WitnessingCorona

This article was simultaneously published on boasblogs. Witnessing Corona is a joint blog series by the Blog Medical Anthropology / Medizinethnologie, Curare: Journal of Medical Anthropology, the Global South Studies Center Cologne, and boasblogs.


 

Bibliographie

Beck, Ulrich. 2008. Weltrisikogesellschaft: Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Latour, Bruno. 2008. Wir sind nie modern gewesen – Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Tsing, Anna, Heather Swanson, Elaine Gan und Nils Bubandt. 2017). Arts of Living on a Damaged Planet: Ghosts and Monsters of the Anthropocene. Minneapolis: University of Minnesota Press.


Fußnoten

Alle angegebenen Links wurden zuletzt am 16. 04. 2020 aufgerufen.

[1] https://taz.de/Klimaproteste-in-Corona-Zeiten/!5668682/

[2] https://www.derstandard.at/story/2000115991988/klimapolitik-nach-corona, oder auch https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/den-zweiten-notstand-verhindern

[3] https://taz.de/Corona-und-Klima/!5673321/

[4] https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/corona-auswirkungen-klima-umwelt-emissionen-muell

[5] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-04/wilhelm-heitmeyer-coronavirus-verschwoerungstheorien-finanzmarkt-rechtsradikalismus/seite-3

[6] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/corona-und-die-wirtschaft-was-darf-ein-leben-kosten-a-29353c88-18f7-4677-9b6a-210aed574386

[7] „Fest und Flauschig“, Ausgabe vom 15. März 2020: „Omas ohne Ende“

[8] Laurie Penny hingegen schreibt (in Anlehnung an Gramsci), dass die „Zeit der Monster“, in der die alte Welt im Sterben liegt und die neue noch nicht geboren ist, durch die Corona-Krise endet und sich eine neue Welt bahnbricht: https://www.wired.com/story/coronavirus-apocalypse-myths/

[9] https://eu.usatoday.com/story/opinion/2020/04/08/coronavirus-chinese-wet-markets-incubators-human-sickness-column/2957755001/

[10] https://www.theguardian.com/world/2020/apr/06/ban-live-animal-markets-pandemics-un-biodiversity-chief-age-of-extinction

[11] https://www.sueddeutsche.de/kultur/coronavirus-senegal-gesellschaft-1.4869649

[12] https://www.welt.de/kultur/kino/article205828983/Slavoj-Zizek-We-re-all-in-the-same-Boat-now-und-it-s-the-Diamond-Princess.html

[13] https://taz.de/Corona-und-der-Alltag/!5669280/ oder https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-usa-schwarze-sterberate-1.4872535