Digitale und digitalisierte Daten und die Rekonstruktion von Wissen
Eine Retrospektive auf meinen Feldaufenthalt in Papua-Neuguinea im Frühjahr 2020
„[…] Sie vermuten, dass Lae und Port Moresby am Montag abgeriegelt werden. Dann könnte ich nicht mehr ausreisen. Mein Flug ab Singapurer wurde schon gecancelt und Deutsche dürfen nicht mehr einreisen. […] Ggf. müsste ich länger als geplant hierbleiben. Das wäre für mich in Ordnung. Trotzdem mache ich mir Sorgen und versuche meinen Partner in Deutschland zu kontaktieren. Natürlich habe ich niemanden erreicht – hier ist es 12 Uhr mittags und er war schon am Schlafen. Daraufhin habe ich den Nachmittag über nach Rückflügen recherchiert. Heute wäre ich nicht mehr zum internationale Flughafen in Port Moresby gekommen. Sonntag gäbe es noch einen Flug von Madang, hätte dann aber 23 Stunde Aufenthalt in Port Moresby und somit wäre der Weiterflug nach Australien oder Singapur erst Montagmittag möglich. Ich hoffe, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, erstmal hier zu bleiben. Trotzdem habe ich Angst und mache mir Gedanken darüber, wie die internationale Politik in den nächsten Tagen weiter auf die Pandemie reagiert. […]“
– Auszug aus meinem Feldtagebuch, Madang, am 13. März 2020.
Am 18. März 2020 habe ich mich auf den Rückweg nach Deutschland gemacht. In der Zwischenzeit wurden internationale Flughäfen in Australien, Indonesien und den Philippinen abgeriegelt. Singapur gewährte mir Transit, da ich Deutschland vor mehr als 14 Tagen verlassen hatte.
In diesem Beitrag erörtere ich, wie Analoges und Digitales die ethnographische Forschungspraxis im Kontext der Wissensproduktion durchdringt. Dabei erörtere ich Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung in der ethnografischen Praxis. Ich werfe einen Blick auf meinen – Pandemie-bedingt abgebrochenen – Feldaufenthalt im Frühjahr 2020 und reflektiere die Folgen dieser Unterbrechung für mein Forschungsvorhaben. Seit 2019 promoviere ich unter dem Arbeitstitel: „Wie lassen sich ethnologische Sammlungen dekolonisieren? Zur Wissensproduktion ethnographischer, postkolonialer und geschichtswissenschaftlicher Ansätze.“ über eine museale Sammlung, die im kolonialen Kontext im heutigen Papua-Neuguinea (PNG) zusammengetragen wurde. Um diese verstrickte Geschichte zu erfassen, plane ich Kollaborationen mit Menschen in PNG. Dafür ist mein dortiger Aufenthalt unerlässlich. Darüber hinaus gebe ich einen kurzen Einblick in Forschungsablauf, Struktur und Analyse und diskutiere, ausgehend von analoger und digitalisierter Datengenerierung die Auswirkungen auf die epistemologische Theorienbildung.
Im Zentrum meiner Forschung steht ein ethnografisch-museales Konvolut, das während der Kolonialzeit aus dem Gebiet der damaligen deutschen Kolonie im heutigen PNG in eine deutsche Sammlung kam. Es handelt sich dabei um die s. g. Südsee-Sammlung von Wilhelm Knappe (1855-1910), deutscher Diplomat und Kolonialbeamter, welche heute vom Museum für Thüringer Volkskunde in Erfurt beherbergt wird. Ich interessiere mich für unterschiedliche epistemische Praktiken, durch die Wissen im Umgang mit diesen Objekten produziert wird: Sowohl in den historischen und gegenwärtigen Kontexten und Alltagskulturen, aus denen sie ursprünglich stammen, als auch in Bezug auf die Praktiken von Sammler*innen und Händler*innen, Kurator*innen und Wissenschaftler*innen, die diese Objekte aus ihren alltäglichen oder rituellen Kontexten (manchmal unter Einsatz von Gewalt und unter Ausnutzung von Macht) herauslösten, sie mobilisierten, nach Deutschland verfrachteten und im Kontext von Museen verkauften, lagerten, beforschten, kuratierten und bis heute kuratieren. Die Forschung zielt auf eine Sichtbarmachung unterschiedlicher epistemischer Praktiken ab (vgl. Barth 2005). Ich gehe der Frage nach, wie diese Praktiken zueinander in durch Macht und asymmetrische Wissensordnungen geprägten Beziehung stehen und wie sie in Ausstellungsprojekten und in der Museumsarbeit innovativ und gleichberechtigt repräsentiert werden können.
Die Writing-Culture-Debatte bildete in den 1980er Jahren die Grundlage für reflexive und offene Museumsarbeit (Clifford, Marcus 1986). Vertreter*innen der ‚New Museology’ fordern eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Institution. Dabei wird Transparenz der Museumspraktiken gefordert und über Machtverhältnisse und Deutungshoheiten diskutiert (Scholz 2019: 165). Postkoloniale Ansätze erweitern die Debatte um Fragen zur Repräsentation, Wissensformen und Zugängen (z. B. Begrich, Randeria 2012; Kravagna 2009; Marchart 2005). Es wird eine Dekolonisation der hiesigen Museen, u. a. durch transnationale Zusammenarbeit, gefordert. Diese durchbricht die dichotome Perspektive, welche anhand historischer Objekte ‚anderer’ Kulturen, in Abgrenzung zur ‚eigenen’ Kultur, ‚Andere’ erklären will.
Ziel ist es, im Sinne der Gabentheorie von Marcel Mauss (vgl. Mauss 1990 [1925]) zu erarbeiten, welches Wissen über die Objekte in welcher Weise produziert wurde. Aus anthropologischer Sicht, etwa im Sinne Marilyn Stratherns und Bruno Latour (vgl. Latour 2005), agieren die Objekte selbst als Akteur*innen. Welche Bedeutungen hatten und haben sie für die Herkunftsgesellschaft? Die epistemischen Praktiken verschiedener Akteur*innengruppen produzieren unterschiedliche ‚Wahrheiten’ und Ontologien. Der ontological turn plädiert dafür, Dinge Ding-sein zu lassen und Ding-werden zu lassen (im Gegensatz zum material turn, welcher eine Trennung von Kultur und Materialität proklamiert) (Brandstetter 2019: 63).
Quellen- und Archivmaterial stützt die ‚Rekonstruktion‘ der Geschichte der Sammlung. Die damaligen Interessen und Wertzuschreibungen des Sammlers Knappe erarbeite ich aus den Quellen des Museumsarchivs (z.B. selbstverfasster Katalog von Knappe). Ich stelle Erkenntnisse aus ethnographischen und geschichtswissenschaftlichen Forschungen zur Diskussion. Eine Analyse aus verschiedenen Perspektiven ist nicht ohne Kooperation mit Akteur*innen der Herkunftsgesellschaften möglich. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, dass ich heute nicht davon ausgehen kann, dass diese Kulturen, selbst mit mündlichen Überlieferungen usw., seit 1885 statisch und unverändert geblieben sind. Ihre eigenen Interpretationen eines historischen Objekts ist eine gültige zeitgenössische Sichtweise, bedeutet aber nicht, dass dies eine gültige Sichtweise des Objekts diese Kultur im Jahr 1885 ist. Darum plane ich drei kollaborative Projekte, welche anhand jeweils eines Objekts der Südsee-Sammlung Menschen einer Region der damaligen Kolonie ‚repräsentieren‘. Geplant sind ein Netztaschen-Projekt in Madang sowie ein kooperatives Projekt mit dem National Museum and Art Gallery (NMAG) und der University of Papua New Guinea (UPNG) in Port Moresby, mit Kolleg*innen aus Neubritannien (Neuhannover), da diese den Wunsch äußern, ein Museum zu errichten. Des Weiteren ein Rekontextualisierungsprojekt in Finschhafen zum ersten Kontakt zwischen den dortigen Menschen und der Neuguinea-Kompagnie sowie der neulutherischen Neudettelsauer Mission. Ersteres habe ich bei meinem letzten Feldaufenthalt im März 2020 gemeinsam mit der Divine Word University (DWU) und dem Madang Museum & Cultural Center, konzipiert. In dem Projekt geht es darum, eine Verbindung zwischen den Menschen und ihren bilum wiederherzustellen. Die Ergebnisse der Zusammenarbeit sollen im Museum ausgestellt und digital veröffentlicht werden.
In der hundertjährigen Geschichte der ethnographischen Feldforschung transformierte diese ihre Formen, ihre Verwendung, ihre Ziele und ihre Bedeutungen unter Frank Cushing, Franz Boas, W.H.R. Rivers, Bronisław Malinowski und Margaret Mead. Es begann mit handschriftlichen Notizen (Nicolai Miklucho-Maklai 1871 – 1872), diese wurden zu typisierter Feldnotizen und Beschreibung (Clifford Geertz 1972) und dienten dann zur Generierung von Theorien. Gegenwärtig befinden wir uns in der Zeit der Digitalisierung der Felddaten, diese begann bereits in den 1970er Jahren mit der Einführung neuer digitaler Technologien zur Analyse, Herstellung, Verbreitung und Verbesserung von Feldnotizen. Zu dieser Zeit etablierten sich Codierungen der Feldarbeit auf IBM Lochkarten, Datenanalyseprogramme auf Großrechnern wurden implementiert und die ersten digitalen Datenbanken wurden angelegt (Sanjek 2016: 5).
Auch andere Bereiche des Lebens im Globalen Norden sind schon seit den 1970er Jahren digital und seit den 1990er Jahren vom öffentlichen Internet und dem WWW durchdrungen (Sanjek 2016: 3f.). Die Visuelle Anthropologie ist ohne Medieneinsatz nicht denkbar. Mittels softwaregestützter Analyseprogrammen (z.B. MAXQDA) strukturierter, ethnografischer Daten codieren wir (teilweise) analog erhobene Daten (Teilnehmende Beobachtung) digital. Die erhobenen Daten sind in einigen Fällen, z.B. durch Ton- und Videoaufnahmen mediengestützt generiert. Wo liegen die Herausforderungen bei Teilnehmenden Beobachtungen, im Sinne Malinowskis? Dieser entwickelte die Methode bei seinen langjährigen Forschungsaufenthalten auf Omarakana (Trobriand-Inseln) von 1915 bis 1918. Ist die Digitalisierung der Daten aus ethischer Sicht problematisch? Ethnologische Forschungsdaten enthalten sensible und schutzwürdige, häufig personenbezogene Daten, die hohe Anforderungen an die Aufbereitung und Deutung stellen.
Aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie musste ich meinen Feldaufenthalt frühzeitig beenden. Dadurch konnte ich die Projekte nicht verfestigen, keine Interviews führen und nicht wie vorgesehen ins Feld ‚eintauchen‘. Ich habe erste Kontakte mit Museumsexpert*innen und Wissenschaftler*innen in PNG geknüpft und mir einen Überblick über die dortigen Gegebenheiten verschaffen können. Mein geplanter, mehrwöchiger Aufenthalt in Port Moresby, im NMAG und an der UPNG konnten gar nicht stattfinden. Nur zu Beginn des Aufenthalts war ich einige Tage in der Hauptstadt und habe Lehrende und Studierende der UPNG kennengelernt. Das Museum und die UPNG wurden zur Eindämmung der Pandemie geschlossen. Auch der Besuch des National Archive war nicht mehr möglich. Dadurch fehlt mir Quellenmaterial der damaligen Kolonialverwaltung. Neben den Enttäuschungen über das Nichterreichen der Ziele, die ich mir im Rahmen meiner Forschungsreise gesetzt hatte, fühle ich mich entmutigt. Erwartungen an den Feldaufenthalt, den ich lange und intensiv plante und vorbereitete, wurden nicht erfüllt. Die frühzeitige Abreise frustriert mich persönlich, wissenschaftlich und finanziell. Die Ungewissheiten über die bloße Möglichkeit einer Rückreise, bedingt durch gecancelte Flüge und geschlossener Flughäfen, war beängstigend und beunruhigend.
Gegenwärtig mache ich mir Sorgen ob und wie mein Forschungsvorhaben in Zeiten einer Pandemie umsetzbar ist. Diese Ungewissheit lähmt meine Produktivität und Zukunftspläne. Ein zweiter Feldaufenthalt war bereits, seit Beginn meiner Forschung, für 2021 geplant. Ob und wann dieser stattfinden kann, ist momentan ungewiss, es ist jedoch unerlässlich für mein Forschungsvorhaben. Eine mediengestützte Feldforschung, also eine digitale Substitution der Datenerhebung vor Ort, ist aufgrund der dortigen Infrastruktur nur bedingt, bis gar nicht, umsetzbar. In PNG gibt es kaum Endgeräte und das Strom- und somit Internetnetz sind fragil. Digitale Datenbanken oder digitale Telefonie benötigen zu viel Datenvolumen für das dortige Netz. Eine Kommunikation per E-Mail ist punktuell und nur zeitverzögert möglich. Welche Alternativen bestehen noch? Von kollaborativen Projekten zwischen hiesigen Museen und den Herkunftsgesellschaften wird eine digitale Sichtbarmachung der europäischen Bestände gefordert. So können die Objekte in den europäischen Sammlungen transparent von jeder und jedem weltweit eingesehen werden. Die deutsche Museumslandschaft wandelt sich und versucht Barrieren auf dem Weg zur Restitution abzubauen. Doch welche Auswirkung hat dies auf die Herkunftsgesellschaften? Wer wird wie digital repräsentiert? Wer nicht? Wen inkludiert oder exkludiert die digitale Welt? Was bedeutet es für die globale Welt, dass Menschen in PNG technisch bedingt nicht partizipieren können? Für die Beantwortung dieser Fragen wünsche ich mir einen fachlichen Austausch im Rahmen der DGSKA Herbstakademie und darüber hinaus.
Geschrieben am 3. Oktober 2020 und überarbeitet am 9. Oktober 2020
Katharina Nowak ist Doktorandin am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Sie promoviert zu dem Thema Dekolonisation, Dekonstruktion, und Kontextualisierung von musealen Sammlungen, Zusammenhänge zwischen Praktiken der Wissensproduktion und musealen Sammlungen aus kolonialen Kontexten. Ihre Fachgebiete sind Anthropologie, Ethnologie und Museologie. Ihre Forschungsinteressen umfassen Wissensproduktion und Postkolonialismus mit regionalem Schwerpunkt auf Papua-Neuguinea. Kontakt: kanowak[at]uni-bremen.de
References
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