Ökonomische Anthropologie im (Nach-)Krisenmodus
Just zu dem Zeitpunkt, als ich 2008 in Bahrain für meine Masterarbeit zum Thema Islamic Finance Feldforschung betrieb, brach im euro-amerikanischen Raum eine kapitalistische Welt zusammen. Spekulationen im US-amerikanischen Immobilienmarkt stürzten die Finanzwirtschaft in eine tiefe Vertrauenskrise, die schon bald sehr reale Auswirkungen hatte. In den USA verloren nahezu zehn Millionen Menschen ihr Eigenheim, in Europa über fünf Millionen ihre Arbeit. Jahrelang war die Wirtschaft am Boden, was unter anderem zu staatlichen Budgetkürzungen in nahezu allen Bereichen führte, von der Altersvorsorge bis zum Bildungswesen.
Meine Gesprächspartner*innen in Bahrain schmunzelten im Sommer 2008 noch über die Entwicklungen auf den Finanzmärkten und sahen in ihr den Beweis, dass ihre “islamkonforme” Finanzpraxis den “konventionellen” Praktiken nicht nur moralisch, sondern auch in Bezug auf die Krisenanfälligkeit überlegen war. Das Lachen verging ihnen jedoch, als im Zuge der Finanzkrise auch die Immobilienblase auf der arabischen Halbinsel platzte – ein Sektor, in den islamische Banken mit Vorliebe ihr Kapital investiert hatten.
Die Finanzkrise ab 2008 änderte die öffentliche Wahrnehmung und das Selbstverständnis der Finanzbranche. Und sie hat mein Denken über Finanzmärkte und Kapitalismus geprägt – zwei Themen, die seit diesen ersten Gehversuchen in Bahrain im Mittelpunkt meiner akademischen Tätigkeit stehen.
Als angehender Wirtschaftsanthropologe wurde mir damals klar, dass diese neue Krise nicht nur neue politische Lösungen, sondern auch einen neuen ethnographischen Blick auf das, was wir als “Wirtschaft” verstehen, erforderte. Wirtschaft, so war (und bin) ich der Überzeugung, muss primär kulturell gedacht werden. Als Feld, das maßgeblich prägt, wie wir uns Gesellschaft denken, wie wir zusammenleben, wie wir (inter-)agieren – eine neue Wirtschaftsanthropologie für eine neue Welt nach der Krise! Ich beschloss deshalb, mich für meine Doktoratsforschung ins Herzen der Finanzwelt zu begeben und den Kapitalismus aus Sicht zentraler Akteur*innen, den Finanzanalyst*innen, zu verstehen (Leins 2018).
Die Wirtschaftsanthropologie war zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum noch stark von Handlungs- und Entscheidungstheorien geleitet. Zentral waren hier vor allem Fragen nach ökonomischem Handeln und wirtschaftlicher Organisation in gesellschaftlichen Bereichen, die nicht primär als “ökonomisch” verstanden wurden. Neben substantivischen Ansätzen wurde in der deutschen Anthropologie nun zwar auch vermehrt mit kritischen Konzepten aus der Wirtschaftswissenschaft gearbeitet (etwa der Neuen Institutionenökonomik, siehe z.B. Finke 2004). Angewandt wurden diese allerdings fast ausschließlich in der Analyse nicht-kapitalistischer Kontexte.
Aus dem englischsprachigen Raum waren indes erste Ethnographien bekannt, die versuchten, einen neuen Umgang mit dem “Ökonomischen” zu finden und dabei auch auf kapitalistische Kontexte fokussierten (siehe z.B. Hertz 1998, Zaloom 2003, Ho 2009). Diese Werke wurden im deutschsprachigen Raum aber nur bedingt gelesen und besprochen. Die große Schwester Soziologie war da ein bisschen weiter. Dort gab es schon vor dem Fall von Lehman Brothers Bestrebungen, Wirtschaft neu zu denken – auch in Abgrenzung zu marxistischen Ansätzen. So wurde in der Soziologie zum Beispiel viel über die Performativität ökonomischen Wissens gesprochen. Der Performativitätsansatz kann quasi als Befriedung der formalistischen und substantivistischen Position gelesen werden. Denn, wie die “performativity studies” zeigten, funktionieren Märkte empirisch gesehen zwar tatsächlich global ähnlich (die formalistische Argumentation). Das ist allerdings nicht so, weil Marktlogiken Naturgesetze wären, sondern weil sie durch ökonomische Expertise “formatiert” werden (siehe dazu Callon 1998, alle Beiträge in McKenzie, Muniesa und Siu 2007).
Angelsächsische anthropologische Arbeiten nahmen diesen Trend auf, belegten ihn empirisch oder kritisierten ihn (siehe Miller 2002, Riles 2010). Eine eigene Programmatik in Bezug auf aktuelle Entwicklungen im finanzialisierten Kapitalismus zeichnete sich aber nicht ab.
Als ich 2015 Gastforscher an der London School of Economics war, hatte ich das Glück, dass mir Laura Bear als Mentorin zugeteilt wurde. In Gesprächen mit ihr wurde mir klar, dass sie und andere führende Anthropologinnen im Begriff waren, diese Lücke zu füllen. Im März 2015 wurde das Gens-Manifest publiziert mit dem Ziel, der Nachkrisen-Anthropologie einen Fahrplan vorzulegen.
Das Manifest von Laura Bear, Karen Ho, Anna Tsing und Sylvia Yanagisako (2015) stellt die ethnographische Arbeit ins Zentrum der Analyse kapitalistischer Entwicklungen und fordert einen empiriebasierten und undogmatischen Zugang zur Erforschung zeitgenössischer Wirtschaftsprozesse. Dabei machen sich die Autorinnen in Anlehnung an führende feministische Denker*innen wie Gibson-Graham (1996, 2014) stark dafür, die Kategorie des “Ökonomischen” nicht als gegeben zu betrachten. In der Tat hat es gerade die neuere Wirtschaftssoziologie verpasst, sich kritisch gegenüber dieser Kategorie zu positionieren. So haben zum Beispiel gerade auch die “performativity studies” ein überhöhtes Bild wirtschaftlicher Expertise produziert, ohne die dafür zu Grunde liegende Kategorie des Ökonomischen kritisch zu diskutieren (siehe dazu auch die Kritik von Butler 2010).
Eine Historisierung der Kategorie Wirtschaft ist, wie die Autorinnen aufzeigen, jedoch eine Notwendigkeit, wenn man einen feministischen Blick auf zeitgenössische kapitalistische Gegebenheiten entwickeln möchte. Denn die Produktion von Trennungen zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen (sowie auch dem Politischen und Kulturellen) ist Teil einer patriarchalen Logik, die dem Mann die Sphäre der produktiven Arbeit zuweist und die Frau in die Sphäre des Privaten, der reproduktiven Arbeit und der Sorgearbeit verbannt.
Das Manifest ist darüber hinaus aber auch eine Aufforderung, sich mit den kleinen Details und oft widersprüchlichen Handlungsweisen innerhalb des Kapitalismus zu beschäftigen. Es ist ein flammendes Plädoyer für eine rigide ethnographische Beschäftigung mit den Logiken, Narrativen und Praktiken, die Menschen der ökonomischen Sphäre zuordnen.
Das Gens-Manifest ist auch deshalb so stark, weil es eine Alternative bietet zu einer neueren “grand theory” der Wirtschaftsanthropologie – dem Neoliberalismus. Dieser beschreibt kapitalistische Prozesse zu oft als programmatisch und in eine in eine klare, vorgeschriebene Richtung gehend. Gens bietet hier die Möglichkeit, die ethnographische Forschung zu Neoliberalismus weiterzudenken, Ambivalenzen miteinzubeziehen und gleichzeitig über die Generierung kapitalistischer Logiken und Praktiken in einem allenfalls postneoliberalen Zeitalter nachzudenken. Gleich verhält sich die Beziehung zwischen dem Gens-Ansatz und der Finanzialisierung. Die Autorinnen lehnen das Konzept nicht ab, laden aber dazu ein, Widersprüchlichkeiten und Abwandlungen ernst zu nehmen und in die Analyse einzubauen.
Gerade aktuelle Ereignisse im wirtschaftspolitischen Feld, etwa protektionistische Maßnahmen, lassen vermuten, dass wir es mit neuen Dynamiken zu tun haben, die nicht anhand einer reinen Marktbefreiungslogik erklärt werden können. Weiter haben logistische Herausforderungen in transnationalen Lieferketten dazu geführt, dass in bestimmten Bereichen Effekte auftreten, die Beobachter*innen als “deglobalisation” bezeichnen (siehe Tooze 2023). Eine ökonomische Anthropologie im (Nach-)krisenmodus muss – ganz gemäß Gens – solche Gegenbewegungen mitberücksichtigen, um die aktuelle Lage beschreiben zu können.
Angesichts multipler Krisen – seit 2008 hatten wir eine Finanzkrise, eine (vermeintliche) Flüchtlingskrise, eine pandemiebedingte Gesundheitskrise, eine fortwährende Klimakrise und nun mit dem russischen Überfall auf die Ukraine auch noch eine europäische Sicherheitskrise – führt das Gens-Manifest die ökonomische Anthropologie also in einen (Nach-)Krisenmodus, der wohl so schnell nicht wieder vorbei geht. Das Gens-Manifest erinnert uns dabei an die Kernkompetenz unserer Disziplin: Die akribische ethnographische Arbeit, deren Ziel es nicht primär ist, Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern unterschiedliche Lebenswelten inklusive ihrer divergierenden Vorstellungen und Praktiken zu erschließen und sichtbar zu machen.
Anmerkungen
Ich danke Mario Schmidt, der die Neoliberalismus-Literatur in einem persönlichen Gespräch mal als “grand theory” bezeichnet hat. Wie bei vielen Dingen hatte er damit absolut recht.
Literatur
Bear, Laura, Karen Ho, Anna Lowenhaupt Tsing und Sylvia Yanagisako. 2015. Gens: A Feminist Manifesto for the Study of Capitalism. Cultural Anthropology, online: https://culanth.org/fieldsights/gens-a-feminist-manifesto-for-the-study-of-capitalism.
Butler, Judith. 2010. Performative Agency. Journal of Cultural Economy 3 (2): 147-161.
Callon, Michel. 1998. The Laws of the Markets. Oxford: Blackwell Publishing.
Finke, Peter. 2004. Nomaden im Transformationsprozess. Kasachen in der post-sozialistischen Mongolei. Münster: Lit Verlag.
Gibson-Graham, J. K. 1996. The End of Capitalism (As We Knew It): A Feminist Critique of Political Economy. Oxford: Blackwell.
Gibson-Graham, J. K. 2014. Rethinking the Economy with Thick Description and Weak Theory. Current Anthropology 55 (S9): 147-153.
Harvey, David. 2005. A Brief History of Neoliberalism. Oxford: Oxford University Press.
Hertz, Ellen. 1998. The Trading Crowd: An Ethnography of the Shanghai Stock Market. Cambridge: Cambridge University Press.
Ho, Karen. 2009. Liquidated: An Ethnography of Wall Street. Durham, NC: Duke University Press.
Leins, Stefan 2018. Stories of Capitalism: Inside the Role of Financial Analysts. Chicago: University of Chicago Press.
MacKenzie, Donald, Fabian Muniesa und Lucia Siu. 2007. Hrsg. Do Economists Make
Markets? On the Performativity of Economics. Princeton, NJ: Princeton University Press.
Miller, Daniel. 2002. Turning Callon the Right Way Up. Economy and Society 31 (2): 218-233.
Riles, Annelise. 2010. Collateral Expertise: Legal Knowledge in the Global Financial Markets. Current Anthropology 51 (6): 795-818.
Stefan Leins ist Juniorprofessor für Ethnologie mit Schwerpunkt Kulturen der Ökonomie an der Universität Konstanz. Davor war er Oberassistent am Institut für Sozialanthropologie und Kulturwissenschaften der Universität Zürich, Gastforscher an der London School of Economics and Political Science (LSE) und lehrte an den Universitäten Liechtenstein, Luzern und Trondheim. Leins arbeitet zu den Themen Rohstoffhandel, Lieferketten, Finanzmärkte, Prognoseverfahren, Nachhaltigkeit und sozial verantwortliches Investieren. Sein Buch Stories of Capitalism: Inside the Role of Financial Analysts wurde 2018 von der University of Chicago Press veröffentlicht.