23/10/18

Wie eine Insel im Meer

Im ersten Semester wird in den Seminaren zu Anfang die Frage gestellt: „Warum studiert ihr Ethnologie und was stellt ihr euch darunter vor?“. Fragende und ratlose Gesichter sind meist die Antwort. Nach kurzem Überlegen kommt von vielen die Begründung, dass sie einen zulassungsfreien Studiengang gesucht haben, sich für Kultur interessieren und hoffen, dass die Ethnologie, meist als Beifach gewählt, das Kernfach sinnvoll ergänzt. An dieser Stelle schaut der ein oder andere Dozent[1] dann erst einmal amüsiert, weil die Ahnungslosigkeit der Erstis, um was es sich überhaupt handelt, sehr offensichtlich ist.

Fakt ist, die Ethnologie ist in der Öffentlichkeit fast gar nicht vertreten, was es schwierig macht, sich vorher ein Bild über diese Wissenschaft zu verschaffen. Die allermeisten, so behaupte ich mal, springen ins kalte Wasser, wenn sie ein Ethnologiestudium beginnen. Das habe ich auch gemacht.

Das erste, was dann passiert, ist, dass alle Studenten dieses Faches eingenordet werden, und zwar auf sprachlicher Ebene. In den ersten Vorlesungen wird vermittelt, dass bestimmte Worte, die sicherlich jeder schon vor dem Studium unbedarft verwendet hat, in der Ethnologie nicht verwendet werden dürfen und/ oder ihre Definitionen umstritten sind. Das beginnt mit „Volk“, „Nation“, „Stamm“, „Ureinwohner“, „Kultur“, „Kult“, „Religion“, „Flüchtling“… und endet bei dem Begriff der „Gruppe“. Uns Studenten wurde am Anfang des Ethnologiestudiums beigebracht, dass Sprache Weltbilder vermittelt und das Denken beeinflusst. Irgendwann verinnerlicht jeder dieses Spiel der „Begriffspolizei“ so sehr, dass der Einzelne nicht mehr nur ganz genau zuhört und genervt ist, wenn der Gesprächspartner einen der „verbotenen“ Begriffe verwendet, sondern anfängt, alle zu korrigieren und auf die Streitbarkeit dieser Wörter aufmerksam zu machen. In der Regel nervt das die anderen Leute. Deshalb sollte es vermieden werden.

Im weiteren Verlauf des Studiums werden verschiedene Seminare und Vorlesungen belegt, sowohl zu Grundlagen, als auch zu spezielleren Themen. Letztere sind dann die wirklich interessanten Sachen. Durch all die verschiedenen Seminare zu den unterschiedlichsten Themen ist es möglich, sich neue Perspektiven auf viele Bereiche zu verschaffen. Dieser Prozess des Perspektivwechsels ist spannend und lehrreich. Oft ging ich, wie sicherlich auch einige meiner Kommilitonen, zu Beginn eines Semesters mit einer Meinung in ein Seminar und mit einer ganz anderen wieder hinaus, wenn das Semester endete. Die Ethnologie ist unglaublich vielfältig, was sicherlich eine Chance für dieses Fach ist, etwas zur Gesellschaft beizutragen. Erfahrungsgemäß steht sie sich dabei aber immer selbst im Weg. Das beginnt schon allein damit, dass die Ethnologie in sich instabil ist und daher im Konkurrenzkampf mit anderen Sozialwissenschaften nicht bestehen kann. Allein schon die Frage: „Was ist Ethnologie?“, kann nicht einheitlich beantwortet werden. Überhaupt ist es aus meiner Sicht dann auch verständlich, wenn die Frage gestellt wird, ob die Ethnologie überhaupt eine Wissenschaft ist. Vor allem deshalb, weil sie im Vergleich zu anderen Wissenschaften ein komplettes „Chaos“ ist und im Gesamten jeglicher Strukturierung entbehrt. Im Kleinen gibt es vielleicht Methoden zur Feldforschung, die sich ähneln, aber im Großen und Ganzen mutet sie unsortiert an. Es ist, das muss dazu gesagt werden, von den Ethnologen anscheinend auch nicht erwünscht, das „Chaos“ zu beseitigen. Denn dazu ist es notwendig, Kategorisierungen vorzunehmen, bspw. von bestimmten Gruppen oder Traditionen. Doch schon die Äußerung: „Zwischen Tradition X bei den 123 und Tradition Y bei den 456 besteht eine Ähnlichkeit…“, kann kompliziert werden, weil dann immer irgendjemand sagt: „Nein, also das kann man jetzt aber gar nicht vergleichen, weil …“ Sobald es um Kategorisierung geht, kommt immer irgendein Ethnologe um die Ecke und bezichtigt einen schlimmstenfalls des Rassismus oder kolonialistischen Denkens. Einordnung hat in der Ethnologie immer einen Anklang einer Wertung: „Die sind besser, die sind schlechter“. Doch durch Vergleiche und Kategorisierungen müssen nicht zwangsläufig Hierarchiesierungen vorgenommen werden.

Auch fehlt der Ethnologie meiner Ansicht nach der Wille zu einem Gesamtüberblick. Es gibt stattdessen immer nur Forschung im Kleinen um das Kleinste, welche sich aber nie in ein Gesamtkonzept einfügen lässt, allein schon deshalb nicht, weil dabei eine Konsensfindung notwendig wäre. Außerdem hat jeder Dozent sein Spezialgebiet und ist im Prinzip wie eine Insel im Meer damit allein. Das gibt natürlich auch die Möglichkeit für pure Willkür in der Forschung und den Ergebnissen. Jeder kann schreiben, was er will, weil er der einzige Experte auf seinem Gebiet ist und keiner kann ihm nachweisen, dass es falsch ist, was er schreibt, da jeder Forscher das Gesehene anders interpretiert. Die Ethnologie gibt jedem die Möglichkeit, ein Experte zu werden, ohne dass stichhaltig und objektiv nachzuweisen ist, dass er recht hat. Ethnologie ist subjektiv durch und durch, was sie aus der Sicht vieler anderer Wissenschaften unwissenschaftlich macht.

Die Ethnologie ist streitbar, scheut aber paradoxerweise innerhalb der eigenen vier Wände in der Regel jegliche Diskussion. Dies ist in vielen Seminaren par excellence zu beobachten. Bei Themen, über die durchaus diskutiert werden kann, schweigt die ganze Seminargruppe, weil niemand etwas Falsches sagen will und … ach ja, eine Hausarbeit muss bei dem Dozenten auch noch geschrieben werden… Wenn ich jetzt also aus Versehen eine Meinung vertrete, die mein Dozent nicht vertritt, werde ich die Konsequenzen an meiner Note spüren (das gilt natürlich nur für einen Teil der Dozenten). Hier tritt ein weiteres Paradoxon zutage: Einerseits gibt es in der Ethnologie an sich kein richtig oder falsch, andererseits existieren diese Wertungen für viele Dozenten im Einzelnen definitiv. Manche ihrer Ansichten stellen sie auch nicht einmal zur Diskussion, sie sind überzeugt, dass sie im Recht sind. Manchmal auch einfach nur mit der Begründung, dass sie dort Forschung betrieben haben. Aber auch das ist kein Garant und kann die Sicht auf das Thema vernebeln, vor allem, da während der Feldforschung auch persönliche Kontakte geknüpft werden, die für eine im Endeffekt nette und vielleicht verharmlosende Beschreibung verantwortlich sind. (Sollte dann von studentischer Seite vielleicht die Frage nach Fundamentalismus gestellt werden, wenn das Forschungsobjekt gewisse Religionsgemeinschaften waren, kann das im Seminar für einen Eklat sorgen).

Die Ethnologie ist theoretisch nicht begrenzt und begrenzt sich doch immer wieder selbst, weil sie sich mit (wenn überhaupt vorhandenen) Diskussionen aufhält, die nicht zielführend sind. Das ist schade, weil gerade diese Wissenschaft in der momentanen gesellschaftlich komplizierten und konfliktbehafteten Situation durch ihre detaillierten, wenn auch subjektiven Einsichten für mehr Verständnis auf beiden Seiten der Konfliktparteien sorgen könnte. Überhaupt sollte sich die Ethnologie in der Öffentlichkeit darum bemühen, dass mehr Menschen einen Perspektivwechsel wagen und sich andere Kulturen (jaja, der Begriff, ich weiß…) ansehen, einfach schon deshalb, weil es interessant ist, zu sehen, wie Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund leben. Das heißt nicht, dass das in der Folge auch alles akzeptiert werden muss. Die Ethnologie ist gerade heute von größerer Relevanz als früher, bewirkt aber momentan nichts, da niemand diese Wissenschaft in der Öffentlichkeit vertritt.

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[1] Der Einfachheit halber wird auf das Gendern in diesem Text verzichtet. Des Weiteren streitet der Rechtschreibrat bis heute darüber, ob die folgenden Schreibungen Student*innen, Student/innen, StudentInnen orthografisch legitimiert werden können, da sie gegen alle bisherigen Orthografieregeln verstoßen. Formen wie Studierende entwickeln eine andere Problematik. Bei Verwendung der unbestimmten Artikel wird auch wieder zwischen Femininum und Maskulinum unterschieden: ein Studierender und eine Studierende. Nur bei der Verwendung der bestimmten Artikel bleibt die Form gleich (der/ die Studierende). Da sich diese Art des Genderns, wie es scheint, noch in einem frühen Entwicklungsstadium befindet und es dafür, wie auch für die anderen oben genannten Formen, kaum bis gar keine Regeln gibt, halte ich es für unvertretbar, etwas in öffentlichen Texten zu schreiben, das noch nicht orthografisch und/ oder verwendungstechnisch legitimiert wurde. Da das Gendern aber auch kein neues Phänomen ist, möchte ich hier einmal fragen: Hat diese Art der Sprache inzwischen wirklich etwas für die Emanzipation der Frau erreicht? Können Sprachvorschriften im Allgemeinen tatsächlich die Gesellschaft verändern? Wäre es nicht viel sinnvoller, zuerst die Gesellschaft zu verändern, damit die Gleichberechtigung auch wirklich in den Köpfen der Menschen ankommt, statt einen halbherzigen Versuch in Form von Sprachvorschriften zu unternehmen, der auf der fragwürdigen Annahme beruht, neue Wörter änderten automatisch das Denken?

Paulin Schulz studiert im siebenten Semester an der JGU Mainz. Ihr Kernfach ist Linguistik und in diesem Wintersemester 2018/19 schreibt sie ihre BA mit dem Schwerpunkt in Pragmatik und Soziolinguistik. Weitere Interessen umfassen die Sprachen und Kulturen Nordeuropas und des Baltikums sowie die deutsche Sprache. Für die Ethnologie fällt es ihr hingegen schwer, genaue Interessen zu benennen, da ihrer Meinung nach jedes Seminar faszinierend sein kann. Besonders begeistern konnte sie sich für Veranstaltungen aus den Bereichen Musikethnologie und Religionsethnologie. Aber auch Veranstaltungen zur ethnologischen Perspektive auf Kleidung und Mode (Entschlüsselungen der Symbole und Muster auf Kleidungsstücken), als auch Regionalseminare zu Kuba und Westafrika haben ihr Interesse geweckt.