KULTURRELATIVISMUS, GLEICHMACHEREI UND VERSTIMMTE GITARREN
Kulturrelativismus, ob als moralische Haltung, epistemologische Notwendigkeit oder methodischer Zugang, hat ein notwendiges Apriori: kulturelle Andersheit. Weil Kulturrelativismus ja diejenige Haltung kennzeichnet, die versucht, das kulturell Andere nicht im Lichte des Eigenen zu lesen, wird er dann relevant, wenn diejenigen Leute, um die es gerade geht, Dinge tun oder glauben, die von denen abweichen, die man selbst tut oder glaubt; wäre das Andere, anders gesagt, nicht anders, sondern gleich, man bräuchte die eigenen Maßstäbe nicht radikal zu hinterfragen; vielmehr könnte man sie unbesehen dazu nutzen, die Vorstellungen und Praxen der Anderen zu verstehen, sie zu vergleichen und, auch das, zu bewerten.
Die schwierige Frage, mit der man sich ja auch in diesem Blog herumplagt, ist nun, ob und inwiefern eine so strenge, logische Lesart das ethnologische Geschäft wirklich auch trifft; ob und inwiefern eine kulturrelativistische Position also tatsächlich an ein Apriori der Andersheit gebunden ist. Diese Frage ist deswegen so wichtig, weil die Ethnologie – und gerade auch ihr “hermeneutischer ” Flügel, den Chris Hann nicht ganz zu Unrecht in diesem Blog überrepräsentiert sieht – dem Phänomen der Andersheit ja durchaus ambivalent gegenübersteht, um es vorsichtig zu sagen. Und zwar weil, erstens, Andersheit nicht einfach nur da ist, sondern man sie herstellt, indem man sie als Perspektive nutzt, mit der Folge, dass “die Anderen” auf ihre vermeintlich geteilte Andersheit reduziert und dabei sowohl entindividualisiert als auch exotisiert werden (das Argument, das im Fach zentral mit dem Namen Lila Abu-Lughod verbunden ist); weil, zweitens, die Auseinandersetzung mit Andersheit grundsätzlich in einem spezifisch historischen bzw. gesellschaftlichen Kräftefeld steht, das dieses an sich epistemologische Problem politisch flankiert und dazu führt, dass konstatierte Andersheiten immer auch, vielleicht sogar in erster Linie bestimmte Interesselagen reflektieren (die sogenannte “politics of culture”); und weil sich schließlich, drittens und mit Appadurai (1996), in unserer global vernetzten Welt die Andersheit selbst verändert hat. Zwar gibt es sie nach wie vor und, Prozessen der “Aneignung” und der “Translation” sei Dank, gerade auch im Bereich global zirkulierender Ideen und Dinge, Vorstellungen und Praxen; dennoch gleichen sich die Oberflächen eben doch einander an, was dann eben auch zusehends danach verlangt, oder jedenfalls verlangen würde, kulturelle Andersheiten immer auch mit Gleich- oder zumindest Ähnlichkeiten gegenzulesen.
Gerade für diese Auseinandersetzung mit Gleichheit aber hat die hermeneutische Ethnologie, anders als die positivistischen Ansätze des Faches, bisher noch kein dem Relativismus ebenbürtiges explizites Instrumentarium entwickelt, was Kofi Agawu in Hinblick auf die Ethnologie afrikanischer Populärmusik – dem Bereich, mit dem auch ich mich seit einer Weile beschäftige – schon vor 15 Jahren konstatiert hat: “There is no method for attending to sameness”, schreibt er in seinem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel “Contesting Difference”, “only a presence of mind, an attitude, a way of seeing the world.” (Agawu 2003, Representing African Music, 235).
Wenn die kulturelle Andersheit heute also, aus den genannten Gründen, nicht mehr so eindeutig im Zentrum des Faches stehen kann wie einst – was ist dann mit dem Kulturrelativismus? Kann er dann überhaupt noch die zentrale Rolle spielen, die ihm innerhalb der Ethnologie, bei aller Ambivalenz, bis heute doch noch zugestanden wird? Ja, möchte (auch) ich behaupten, wobei nicht nur, weil es eben darauf ankommt; und bevor ich diese ethnologischste aller Antworten kurz erläutere, möchte ich ein kurzes Beispiel aus meiner Forschung über Musik in Madagaskar anführen, das dabei helfen soll, dieses “Ja, aber” besser zu verstehen.
Sobald ich in die Welt madagassischer Populärmusik einzusteigen begann, war ich mit dem Problem verstimmter Gitarren konfrontiert. Egal, ob gefühlsduselige Schmachtfetzen von akustischen Gitarren begleitet wurden oder ob, das eigentliche Zentrum meiner Forschung, die Leadgitarristen von Metalbands ihre verzerrten Soli über treibende Riffs legten – nicht immer, aber doch sehr oft klirrten mir die Ohren, weil Gitarrensaiten weder ordentlich aufeinander abgestimmt noch in Hinblick auf die Tonhöhe mit den anderen beteiligten Instrumenten abgeglichen worden waren. Die Frage, die sich nun augenblicklich stellte war, natürlich, ob es sich dabei um ein kulturelles Phänomen handelte oder nicht: Ob “sie” also ihre Gitarren stimmten, wie sie sie stimmten, weil sie es einfach nicht gewohnt waren oder es nicht besser vermochten, oder ob sie an derartige “Unstimmigkeiten” gewöhnt waren, diese vielleicht sogar auf besondere Weise schätzten, während ich, sozialisiert in wohltemperierte Klangwelten, meine eigene kulturelle Vorstellung borniert und zu Unrecht universalisierte? Die Frage verfolgte mich von Anfang bis Ende meiner Forschung, und obwohl ich immer mehr Positionen und Praxen zusammentrug, die sich zu dieser Problematik verhielten, kam ich zu keinem eindeutigen Ergebnis; genauer, ich kam zu dem Ergebnis, dass es so ein eindeutiges Urteil nicht geben würde. Denn einerseits schienen sich zahllose Musiker oder auch Zuhörer nicht an den “anders” intonierten Gitarren zu stören, andererseits wurden diese Stimmungen aber auch nicht bejubelt und es gab kein erkennbares System hinter dem, was für meine Ohren wie unzureichendes Stimmen klang. Dafür gab es zahlreiche Gründe, weshalb es zu diesen spezifischen Ungestimmtheiten kam, und zwar nicht nur, weil durchgängig wenig Wert auf das Stimmen gelegt würde, aus kulturellen Gründen also. Auch die materiellen Bedingungen legten “unsaubere” Feinabstimmungen nahe: der hohe Preis von Stimmgeräten zum Beispiel, die Tatsache, dass gute Gitarrenseiten gutes Geld kosten oder dass die günstigen indischen und chinesischen Gitarren, wenn sie denn überhaupt einigermaßen bundrein sind, sich schon innerhalb eines einzigen Liedes immer wieder verstimmen. Und so kam ich zu der Überzeugung, dass es zwar grundsätzlich eine Ideologie des sauberen Stimmens und der “richtigen” Gestimmtheit gibt, die sich durchaus an “westlichen” Standards orientiert, dass es aber viele nicht so wahnsinnig stört, wenn es im konkreten Fall damit nicht allzu weit her ist, wohl deshalb, weil sie an solche “Unsauberkeiten” im Klangbild gewohnt sind und sie nicht zwingend als solche verstehen. Wobei, wenn beispielsweise die Darbietungen eines Konzertes bewertet werden, ich dann doch oft wieder den Eindruck hatte, dass schlecht gestimmte Instrumente durchaus zu einem negativen Gesamteindruck beitragen konnten, auch ohne dass diejenigen, die da urteilten, sich über diesen Zusammenhang im Klaren sein mussten.
Allgemein gesprochen kam ich also zu dem Eindruck, dass die ungestimmten Gitarren kulturell nicht unbedingt geschätzt, aber doch überhört oder jedenfalls ohne größeren Widerwillen ertragen wurden, dass aber Desinteresse, schwierige materielle Bedingungen und – auch das – Unvermögen eher für sie verantwortlich zeichneten als tatsächlich kulturelle Überzeugungen; dass also, letztlich, kulturelle Andersheit bei den verstimmten Gitarren schon, aber eben doch nur bedingt eine Rolle spielt, während Prozesse, die man auch bei uns gut kennt (wie ein Besuch bei einem durchschnittlichen Laienstreichkonzert schnell zeigen kann) deutlich wichtigere Rollen spielen. Aber auch, wenn man am Ende einer solchen Auseinandersetzung zu dem Ergebnis kommt, dass es mit der Andersheit – wieder einmal – doch nicht ganz so weit her ist, wie man dies am Anfang vielleicht vermutet hätte, ist der Kulturrelativismus eben doch unabdingbar, weil er – und nur er – es vermag, dass so ein Ergebnis sich tatsächlich aus den Daten ergibt und nicht aus apriorischer Borniertheit; schließlich hätte den mir unangenehmen Stimmungen durchaus ein kulturelles System zugrunde liegen können, wie dies bei arabischen Melismen (die ich, wie wohl viele von uns, inzwischen zu hören gelernt habe) oder bei den (meine Ohren nach wie vor herausfordernden) leiernden und schnarrenden traditionellen westafrikanischen Saiteninstrumenten der Fall ist. Auf der anderen Seite ist allerdings auch die Gefahr durchaus real, einem exotisierenden “Ver-Andern” zu erliegen, nicht nur, aber gerade auch dort, wo man sich eine solche Andersheit gut vorstellen kann; wann immer ich zum Beispiel mit ethnologischen Kolleg/innen über dieses Intonations-Problem sprach, forderten mich, aus Gründen, die mir nicht wirklich klar sind und ohne zuvor nach spezifischen Hintergründen zu fragen, viele von ihnen mit einer dezidiert relativistischen Position heraus. Und wie gesagt neigt ein (vor)eingenommener Relativismus durchaus dazu, seine eigenen Prophezeiungen auch zu erfüllen. Um der Möglichkeit des anders-Seins grundsätzlich Rechnung zu tragen, ohne aber andererseits dem othering zu erliegen, bietet sich vielleicht am ehesten an, den Relativismus als eine Art “transzendentales caveat” zu verstehen; als Stimme, die, ähnlich dem sokratischen Daimonion, weniger zu- als vielmehr abrät und die sich immer dann zu Wort meldet, wenn man in seinen Analysen zu sehr von sich auszugehen droht. Weil man diese Stimme – anders als bei Sokrates – selbst mitsprechen muss, würde die Arbeit der/s Ethnologin/en damit inhärent dialogisch, ein Anschreiben gleichzeitig für und gegen den Relativismus, den es immer wieder zu vertreten und in die Schranken zu weisen gilt. So könnte zumindest versucht werden, der ethnozentrischen Gleichmacherei genauso wenig zu verfallen wie der Exotisierung des Anderen, was beides von zentraler Bedeutung ist; nicht nur für das wissenschaftliche, sondern auch, vielleicht vor allem, für das gesellschaftliche Projekt.