17/07/18

Namensänderung als Exorzismus und Glaubensbekenntnis

Von dieser Seite des Atlantiks her betrachtet erstaunt die Diskussion um die Berufsbezeichnung und den neuen Namen des Fachverbandes, obwohl sie mir verständlich ist. Die aufgeworfenen Fragen und benannten Probleme stellen sich hier zum Glück nicht in der gleichen Weise. Antropologia ist in Brasilien fast ein Synonym der bis vor Kurzem Deutschland allgemein üblichen Fachbezeichnung Ethnologie. Allerdings wird das Fach hier hauptsächlich als Sozialwissenschaft (ciência social) mit sehr engen Beziehungen zur Soziologie verstanden. Doch die Schwammigkeit der Abgrenzung zu den Cultural Studies hat auch hier für Diskussionen gesorgt.

Um über das Fach zu reden, das in Deutschland Anthropologie heißt, bedarf es eines Adjektives als Zusatz: antropologia biológica. Deshalb hat auch niemand Probleme damit, dass der Fachverband Associação Brasileira de Antropologia (ABA) heißt. Diskussionen über dessen eventuelle Umbenennung gibt es nicht und sind wohl auch nicht zu befürchten. Andere Probleme werden als weitaus wichtiger erachtet, z.B. das gegenwärtige politische Klima, in dem das Fach und der Fachverband wegen ihres politischen Engagements und wegen der Verteidigung der Interessen und Rechte ethnischer und sozialer Minderheiten unter agressivem Dauerbeschuss aus den konservativen und rechtsradikalen Lagern stehen.

Einige Departments haben in ihrem Namen noch immer Antropologia Cultural oder Antropologia Social stehen, doch sind das eher diffuse historische Reminiszenzen, die etwas mit den theoretischen Ausrichtungen ihrer Gründerfiguren im vergangenen Jahrhundert zu tun haben. Sie haben heutzutage eher den Status dessen, was Edward Tylor mal survivals genannt hat. Die brasilianischen und anderen ausländischen Kolleginnen und Kollegen deswegen als geschichtslose Banausen zu betrachten, kommt mir natürlich nicht in den Sinn. Es gibt aber eine Gemeinsamkeit mit der Situation in Deutschland: die Fachgeschichte als Forschungsschwerpunkt genießt eher peripheren Status.

Die Beiträge dieses Blogs sind äußerst interessant und häufig sogar sehr lehrreich. Sie kreisen um zwei Hauptthemen: (1) wie es zu dem Abstimmungsergebnis auf der Berliner Tagung im Oktober 2017 kommen konnte und (2) welche historischen Implikationen die Mehrheitsentscheidung hat bzw. ignoriert hat. Möglicherweise wäre es sogar zu einem anderen Abstimmungsergebnis gekommen, wenn die Namensgebung vorher in einem anderen Rahmen diskutiert worden wäre, wie dies Katja Geisenhainer geistreich anmerkt. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, da die Abstimmung scheinbar auch durch ein emotional aufgeladenes Klima geprägt war. Und da interessieren historische Details möglicherweise wenig. Allerdings war ich nicht als stimmberechtigtes Mitglied dabei und konnte das Ergebnis lediglich als Tagungsteilnehmer im Nachhinein registrieren.

In allen Beiträgen lassen sich positive Aspekte herausstreichen, jedoch hat mir Dieter Hallers sehr ausführlicher Kommentar am besten gefallen, da er unmissverständlich die Ironie der Entscheidung herausstreicht: während Haller mit hervorragenden Argumenten die Umbenennung seines Lehrstuhls an der Universität Bochum in „Ethnologie“ erwirken konnte, entschied sich die Mitgliederversammlung der ehemaligen DGV für die Gegenrichtung! Fast eine Art absurdes Theater, könnte man denken.

Nach der Lektüre sämtlicher Beiträge entstand mir jedoch der Eindruck, dass sich die Diskussion totgelaufen hat. Alle möglichen Argumente für und gegen die Entscheidung der Mitgliederversammlung wurden bereits ausführlich präsentiert, und nun sieht es so aus, als ob vor allem ältere Fachvertreterinnen und –vertreter, zu denen auch ich inzwischen zähle, noch verbale Geplänkel liefern, obwohl sich an der Entscheidung zugunsten von DGSKA nichts mehr ändern wird. Vielleicht sollten wir die Diskussion genau dafür nutzen, was Mark Münzel vorschlug: als Ansatz zum besseren und reiferen Reflektieren.

Eigentlich kann mir die Umbenennung in DGSKA wurscht sein. 1993 bin ich aus der DGV ausgetreten. Der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, war damals die Mitgliederversammlung auf der Leipziger Tagung, die ich als sehr peinlich empfand. Ehemalige DDR-Kolleginnen und –Kollegen standen plötzlich auf der Anklagebank, und das aufgeladene Klima der Sitzung wurde gleichzeitig dazu genutzt, den vorherigen Vorstand abzuwatschen.

Seit 2001 bin ich Vollmitglied der ABA und habe dies bisher zum Glück nicht zu bereuen brauchen, obwohl auch der brasilianische Fachverband in vielerlei Hinsicht zu kritisieren ist. Etwa wegen der oft unkritischen Verteidigung der Politik der ehemaligen Regierungspartei PT, deren charismatische Leitfigur zur Zeit rechtskräftig verurteilt im Knast sitzt. Peinlichkeiten bieten sich also auch hier, so dass es bereits zum Vorschlag kam, die ABA in PTaba umzutaufen.

Nach meinem Austritt aus der DGV war ich noch viermal auf ihren Tagungen. 1997 in Frankfurt und 2001 in Göttingen strahlte der Fachverband noch einen selbstbewussten Provinzialismus aus. 2015 in Marburg war ich jedoch sehr angenehm überrascht über das kosmopolitischer gewordene Tagungsklima.

Die Umbenennung der DGV hat mich als Diskussionsthema trotz des zeitlichen und räumlichen Abstands nicht überrascht, das Abstimmungsergebnis hingegen schon. Völkerkunde, trotz aller in diesem Blog vorgetragenen Argumente zu ihrer ehrenvollen Erhaltung, erschien mir seit dem ersten Studiensemester als altbackene Fachbezeichnung. Ich habe mich bis zu meiner Auswanderung 1996 immer als Ethnologen verstanden, und wenn ich nach Deutschland reise, tue ich dies immer noch. Wurde ich gefragt, was denn Ethnologie sei, habe ich häufig geantwortet: „Das, was man früher mal Völkerkunde nannte“. Das hat oftmals geholfen. Wer außerdem bei Peter Tschohl (1935-2017) „Systematische Anthropologie“[1] studierte, bekam keinerlei Berührungsängste mit einer Fachbezeichnung wie Kulturanthropologie[2].

Trotzdem hätte ich, wäre ich Mitglied der ehemaligen DGV geblieben, nicht für DGSKA, sondern für DGE gestimmt, und zwar sowohl aus ästhetischem Empfinden als auch wegen der inhaltlichen Ausrichtung, die impliziert wird.

Ich denke, dass sich kompakte Abkürzungen mit nur drei Buchstaben besser einprägen und auch aussprechen lassen. AAA, ASA, ABA, AFA. Und eben auch DGE. EASA ist auch gut, klingt aber ein bisschen nach europäischer Raumfahrtagentur, DGSKA hingegen nach Krankenkasse. Das wäre aber der weniger wichtige Grund, mich gegen das Fünf-Buchstaben-Kürzel auszusprechen. Die inhaltliche Ausrichtung des Faches in Deutschland, die mit ihm signalisiert wird, finde ich unangenehmer. Die alte Völkerkunde wurde exorziert, man hat sich von ihr und all dem, was man mit ihr irgendwie in Verbindung bringt, ‚befreit‘, sie aber durch ein neues Glaubensbekenntnis ersetzt.

2004 wurde in Recife der World Council of Anthropological Associations (WCAA) gegründet. Das von Arturo Escobar und Gustavo Lins Ribeiro vorgeschlagene Konzept der World Anthropologies beruht auf einer umfassenden Kritik an den hegemonialen Strukturen im anthropologischen/ethnologischen Wissenschaftsbetrieb und an den wachsenden Tendenzen zur Einsprachigkeit im Fach[3], wo sogar Sprachen wie das Französische immer mehr an Einfluss verlieren. Während sich praktisch alle Fachvertreterinnen und –vertreter seit ihren ersten Studiensemestern als Verteidiger kultureller Vielfalt verstehen (selbst diejenigen, die Universalienforschung betreiben), scheint dieses Ideal in den eigenen Reihen immer weniger zu gelten. Im Sinne eines neoliberalen Produktionsrhythmus, aber auch aus der Sorge heraus, im internationalen Kontext nicht genügend oder richtig wahrgenommen zu werden, fördern wir eine Einsprachigkeit, welche letztlich zu einer sprachlichen – und damit kulturellen – Verarmung im Fache führt.

Das mag zwar für die medizinische Forschung kein Problem darstellen, in den Geisteswissenschaften hingegen schon. Unter rein pragmatischen Gesichtspunkten ist es verständlich, sich auf eine lingua franca für Kongresse und zahlreiche Fachpublikationen zu einigen, aber müssen deswegen Sprachen wie Deutsch, Portugiesisch, Spanisch oder Russisch als „irrelevant“ aus der Fachpraxis gedrängt werden, bloß weil sie in Yankeeland (oder Trumpistão, wie man jetzt in Brasilien sagt) vielleicht nicht gelesen werden? Auf dem IUAES Congress in Florianópolis im Juli dieses Jahres werden übrigens vier Sprachen akzeptiert: Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch.

Wo bleiben die „nationalen Stilvarianten“ der verschiedenen vor allem „peripheren“, nicht hegemonialen Fachtraditionen, von denen Cardoso de Oliveira & Ruben sprechen[4]? Es ist ironisch, feststellen zu müssen, dass Autoren wie João de Pina Cabral die deutschsprachige Ethnologie zu den großen „zentralen“ Fachtraditionen zählen[5], während die Mitglieder des Fachverbandes es offensichtlich vorgezogen haben, mehrheitlich ein einseitiges Glaubensbekenntnis zugunsten der US-amerikanische und britischen Anthropology zu verkünden.

Wird die deutsche Ethnologie jetzt „gesichtsloser“?

 

Peter Schröder

Universidade Federal de Pernambuco/ UFPE
Departamento de Antropologia e Museologia/ DAM
Programa de Pós-Graduação em Antropologia/ PPGA
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Cidade Universitária
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Currículo Lattes: http://lattes.cnpq.br/5309031056999416

 

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[1] RUDOLPH, Wolfgang & TSCHOHL, Peter. 1977. Systematische Anthropologie. (UTB, 639) München: Wilhelm Fink.

[2] KÜNSTING, Sabine; BRUCK, Andreas; TSCHOHL, Peter. 1987. Mit Theorien arbeiten: Untersuchen in der Kulturanthropologie. (Kulturanthropologische Schriften der Akademie ’85, 1) Münster: Lit.

[3] RIBEIRO, Gustavo Lins & ESCOBAR, Arturo (eds.). 2006. World anthropologies: Disciplinary Transformations within Systems of Power. Oxford: Berg. RIBEIRO, Gustavo Lins. 2006. Antropologias mundiais: para um novo cenário global na antropologia. Revista Brasileira de Ciências Sociais, v. 21, n. 60: 147-165. (www.scielo.br/pdf/rbcsoc/v21n60/29766.pdf)

[4] CARDOSO DE OLIVEIRA, Roberto & RUBEN, Guilhermo Raul (orgs.). 1995. Estilos de Antropologia. (Coleção Repertórios) Campinas: Editora da Unicamp.

[5] PINA CABRAL, João de. 2004. Uma história de sucesso: a antropologia brasileira vista de longe. In TRAJANO FILHO, Wilson & RIBEIRO, Gustavo Lins (eds.): O campo da antropologia no Brasil, pp. 249-265. Rio de Janeiro: Contra Capa, ABA.