09/05/17

DAS SEGENSREICHE SELBST IM SPIEGELSAAL

So ist es eben, wenn jemand die Welt erklären möchte, ohne sie selbst erfahren zu haben. Dann sammelt man die eignen Selbstverständlichkeiten aus dem Oberstübchen zusammen und erklärt diese gerade mal als Richtschnur für gutes Verhalten: denn darum geht es dem Autoren Christian Weber in seinem Artikel in der SZ. Man muss sich nur die Begrifflichkeiten auf der Zunge zergehen lassen, die hier bemüht werden, um jeglichen Zweifel an der eigenen Art zu leben und zu denken mit dem Hammer der Modernisierung zu zerschlagen: emanzipiert, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Gleichberechtigung … Das ganze Instrumentarium westlicher Selbstbesoffenheit wird hier unkritisch aufgefahren, um festzustellen: Die Anderen sind nicht so wie wir und die Ethnologen tun so, als ob wir gleichwertig wären (was wir selbstverständlich nicht sind). Marshall Sahlins hat einmal gesagt, gute Ethnologie bestehe nicht darin, die Welt der Anderen aus unserer Sicht zu beschreiben, sondern aus der Sicht der Anderen. Derlei intellektuelle Übung ist Christian Weber fremd. Schon alleine das Ansinnen, das Fremde aus sich selbst heraus erklären zu wollen, ist für ihn überkommen. Franz Boas‘ Ansatz misst er gerade mal einen Anspruch für die Vergangenheit zu, in der man es noch mit so bösen Dingen wie mit Rassismus zu tun hatte. „Das war mal eine progressive Ansicht, als man westlichen Rassismus kritisieren wollte und die Meinung ablehnte, dass die ganze Welt möglichst dem europäischen Entwicklungsmodell folgen sollte.“ Aber heute sind die Umstände natürlich ganz anders, suggeriert Weber. Kein Wort davon, dass Demokratie und Menschenrechte in Europa gerade absaufen (in Schlepperbooten in seiner nassen Grenze zu Nordafrika und dem Nahen Osten) oder gedeihlich zu Grabe getragen werden (im aufkommenden Rassismus und Faschismus der saturierten Konsumgesellschaften). Kein Wort davon, dass Transparency International, Good Governance und das Konzept der Staatenbildung (failed states recovery), sowie die Verbreitung von Demokratie das europäische – oder eher amerikanische – Entwicklungsmodell rund um den Globus mit Politik, Militär und Ökonomie durchgesetzt werden sollen, koste es was es wolle. Und seien es die Leben jener, die in solchen Strukturen leben, die der Autor als unzeitgemäß bezeichnen würde: Verwandtschaftsgruppen, tribale Ordnungen und derlei korrupte und undemokratische Gesellungsformen.

Man sollte sich nicht gegen solche Polemiken wie die des SZ-Autoren mit Verweisen darauf wehren, dass sich die Ethnologen heute nicht mehr mit den Lippenpflöcken, den Penisfutteralen und schamanistischen Ekstaseritualen beschäftigen, sondern mit den Hipstern in Berlin-Friedrichshain, den Kleinhändlern in Mexiko und den Bankern in Singapur. Nein, wir sind die Einzigen, die dem tiefem Einlassen auf vordergründig seltsame erscheinende Lebensweisen und Ontologien verpflichtet sind und uns nicht vom Blick in den Spiegel blenden lassen, wie so mancher dahergelaufene Korrespondent, der gerade einmal eine Disziplin abwatscht, von der er nichts, aber auch gar nichts verstanden hat. Der den Versuch des Nachvollziehens für die Gründe von Verstümmelungen und Altentötung, um seine beliebtesten Beispiele zu nennen, mit deren Rechtfertigung gleichsetzt. Aber so ist es eben in einer Zeit, in der die Emphasen, Selbstbilder und Gefühle des Schreibers wichtiger werden als das Denken, das Verstehen.