23/02/21

Wir flotten Schneefeger

Sibirische Körpertechniken von Athen aus betrachtet

16. Februar 2021, Foto: Stefanie Peter

Wer dieser Tage Post aus Nowosibirsk bekommt, wird naturgemäß Auskunft über das Wetter erhalten. Seine Freunde in der Ferne über Temperaturen und Schneehöhe ins Bild zu setzen gehört zum sibirischen Neujahrsgruß dazu wie Väterchen Frost und Snegurotschka. In diesem Jahr – so liest man beruhigt in einer Email aus Nowosibirsk – ist es mit minus 10 Grad angenehm warm; ja genau richtig, um im Park Langlaufski zu fahren oder den kurzen Weg zum Supermarkt in geöffneter Daunenjacke zurückzulegen – natürlich vorausgesetzt, es weht kein Wind. Dass die Wetterberichte der Sibirier an die Bewohner gemäßigterer Klimazonen immer eine Portion Stolz enthalten, versteht jeder, der einmal zwischen Ob und Jenissei überwintert hat. Denn gerade jetzt, in der kalten Jahreszeit, zeigt dieser Landstrich sein schönstes Gesicht. Schnee ist hier der häufigste Niederschlag und seit November scheint die Welt unter einer manchmal meterhohen Decke begraben zu sein. Die Einheimischen führen tagtäglich vor, wie sich das Leben unter Extrembedingungen meistern und dabei zugleich in vollen Zügen genießen lässt. In Nowosibirsk führt Frost nicht zu Stillstand und Abstumpfung, sondern zu einer erhöhten Lebensintensität. Die Kälte setzt Energie frei.

Die Aufmerksamkeit beginnt bereits am Morgen. Wer sich vor dem Verlassen des Hauses vergewissern möchte, wie kalt es ist, wird nicht aufs Außenthermometer schauen oder auf sein Smartphone, sondern aus dem Fenster: Gehen die Menschen draußen sehr schnell, so sollte man sich ebenso warm anziehen, denn dann verspricht es, eisig zu werden. Gehen sie im normalen Tempo oder schlendern sogar, dann kann man beruhigt sein, denn mehr als 10 Grad unter null sind nicht zu erwarten. Das sichere Gehen auf Schnee und Eis gehört zu den ersten Überlebenstechniken, die bei Einbruch des Winters aktiviert werden müssen. Spätestens im Februar reichen rutschfeste Sohlen unter den Schuhen dazu nicht mehr aus, spitze Absätze leisten oft bessere Dienste. Der Schnee ist dann in die Stadt hineingewachsen und hat eine wilde Topografie aus Türmen, Mauern, Treppen und Gebirgszügen von alpiner Schroffheit entfaltet. Die ganze Stadt ist während der Wintermonate höhergelegt. Es ist ein Gelände mit neuem Wegesystem entstanden, das neben Orientierungssinn auch einigen Mut beim Beschreiten und Befahren von Buckelpisten verlangt. Der Bewegungsradius ist eingeschränkt. Gewohnte Abkürzungen sind plötzlich nicht mehr passierbar, dafür führen neue Trampelpfade an Orte, die man bisher noch gar nicht wahrgenommen hat. Der Schnee hat eine steinerne Konsistenz. Und weil er wirkt, als wolle er für immer bleiben, beginnt man, ihn zu respektieren und seine Formationen und Schichten zu studieren. Die Arbeit der Schneefeger wird darüber zum alltäglichen Anblick. Mit Stoßscharren und Schaufeln wird Gefrorenes und Festgetretenes fachkundig von den Gehwegen gelöst, mit Baggern oder per Hand auf LKWs geladen, an den Stadtrand verfrachtet und dort zu Bergen aufgetürmt.

An prominenten Plätzen im Zentrum machen sich Eisbildhauer ans Werk und schaffen ganze Skulpturenparks aus Märchenfiguren, Wappentieren und anderen Wahrzeichen, die tagsüber im Sonnenlicht strahlen und glitzern. Diesmal haben sie sogar die Tram Nr. 13 verewigt, eine Nowosibirsker Straßenbahn, die wegen häufiger Verwicklung in Verkehrsunfälle als „traurigste Straßenbahn“ in die städtische Mythologie eingegangen ist.

Im Winter wird das Leben in Sibirien von einem Hauptunterschied geprägt: dem zwischen Draußen und Drinnen. Wer einmal bei eisigem Steppenwind durch die zentnerschweren Glastüren am Eingang zur Nowosibirsker Metrostation „Leninplatz“ gegangen ist, weiß, wie dieser Kontrast sich anfühlt. Um sie zu öffnen, muss man sich mit dem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen und anschließend sehr aufpassen, dass die Tür, wenn sie wieder zurückschwingt, niemandem entgegenschlägt. Warum die Türen so schwer sind und ihr Schwung durch keinen Mechanismus gebremst wird, will einem zuerst nicht recht einleuchten und viele Male verflucht man die vermeintliche Fehlkonstruktion. Sie hat jedoch einen Sinn: Nur so lassen sich Wind und Kälte abhalten und die Wärme im U-Bahngebäude speichern.

Bei Autos funktioniert das Aufwärmen anders. Hier lassen die Fahrer den Motor oft schon von der Wohnung aus per Fernbedienung anspringen und eine Zeitlang warmlaufen, um dann gemütlich loszufahren. PKWs, die wie Geisterautos mit dampfendem Auspuff aber ohne Insassen am Straßenrand oder auf Parkplätzen stehen, sind im sibirischen Winter ein Anblick, der niemanden aus der Ruhe bringt.

Was die Winterkleidung angeht, so ist in den letzten Jahren selbst in Nowosibirsk der langsame Abschied vom Pelzmantel zu beobachten. Natürlich gibt es immer noch zahlreiche jüngere und ältere Damen, die in Nerzen, Füchsen und Lammfellen den Krasny Prospekt entlang und durch Shopping-Malls stolzieren, aber die Daune ist auch hier – in Mänteln wie Jacken – eindeutig auf dem Vormarsch. Allein an der Operngarderobe werden weiterhin überdurchschnittlich viele Pelzmäntel abgegeben. Sie schützen die Trägerinnen hauchdünner Abendkleidchen immer noch am besten gegen den Frost.

Je unwirtlicher und menschenfeindlicher die Außentemperatur, desto geringer die Bereitschaft, hinauszugehen. Jedem Schritt vor die Tür geht eine strenge Kosten-Nutzen-Prüfung voraus. In den Innenräumen, hinter den grauen und gekachelten Fassaden der Wohntürme und Plattenbauten, erschaffen sich die Nowosibirsker künstliche Paradiese, Wohnzimmer mit flauschigen Teppichen, Springbrunnen und tropischen Pflanzen. Eine wetterbedingte Form des Eskapismus. Es wird dann viel und gern geschlafen. Wer sich aufs Ohr legen möchte, muss sich nicht rechtfertigen. Schlafen wird toleriert, denn Kälte macht müde, und wenn sie andauert fallen viele in einen regelrechten Winterschlaf. Es wird Tee getrunken und dazu Warenje gegessen, eine dünnflüssige Marmelade mit ganzen Früchten. Die aus eingekochten Tannenzapfen zählt zu den geschmacklich intensivsten Varianten. Herbsüß, harzig schmeckt die purpurrote Flüssigkeit und beim Zerkauen eines Zapfens kommt es einem vor, als hätte man den ganzen Kiefernwald im Mund. Wer nicht raus kann in die Tajga, der holt sich die Tajga so ins Haus.

Ein sicheres Rezept gegen Kälte ist ein Gang in die Banja. Für gestresste Berufstätige gibt es im mitten im Stadtzentrum die „Botschkas“, das sind Zedernholzfässer aus dem Altaj-Gebiet, in denen jeweils eine Person sitzen und im Dampf erlesener Kräuter zwanzig Minuten schwitzen kann, wobei der Kopf im Freien bleibt. Es folgen eine Rückenmassage und eine Ruhephase. Wer nach einer solchen Behandlung wieder in die Kälte des Abends hinaus tritt, fühlt sich stark wie ein Baum. Beim traditionellen Verfahren, das ursprünglich aus Chakassien stammt, wird der Dampf mittels Schläuchen in das Holzfass hineingepumpt. Die Nowosibirsker „Botschka“ liegt in einem Keller in der Oktjabrskaja-Straße mit einem kaum sichtbaren Firmenschild, dafür aber einer Überwachungskamera über der eisernen Eingangstür. Manchmal sitzen hier drei oder vier Personen gleichzeitig in ihren Fässern, abgetrennt nur durch Stoffvorhänge. Das Ganze wirkt so ländlich, dass man sich fragt, ob man noch immer in Russlands drittgrößter Stadt ist.

Was für unsere Psyche zutrifft, gilt auch für Städte: das Vergangene wird stets bearbeitet und umgewandelt, kann aber nie ganz ausgelöscht werden. Nowosibirsk ist aus einem Dorf entstanden, aus einem Lager von Ingenieuren und Arbeitern, die vor 125 Jahren anfingen, eine Brücke über den Ob zu bauen. Hier, an seiner schmalsten Stelle, sollte die Transsibirische Eisenbahn den Fluss überqueren. Schon damals bedurfte es gewaltiger Kraftanstrengungen, mussten Kulturtechniken entwickelt werden, um in der Kälte zu bestehen. Diese historischen Erfahrungen haben sich im Gedächtnis und in der materiellen Struktur von Nowosibirsk sedimentiert und wirken in den Einstellungen und Gewohnheiten der Einheimischen fort. Zwar sind die Holzhäuser aus der Gründerzeit bis auf wenige Exemplare abgerissen und wird die Skyline längst von Hochhäusern dominiert. Fährt man aber die Hauptverkehrsader, den Krasny Prospekt, entlang, in dessen Nähe immer noch alle wichtigen Verwaltungsgebäude, Kultureinrichtungen, Geschäfte und Cafés angesiedelt sind, so blickt einem jenes Straßendorf entgegen, aus dem die heutige Metropole gewachsen ist.

Auch das Gefühl, hier an der Peripherie, im Exil zu sein, verschwindet nie ganz. „Wie klein und nichtig sind seine Missetaten, seine Leiden und er selbst im Vergleich zu der gewaltigen Taiga! Wenn er hier in der Tajga zugrunde geht, so ist das nicht erstaunlicher und nicht schrecklicher als der Untergang einer Mücke“, schrieb Tschechow in seinen sibirischen Reisenotizen über einen Flüchtling, den er am Wegesrand sah. Gerade im Winter, angesichts von Kälte und Eis, tritt das Gefühl der Verlorenheit einmal mehr hervor.

Erst im April, wenn die Strahlkraft der Sonne stärker wird und die Temperaturen wieder über Null steigen, werden sich die Schneemassen in Schlamm verwandeln. Der Asphalt ist aufgebrochen vom harten Winter, man watet durch metertiefe Pfützen, Sturzbäche ergießen sich aus Dachrinnen und überfluten Straßen und Bürgersteige. Was bis vor kurzem noch weiß geglitzert hatte ist nun graubraun und fahl. Ist alles getrocknet und der Matsch verschwunden, steht man plötzlich in einer staubigen Steinwüste. Die Sonne brennt, die Luft nimmt den Atem. Doch dann beginnen explosionsartig die Bäume zu blühen, und der Sommer ist wieder da. Nowosibirsk wird vom Wetter regiert. Das Wetter ist Gesprächsthema, Ausrede und Erklärung für alles Mögliche. Es zwingt die Menschen in die Kreisläufe der Natur und erzeugt eine Art des Wir-Gefühls, das den Bewohnern gemäßigterer Klimazonen unbekannt ist.