23/02/21

Technisches

Vom Faustkeil André Leroi-Gourhans bis zum Hammer Martin Heideggers standen Theorien des Technischen immer schon in einer extrem engen Verbindung zum Dinglichen. So scheint sich vielmehr die Frage zu stellen, ob es das Technische jenseits seiner materiellen Gegebenheit, seiner alltäglichen Zuhandenheit und seiner komplexen Verwobenheit mit dem menschlichen Körper überhaupt geben kann. Ich werde dieser Frage und seinen Implikationen am Beispiel eines zumindest auf den ersten Blick eher untechnischen Dings nachgehen, der Zeit: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verhinderten idealisierte Konzepte von Zeit, dass diese genau und nur zu dem werden konnte, was sich mithilfe von Uhren erzeugen lässt. Bekanntlich radikalisierte erst Albert Einstein das Gemachtsein von Zeit als fundamentales Prinzip der Physik, nämlich als strikt relatives, beobachterabhängiges Phänomen. Damit sind die Pole markiert, die unser Denken von Zeit aufspannen: reine Anschauungsform auf der einen Seite, technisches Produkt auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden die Technisierungs- und Rationalisierungsgeschichte der Zeit als materielles Kulturprodukt des Mittelalters rekapitulieren, um hieraus Antworten auf die Frage zu entwickeln, inwiefern sich technische Gegenstände von anderen Dingen unterscheiden.

 

Räderuhr und Weltmaschine

Die Geschichte der Technisierung der Zeit im Mittelalter ist vielfach erzählt worden. So trifft der primär agrikulturell geprägte temporale Ordnungsrahmen jahreszeitlicher Rhythmen und Zyklen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf eine neue Technologie, auf den Prototypen aller Maschinen: die Räderuhr. Innerhalb dieser Erzählung wird die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften mit ihren hoch komplexen Interaktions‑ und Produktionsprozessen durch eine sämtliche Lebensbereiche durchdringende, synchrone Zeitordnung möglich. Die Räderuhr als zentrales technisches Moment dieser neuen Ordnung verwandelt sich damit selbst von einem bloßen Werkzeug zur Messung von Zeit in eine Maschine zur Generierung von Zeit im Sinne Lewis Mumfords.

Selbstverständlich wirft eine derart zugespitzte Erzählung eine ganze Reihe von Fragen auf. Dabei gilt es zunächst dem technikdeterministischen Grundverdacht zu begegnen, dass es nicht die Uhren selbst sein können, „die die Zeit verändern.“ (Dux: 2017) Denn Techniken der Zeitmessung in Gestalt von Gnomon, Sanduhr oder Klepsydra gab es ebenso wie die horae aequinoctiates bereits seit der Antike. Insofern generiert die Räderuhr nicht einfach die Zukunft einer neuen Temporalität, sie ist vielmehr als technischer Entwurf zugleich ihre eigene Gegenwart. Die Welt ist nicht nach der Räderuhr eine andere, sondern innerhalb der sich stark verändernden Welt des Mittelalters verwandelt sich auch die Uhr vom Werkzeug in eine Maschine.

Womit die überaus schwierige Frage in den Blick gerät, inwiefern technische Differenzen als historische Differenzen zu verstehen sind. Ist es wirklich legitim, Geschichte entlang technischer Errungenschaften zu erzählen, oder ist das Verhältnis von Zeit und Technik nicht ein viel komplexeres? Um diese Frage genauer diskutieren zu können, soll zunächst der Mechanismus der Räderuhr genauer analysiert werden. Entscheidend für die Technik der Räderuhr ist die Koppelung von Zählen und Messen. Während das Messen von Zeit grundsätzlich analog geschieht – der Schatten des Gnomons wandert kontinuierlich über den Boden, weil die Zeit für den Menschen unaufhaltsam dahinzuströmen scheint –, ist Zählen eine prinzipiell digitale Operation. Eine Zahl muss sich faktisch von einer anderen unterscheiden, wobei die Token, mit denen die Praxis des Zählens durchgeführt wird, Finger, Kerben oder Zahnräder, aber eben kein Wasser und kein Sand sein können.

Zum entscheidenden technischen Element wird damit die Hemmung, also das mechanische Ineinandergreifen einer kontinuierlichen Drehbewegung und einer diskontinuierlichen Schwingungsbewegung. Bei den frühen Räderuhren ist dies das Foliot oder die Balkenwaag: Das von einem Gewicht in Drehung versetzte Kronrad greift abwechselnd in zwei an einer Spindel befestigte Lappen ein, wodurch ein auf die Spindel gesetzter Balken hin und her gestoßen wird. Das Trägheitsmoment des Balkens erlaubt eine Regulierung des Uhrengangs auf etwa 15 Minuten Abweichung pro Tag. Diese sich in der Hemmung vollziehende Übersetzung einer kontinuierlichen in eine diskontinuierliche Bewegung könnte man nun auch als eine Übersetzung zwischen dem Realen und dem Symbolischen interpretieren: Zwar sehen wir die Zeit nach wie vor kontinuierlich und zyklisch auf dem Kreisrund des Ziffernblatts verfließen, aber kommunizierbar wird sie als exakt abzählbare Menge von diskontinuierlichen Bewegungsmomenten, die in ihrer Summe eine bestimmte Zeitdauer bedeuten.

 

Technik und Zeit

Zeit wird im späten 14. Jahrhundert also zu einem Gegenstand, der genau wie jedes andere Ding abzählbar, kalkulier- und teilbar ist. Zeit wird zu einem technischen Ding und damit zugleich zu etwas, über das sich mit Martin Heidegger reden und verhandeln lässt. Damit steht die Uhr als konkrete Technik im Kontext einer zunehmenden Komplexion und Abstraktion urbaner Lebenswelten. Vermittelt über die Räderuhr, reiht sich die Zeit buchstäblich in die sozialen Zeichensysteme vor allem von Ökonomie und Infrastruktur ein. Die Räderuhr kann Zeit also genau deshalb in einen teilbaren Gegenstand verwandeln, weil sie in eine breite Kultur des Teilens und Handelns eingebettet ist: „Die Erfindung des Menschen ist die Technik. Sowohl als Objekt wie als Subjekt.“ (Stiegler: 2009)

Wie lässt sich nun vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Technik und Zeit genauer fassen? Wenn mit und in der Uhr Zeit zu einem technischen Ding wird, so bedeutet dies nichts anderes, als dass über die Koppelung von Zeit und Zahl eine enorme Vielfalt von Kulturtechniken der Synchronisation ermöglicht werden:

Alle technischen und gelehrten Vorteile hätten freilich wenig bewirkt, wäre die Umstellung nicht zugleich der Mentalität von Stadtbürgern entgegengekommen. Ihre Tagesarbeit, immer öfter durch Werkzeuge terminiert und durch Geldzahlung entlohnt, sollte innerhalb der Stadtmauern kalkulierbar und kontrollierbar, mithin gleichförmig sein. (Borst: 1999)

Ersetzen wir an dieser Stelle den von Arno Borst verwendeten Begriff der Gleichförmigkeit durch den der Synchronisation, deutet sich bereits für das Mittelalter eine auf der Technisierung von Zeit basierende Kulturtechnik an, deren kulturelle Wirkmächtigkeit noch heute, im Zeitalter omnipräsenter Nachrichten und Bilder, überrascht wie schockiert.

Synchronisation lässt sich aber, und dies führt zum entscheidenden Argument dieses Beitrags, auch auf einer zweiten Ebene beobachten, nämlich im Begriff des Technischen selbst. Wenn nämlich die Technisierung von Zeit über das Medium der Uhr mit der Produktion von temporaler Ordnung verbunden ist, dann bedeutet diese Form der Hegung von Kontingenz nichts anderes, als dass sich die Gegenwart in der Fiktion ihres eigenen Entwurfs befindet. Zukünftige Ereignisse werden durch Technik im Modus einer stabilen, verlässlichen und gleichförmigen Temporalität vorweggenommen. Sie sind als Erwartetes gewissermaßen immer schon anwesend, weil sich das eigene Handeln auf das sicher Eintretende hin ausrichtet. Dabei tut die vom Technischen prinzipiell erwartete Kontingenzreduktion ihr Übriges, so dass hinter der Technisierung von Zeit das Wesen von Technik selbst aufscheint: die Verfügbarmachung und Wirksamkeit des Zukünftigen in der Gegenwart. Die sich damit v. a. im 19. Jahrhundert ereignende Verschränkung von Raum und Zeit sei hier nur angedeutet: Seither nehmen wir die Eisenbahn, um, wie im Fahrplan vorhergesagt, zu einer bestimmten Zeit das Ziel erreicht zu haben, nicht aber, um eine Reise anzutreten.

In der Bewertung dieses Futurum exactum des Technischen lässt sich nun entweder der Schwerpunkt stärker auf die sichere Erwartung eines Zukünftigen oder auf die Wirksamkeit dieses Zukünftigen in der Gegenwart selbst legen. Letzteres wurde in jüngster Zeit vor allem durch Elena Esposito und Joseph Vogl prominent vertreten. So behandelt Esposito die Vorwegnahme als Gegenwart, also die technische Projektion wahrscheinlicher Zukünfte als bereits real, wodurch sich die Wirklichkeit verdoppelt. Vogl treibt diesen Gedanken insofern noch weiter, als für ihn die Gegenwart in ihrem fiktionalen Selbstentwurf auf die Zukunft als je schon seiende ihre Erwartungen beständig und unabhängig von dem, was wirklich geschieht, korrigieren muß. Womit die Krise in der Gegenwart auf Dauer gestellt wird – das beste Beispiel hierfür ist vielleicht der Klimawandel.

Weder jedoch bei Esposito noch bei Vogl geht es um das Technische im engeren Sinne, allenfalls um Kulturtechniken des Schreibens (im Roman), um Algorithmen von Analysten (im Kapital) oder um metaphorische Maschinen (in der Phantasie). Ich möchte an dieser Stelle mit Bernard Stiegler und Gilbert Simondon einen Schritt weitergehen:

Bleibt indessen herauszufinden, ob die Antizipation nicht seit dem Ursprung konstitutiv in der Technizität des Objektes selber situiert ist. (Stiegler: 2009)

Technologie, und hierfür ist die Technisierung von Zeit im Medium der Uhr nur ein, allerdings ein für das Mittelalter entscheidendes Beispiel, sind technische Dinge samt ihrer korrespondierenden Praktiken, die ihre eigene Zukunft sind. Der technische Gegenstand generiert Zukunft, indem er diese in Gegenwart verwandelt. Entscheidend ist dabei, was Gilbert Simondon die Genese des technischen Objekts genannt hat: Durch das grundsätzliche Versprechen der Evolution wird ein technischer Gegenstand in seinem Gebrauch zwangsläufig zu seiner eigenen Vergangenheit: Eine Uhr zeigt die Zeit an und wird sie morgen genauer anzeigen können; eine Uhr ist dieses konkrete technische Objekt und zugleich die ihr folgende, genauere und komplexere Uhr. Und indem wir diesen einen technischen Gegenstand verwenden, vertrauen wir zugleich auf den nächsten, den nächsten und den nächsten Gegenstand. Technologie ist eine Kette technischer Dinge, und genau dadurch sind diese immer schon ihre eigene Zukunft.