08/01/19

Meine Zerrissenheit zwischen Selbstaufgabe und Egozentrismus.

Kultur- und Sozialanthropologie (KuSA) vereint zwei Fächer, die sich geschichtlich einiges zu Schulden kommen ließen. Die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Regimen und Kolonialregierungen Werkzeug und treibende Kraft wurden für Hass, Ausgrenzung und Gewalt. Die sich irgendwann zurückzogen, ihre logischen Widersprüche erbarmungslos offenlegten und seitdem versuchen, ehrlich an die Tiefen des Menschseins heranzutreten. KuSA treibt mich an, im Kleinen eine ähnliche Entwicklung vollziehen zu wollen. Mir bewusst zu werden, wo ich die bequemen Lösungen suche, wo ich ich-zentriert denke und dann unnachgiebig daran zu arbeiten, Andere in den Fokus zu rücken, bis ich sie besser verstehen kann.

Ich liebe die KuSA dafür, dass sie allem mit derselben Neugier entgegentritt. Geisterbeschwörung, rituelle Trance, Beschneidung, Schmucknarben verlieren ihren Schrecken, werden Teil des Menschseins. Der Tischkickerverein die Straße runter wird zum faszinierendsten Erlebnis des Semesters. Ich lerne, dass jeder eine Geschichte hat, die es wert ist, gehört zu werden und dass kein Geheimnis unaussprechlich sein sollte. KuSA gibt mir den Mut, an Menschen, an Welten heranzutreten, die ich für unerreichbar, zu fremd hielt und erinnert mich daran, Menschen und Welten, die mir unendlich vertraut erscheinen, mit neuen Fragen zu locken. Immer, wenn die Welt in den Nachrichten so groß wirkt, so undurchdringbar, ertappe ich mich dabei, wie ich denke: „Da hat doch bestimmt ein Anthropologe, eine Anthropologin Jahre damit verbracht, es zu erforschen – Was schreibt er, sie darüber?“ Immer, wenn ich etwas lese, das ich nicht verstehe, sagen Lehrende und Fachliteratur: „Geh’ doch hin.“ KuSA ist für mich der Drang, mit den Menschen zu sprechen, die von einem Thema direkt betroffen sind. Seite an Seite mit ihnen zu arbeiten, zu beten, zu leben. Eine Grundhaltung, die ich in einer Zeit, in der sehr viel ungefragt über andere gesprochen wird, als absolut unabdingbar wahrnehme. Beide Institute an meiner Universität scheinen zunächst etwas unscheinbar, doch jede Person, der man auf den Fluren begegnet, hat großartiges erlebt und erforscht. Jeder fordert mich auf, mein Studium selbst in die Hand zu nehmen, die Studienordnung auf den Kopf zu stellen, wenn mich etwas brennend interessiert. Im letzten Semester ließ mich eine unbenotete Studienleistung einfach nicht los, sodass ich vier Wochen nur in der Bibliothek verbrachte und fünf Tage in die Schweiz fuhr, um dort einen sudanesischen Konvertitenpastor bei Tagungen evangelikaler Missionare und Gemeindeleiter zu begleiten. Ist KuSA ein geradliniger Karriereweg? Nein, für mich nicht. Aber aufrichtiger könnte ich meiner Neugier nicht folgen, als hier. Solche Spirenzchen werden nicht nur toleriert, sie werden diskutiert, kritisiert, weitergetrieben.

KuSA ist Gift für jeden Smalltalk. Sie macht mich durchsetzungsschwach in Debatten über aktuelle Politik, weil ich immer noch die andere Meinung dazu hören will. Sie macht mich angreifbar, weil ich viel Zeit damit verbringe, über meine Befangenheit, meine Schwächen nachzudenken. Sie bringt mich in Erklärungsnot, weil kaum jemand wirklich verstehen will, wie man diesen scheinbar ungreifbaren Studiengang wählen, wie man sich diesen Themen Woche für Woche freiwillig stellen kann. Und trotzdem macht sie mich stark, weil ich lerne, mich mit sanftem Tatendrang jedem Tabu aufs Neue zu stellen. Inzest, Kannibalismus, Tod.KuSA sucht immer die allumfassende Perspektive, aber nicht die universal gültige Erklärung.

Mich, eine notorische Klugscheißerin, macht sie demütig im Angesicht der geballten Sammlung so vieler Menschheitserfahrungen.

Edda Sofie Schwarzkopf studiert Kultur- und Sozialanthropologie im Zweifach-Bachelor an der WWU in Münster. Auch im Zweitfach Kommunikationswissenschaft interessiert sie sich besonders für die Untiefen und Abgründe des Menschseins, für Machtspiele in der Datenverarbeitung, virtuelle Vernetzung analoger lokaler Kontexte. Die anthropologische, systemzerstörerische Perspektive auf Konfliktbeilegung hat sie im letzten Jahr besonders gefesselt. Da erst im dritten Fachsemester, steht ihr noch viel zu lernen und entdecken bevor, sie ist jedoch bereits brennende Advokatin für die Spannungsfelder der Disziplin, die sie in vielen nichtanthropologischen, nichtakademischen Kontexten wieder erkennt.