23/02/21

Die Minerva der Apokalypse

Notizen zum Schamanismus von Elias Canetti und Ernesto de Martino

Quelle: Link

Für Erhard Schüttpelz

 

1

Das abendländische Denken über das gute Leben ist von der Dichotomie zwischen Sein und Haben geprägt. Auf der einen Seite dominierte lange die Idee der Vervollkommnung durch Hingabe, Bildung, Formung, auf der anderen die – meist mit philosophischen Gründen abgewehrte – von schlichter Zunahme, Wachstum, Erfüllung des Potenzials etc. Spätestens mit dem Ende der Moderne geraten beide in eine Krise: ‚Sein‘ schützt nicht vor Barbarei, und ‚Haben‘ nicht vor der Vernichtung, wie es vielleicht noch Hegel im Sinn hatte, dessen Philosophie des Rechts Besitz als individuelles Schutzschild rechtfertigte.[1] Im Gegenteil tritt nun die Notwendigkeit auf, Sein vom Nicht-Sein, Haben vom Nicht-Haben her zu denken, wodurch sich die Dichotomie ein Stück weit in Dynamisierungen auflöst (exemplarisch in Ernst Blochs Tübinger Einleitung in die Philosophie: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“

Nachfolgend sollen die Entwürfe zweier Autoren schlaglichtartig beleuchtet werden, die die Verschränkung von Sein und Nicht-Sein, von Haben und Nicht-Haben in der angesprochenen Krisensituation zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten nahmen und damit zugleich der Säkularisierung der jeweiligen Konzepte zuarbeiteten. So lange ein ‚ganzes‘ Sein im Jenseits postuliert werden konnte, wie in Kants Kritik der praktischen Vernunft, war Zuwachs an Sein als linearer Prozess vorstellbar, in einer sich vervollkommnenden Welt, wogegen eine ihre Unvollkommenheit ausstellende Welt den Schluss vom Denken aufs Sein suspendierte und das Haben auflud.[3] Elias Canetti (1905–1994) und Ernesto de Martino (1908–1965) haben je auf ihre Weise über den Zusammenhang von Selbstverlust und Selbstgewinn (sprich von Nicht-Sein, Sein und Haben) nachgedacht, und haben daraus sogar eine Art von Ethik entwickelt, auf der Basis ethnologischer Lektüren und Beobachtungen. Deshalb kann man beide versuchsweise miteinander ins Gespräch bringen, wenngleich wohl keiner der beiden vom jeweils anderen Notiz genommen hat – Und wie es mit der jenseitigen Vervollkommnung der Individualität aussieht, darüber soll an dieser Stelle gar nicht erst spekuliert werden.

Vom Bekannten zum Unbekannten: das heißt, für deutsche Leser, von Canetti zu de Martino. Aber warum einen Weg zurücklegen? Tatsächlich ist der aus dem bulgarischen Rousse stammende, in Manchester, Zürich, vor allem aber in Wien aufgewachsene und später ins englische Exil gezwungene Canetti der Prototyp jener polyglotten, mitteleuropäischen Autoren gewesen, von denen es heißt, dass sie, die Emigranten, die einzigen seien, die nicht reisen können.[4] Canetti begann als Romancier und Dramatiker, bekam später den Nobelpreis für seine dreibändige Autobiografie, widmete sich täglich seinen Kürzestessays und Aufzeichnungen; – aber die Mitte seines Werks bildet die zwischen 1939 und 1960 erarbeitete Studie zu Masse und Macht. Sie ist aus einem selbst auferlegten Opfer hervorgegangen, dem Verzicht auf jedes weitere belletristische Schreiben. Man kann auch sagen, dass sie den Autor selbst in mezzo nel cammin fixiert, obgleich es der Autor ist, der diese Fixierung als von ihm gewollte darstellt: „Vom ersten Tag in England an war es mein Ziel, mich ausschließlich der Arbeit an ‚Masse und Macht‘ zu widmen. Nichts anderes sollte zählen, keine ‚Literatur‘ war erlaubt.“[5]

Masse und Macht therapiert, im Blick auf seinen Verfasser, die Marginalisierung durch das seit 1938 erzwungene Exil mit der Selbstmarginalisierung, ja -kasteiung, die Canetti auf seinen täglichen Wegen aus Hampstead zum Russell Square und von dort zur Bibliothek des British Museum erlebte. Dabei scheint er sich durchaus als Stellvertreter gefühlt zu haben: der – nicht nur europäischen – Juden, aber auch der Deutschen, deren Sprache er vor dem Absinken in die Barbarei zu retten wünschte. Diese Rollen konnte er übernehmen, weil er nicht nur auf sie festgelegt war: Er schrieb auf Deutsch, aber er hätte auch gut in einer anderen Sprache schreiben können; er war sefardischer Jude, aber er war zugleich Wiener Intellektueller; er war Dichter, aber er war auch Denker.

Stellvertreterbewusstsein war durchaus nicht selten unter seinesgleichen. In dem Prager Lyriker und Oxforder Ethnologen Franz Baermann Steiner (1909–1952) hatte Canetti einen Freund, der sich zeitig als Zionist verstand und deshalb mit der jüdischen Geschichte selbst identifizierte, sich nun in London als „Babels Vertrauter“ empfand und als „Schaustück jüngster Verbannung“ mit dem Inventar des British Museum, Objekten aus „Haida, Hellas und Ur“ in eine empathische Beziehung trat.[6] Gemeinsam nahmen sie Kontakt auf zum Student Movement House, in dem ein nicht unbeträchtlicher Teil späterer postkolonialer Protagonisten aus British Empire und Commonwealth zusammentraf. Dass Isolation verband, erzwungene Emigration das Bewusstsein, in der Mitte der Geschichte zu stehen – und damit für ihre Wendung sorgen zu müssen – erhöhte, ermöglichte vielleicht überhaupt, diese Ausnahmesituationen anzuerkennen und zu überstehen. Viele der beteiligten Personen wurden später in postkolonialen Bewegungen aktiv, Canetti hingegen nährte sein Werk von den Eindrücken, die sie bei ihm hinterließen.

Ist es gerechtfertigt, hier von Selbstverlust zu sprechen? Und vom Stellvertreterbewusstsein als Hypertrophierung des Selbstverlusts, wobei die geopferte Konkretheit des Selbst durch dessen gesteigerte Mobilisierung aufgefangen wird? Immerhin wird man zugeben, dass mehrere dieser Motive ineinander greifen: Der Selbstverlust im Exil betrifft die Sprache (eingeschlossen den Verlust des Selbst an eine neue Sprache), er betrifft verwandtschaftsmäßige Zugehörigkeit, die Möglichkeit jemand zu sein. Nicht nur geht es um die Aufgabe Mitteleuropas, einer halbwegs säkularen jüdischen Lebenswelt, einer fragilen Moderne. Es geht um die Kontinuität oder besser noch: Kontiguität von Lebenden und Toten, um ihre Repräsentation.

Franz B. Steiner hatte in Wien noch an eine Arbeit über Reinkarnationsvorstellungen in Eurasien gedacht, mithin an eine Studie über die Formen, in denen Tote wiederkehrten, ihre Verwandlungen vornahmen und somit einen unausschöpflichen Zusammenhang von Verwandtschaft wie ein Netz über alles Lebendige legten. Er begann 1939 mit Prolegomena zu einer Comparative Study of Slavery: „Der Sklave,“ so wird Steiner später zusammenfassen, „ist ein Mensch ohne Verwandtschaft in einem auf Versippungsformen gegründeten Haushalt der Freien bezogen“.[7] Ohne Verwandtschaft fehlt die soziale Adresse, damit auch die Möglichkeit, sie zu ändern, sich zu überschreiten, oder, um einen für Canetti und Steiner nicht nur in diesen Jahren zentralen Begriff zu bemühen, sich zu verwandeln. Aus diesem Grund beschrieb beispielsweise Steiner seinen eigenen Zustand als Gast eines die örtliche Willkommenskultur repräsentierenden College-Leiters als den eines Sklaven, so zuvorkommend er auch behandelt wurde. Dagegen spricht er mit Blick auf fremdkulturelle, etwa afrikanische Formen der ‚Hörigkeit‘, von einem unvollständigen Verwandlungsverbot, weil die ‚Sklaven‘ dort nach und nach in die jeweilig siegreiche Gesellschaft integriert und zu Verwandten gemacht würden.

Steiners Überlegungen zum Zusammenhang von Verwandtschaft und Verwandlung sind schon durchdrungen vom Bewusstsein für die Verschränkung von Selbstgewinn und Selbstverlust. Noch deutlicher wird dies an seiner Formulierung des „soziologischen Hauptprinzips“ (1942), wonach „kein Individuum eine Stelle haben kann, ohne sich mit etwas zu identifizieren, und dass es keine Identifizierung ohne Verwandlung gibt“.[9] Bei Canetti liest man ab 1942, er wolle die Verwandlungslehre für eine Therapie der gesellschaftlichen Ordnung einsetzen. Die Idee, Sklaverei gründe auf „versagten Verwandlungen“ fügt er in eine genealogische Sequenz mit dem Viehbesitz (Sklaven als „Nachfolger der Haustierherden“), das heißt, er ordnet sie in die als Verfallsgeschichte gedeutete Geschichte der Sesshaftwerdung (Haben ist hier Gehabt-Werden, und Sein gleich Nicht-Sein). Reflexionen über den aufgegebenen Nomadismus, über die außer Kontrolle geratene im imperialistischen oder auch bloß kapitalistischen Produktionsregime, finden sich bei Steiner und Canetti zuhauf.

Nun wäre es angesichts der am eigenen Leib erfahrenen Einschnürung auf die Rolle des Gastes bzw. Sklaven oder Exilanten, als Angehöriger einer auf dem Kontinent soeben ausgelöschten ethnischen oder religiösen Gruppe, ein Leichtes, die Verwandlungen der anderen zu idealisieren. Genau das aber tut Canetti nicht. Lesend, schreibend, diskutierend schlägt er sich zu ihnen hin – Kafka abwandelnd: Wie kann man sich vor der Welt retten, ohne sich zu ihr zu flüchten? –, zu den Wildbeutern Südostafrikas (deren Weisheiten eine „Herrlichkeit der Weltliteratur seien, ohne die ich nicht mehr leben möchte“[11]) oder zu den Eskimo, aber da Canetti ja ‚einer der ihren‘ ist, braucht er ihnen nur das zu entlehnen, was er ihnen auch geben kann. Schmerz, Verlust, Angst – all diese Zustände, die die ‚Primitiven‘ in nicht minderem Maß treffen als die übrige Bevölkerung, werden von ihm gesehen. Obgleich er schreibt: „Was ich von den Primitiven gelernt habe, ist unausschöpfbar“,[12] ist er kein Primitivist – oder einzig in dem Sinne, dass er die Entgegensetzung von europäischer Hochkultur und sogenannter Stammeskultur transzendiert und die Autonomieästhetik als eine Sackgasse begreift, ist es doch die Vielheit der Vielen, die Verwandlung in sie alle, die das große Projekt einer Weltdichtung darstellen müsste. Die europäische Literaturgeschichte, sie hat zu enge Röcke, denn sie nimmt nicht auf, wer jemand „hinter seinen Worten ist“ (das Wichtigste laut Canetti, in seinen Erinnerungen an Steiner).[13] In ihr geht der große Anteil der Performanz, des Mündlichen, des gestisch Unterlegten verloren. Unter der Bedingung, dass wir Europäer nie nur modern gewesen sind, kommt die Entdeckung der primitiven Welt für Canetti einer Befreiung gleich – aus einem stählernen Gehäuse zurück in den Mythos, der Erkennbarkeit verleiht und Zusammenwirken ermöglicht.

Gefährdet wird die Verwandlung nach Canetti an zwei Polen. Zum einen dort, wo keine Verwandlung möglich ist, wo man niemand wird und niemand sein kann: bei den Sklaven, bei den Verwandtschaftslosen, den in Zwang Gehaltenen. Zu ihnen gesellen sich die, die sich selbst unter Zwang setzen, zuvörderst diejenigen, die dem Zwang des Identischen verfallen sind. Am anderen Pol befinden sich die, die sich nur verwandeln, die rastlos ihre Masken wechseln ohne sie auszuschöpfen.

Der erste Pol wird in Canettis essayistischem Hauptwerk Masse und Macht von einem Literaturbeispiel und einem Typus der jüngsten Zeitgeschichte gebildet – obgleich dieser Typus Ähnlichkeiten mit zahlreichen vorausgegangenen Vertretern aufweist. Das Literaturbeispiel ist „der Fall Schreber“, sprich, der Dresdner Jurist Daniel Paul Schreber (dessen Vater den Freizeitgärten der Arbeiter und unteren Angestellten den Namen gab: kosmologische Spiele, bei denen sie von sich absehend ein Ideal der geordneten Welt verwirklichen konnten). In seinen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) lässt Schreber seine Psychose so ausgiebig wie kaum jemand Revue passieren. Canetti erschreckt und fasziniert diese Person, die das gesamte Weltgeschehen, sei es historisch, zeitgenössisch, biologisch, geologisch, auf sich bezogen denkt und Leben vor allem als Überlebenskampf gegen die Verschwörung betrachtet, die das Leben doch selbst ist. Hier fallen enormer Reichtum an Kraft und Bilderverarmung in eins. Aber sie sind eben nur Ausdruck eines Grundstrebens im Menschen, das Canetti im Zeichen des ‚Überlebenden‘ fassen möchte. Im Überleben verwirkliche sich der „Augenblick der Macht“, schreibt er.[14] Umgekehrt bedeutet Macht zu haben, sich als Überlebenden zu wissen: die anderen tot zu sehen. Dies kann als Phantasmagorie des Machthabers grausame Wirklichkeit werden, wenn Menschen getötet werden sollen, um den eigenen Status zu erhöhen; zugleich kann es in die pathologische Phantasie des Machtlosen einwandern, die die Anderen ‚tot‘ vorfindet, um sich durch diese Art Kältetod zur Existenz zu ermächtigen. Und natürlich – und dies bildet den zeithistorischen Fluchtpunkt von Masse und Macht – ist der „Augenblick der Macht“ antizipiert in der Idee der weltweiten Auslöschung der Feinde durch die Atombombe, an einem Punkt, an dem – aufgrund der technologisch bewältigten Entfernung jeder Ferne – zwischen Phantasie und Wirklichkeit kaum mehr zu unterscheiden ist. Canetti sieht, dass es nicht nur darum gehen darf, die Bombe zu entschärfen, sondern dass die Figur des Überlebenden selbst dekonstruiert werden muss. Dafür aber bedarf es nicht weniger als einer anthropologischen Revolution.

Der zweite Pol ist bezeichnet durch den „Meistverwandler“. Als solchen charakterisiert Canetti den Schamanen.[15] In Canettis Werk erhebt er sich noch einmal, während er im historischen Rückraum des Textes, der gelebten Wirklichkeit, zusehends verschwindet: Seine Trommeln sind konfisziert, in Sibirien und China wird er in Umerziehungslager gesteckt.

Dem Schamanen ist die Welt durchlässig, er kommuniziert mit den Geistern, sein Vermögen ist eines der grenzenlosen Empathie. Natürlich weiß Canetti auch von den Entbehrungen der Schamanen zu berichten, wie sie aus der zeitgenössischen ethnologischen Literatur entgegentreten, aus Knud Rasmussens Erinnerungen an Aua, die in der Fifth Thule Expedition festgehalten ist, oder aus den sorgfältigen Zusammenstellungen Éveline Lot-Falcks in ihrem Buch über sibirische Jagdriten. Schamanen müssen Abstinenz üben, sie versetzen sich vor ihren Zuhörern in tranceähnliche Zustände, die an ihren Nerven und Körpern zehren, sie erschöpfen sich. Neid und Unfrieden der Gemeinschaft, der sie angehören und für deren Frieden sie aufbrechen, nehmen sie auf sich.

Und auch die Toten sind zwar an einem anderen Ort, aber grundsätzlich berührbar, nämlich d eine Verrückung des Blicks, eine Änderung seiner Schärfe – die allerdings einen hohen Grad an Spezialisierung verlangt. Die Toten und Geister werden gar zu Verbündeten des Schamanen, der mit ihnen die Bedingungen für die Lebenden aushandelt. Das hat Canetti besonders für sie eingenommen, wie er in mehreren Passagen seiner Provinz des Menschen oder in Masse und Macht festhält. In einer nicht publizierten Aufzeichnung heißt es: „Die lächerlichen Bemühungen der Machthaber, dem Tod zu entgehen. Die grossartigen Bemühungen der Schamanen, Tote zu beschwören. Solange sie es glauben, solange sie es nicht bloss vorgeben, verdienen sie alle Verehrung.“

Canetti hat also eine poetische Vorstellung der schamanischen Berufung: Ihre Rituale sind eigentlich Beschwörungen; sie gleichen sich den Toten an, um etwas von ihnen zu erheischen, und bringen sie dadurch wieder zum Leben.

Dennoch ist der Schamane auch gefährdet: durch den Hochmut des Meist- und Meisterverwandlers, die Haltlosigkeit der Verwandlungen, die in leere Artistik ausufern können. Oder durch die Versuchung der Macht: die Toten für die eigenen Zwecke zu beschwören, sie zu einem Heer von Toten abzurichten, die auf den eigenen Befehl die Erde und die Menschen heimsuchen werden (Canetti schrieb von den [19]). Die schamanische Versuchung erfordert einen starken Charakter.

 

2

Parallel zur Canettis Arbeit in Hampstead und London entsteht in Italien, in Rom und Cotignola eine Untersuchung zum Problem der Wahrheit des primitiven Weltzugangs: Ernesto de Martinos Mondo magico. Prolegomena per una teoria del magismo (1948). De Martino entstammte dem neapolitanischen Bürgertum, das mit der formenreichen Volksreligion, den Überlieferungen von Totenbeschwörungen und Schadensmagie eher fremdelte, weil es sich an einer als nicht minder magisch, weil allumstürzend vorgestellten Aufklärung orientierte.[20] Diese Doppeldeutigkeit einer in der Aufklärung aufgehobenen, aber eben nicht abgelösten Magie muss den jungen Religionshistoriker zeitlebens fasziniert haben; sie enthüllt ihm die Bezogenheit der modernen Welt auf die des magischen Bewusstseins ebenso wie deren Tendenz, sich zu übersteigen. Kritik der abendländischen Wissenschaft und, wenn man so möchte, Kritik der primitiven Welt, ergänzen einander in de Martinos Werk. Um dies tun zu können, bedarf es natürlich einer eigenen Kultur- und Geschichtstheorie.

„Das Primitive, das Barbarische, das Wilde [waren] nicht lediglich um mich herum, sondern es geschah manchmal, dass ich angstvoll in mir archaische Stimmen vernahm […]: eine Art Chaos und Verworrenheit, die nach Ordnung und Licht verlangte.“ Das schreibt De Martino in einem autobiografischen Rückblick, der sich auf die Zeit vor seiner großen Studie bezieht. Angesprochen ist sicher der politische Aufbruch im Zeichen des Faschismus, dem sich auch de Martino anfangs anschloss, der von diesem beschworene Vitalismus, der andererseits eine organisierte Form verlangte. Parallelisiert wird er mit einer inneren Fremderfahrung, dem Durchbruch eines anderszeitlichen Stratums, das einer Art von Erlösung („Ordnung und Licht“) bedarf. Diese Parallelisierung von geschichtlicher Situation und eigenem Erleben rechtfertigt zum einen, der faschistischen Versuchung partiell erlegen zu sein, zum anderen enthält sie die Hoffnung, im Durchgang durch das Primitive das eigene Innere zu klären, die Ich-Schwäche und die Tendenzen zur Selbstauflösung. Der Umgang mit dem Primitiven braucht dafür nicht einmal besonders wissenschaftlich zu erfolgen; es reicht ihn ‚objektiv‘ zu vollziehen – gut denkbar etwa im Medium der Kunst.

Tatsächlich hat Ernesto de Martino einen Roman geschrieben, aber zugleich auch nach einer aufgeklärten Erziehung gesucht. Er fand sie im Kreis um Benedetto Croce (1866–1952), den Privatgelehrten und wohl letzten Autor einer enzyklopädisch entworfenen Philosophie des objektiv gewordenen Geistes. Croce gilt als Begründer des ‚Historizismus‘, der im Gegensatz zum deutschen ‚Historismus‘ an der Transzendenz der Kategorien festhielt. Historische Veränderung werde nur sichtbar vor dem Hintergrund von etwas Bleibendem, „die Einheit und Identität der Werte“, so heißt es, „werde bestätigt in ihrer andauernden Verwirklichung in den Hervorbringungen sämtlicher Gesellschaften und Epochen.“[22] Welches diese Kategorien und diese Werte sind, gilt es im Einzelnen noch herauszufinden. – Im Gegensatz zum Viktorianismus als einer anderen liberalen Geschichtsphilosophie sollten sie nicht mit denen der gegenwärtigen Gesellschaft identifiziert werden. Es geht nicht um die Subsumierung von Fällen unter ein äußeres (Entwicklungs-)Gesetz, sondern vielmehr um die Einheit des Urteilsvollzugs. In diesem Sinn ist für Croce das Transzendente immanent, und er bleibt ein gelehriger Schüler des deutschen Idealismus, als dessen Vollendung er sich durchaus verstand. Gleichzeitig lässt er sich nicht vom italienischen Faschismus vereinnahmen; seine Philosophie widersteht den tagespolitischen Lockungen, sich als ‚erfüllt‘ anzusehen. Aus diesem Grund scharten sich um Croce Regimekritiker und Dissidenten.

Auch de Martino durfte sich als Croces Schüler begreifen. Er übernahm – ob von Croce oder aufgrund seiner religionshistorischen Interessen – das, was man heute als Kulturrelativismus bezeichnen würde, sprich die Haltung, dass nicht-europäische oder nicht-zeitgenössische Gesellschaften in ihren Praktiken und Urteilen genauso gerechtfertigt seien wie wir. Allerdings ging er einen Schritt weiter als der Meister: Nicht nur die Gesellschaften waren zu historisieren, sondern das Denken, ja die Logik selbst. De Martino sah sich herausgefordert, Inkonsistenzen und Halbherzigkeiten des storicismo‘ auszubessern: Deshalb akzentuierte er auch zunächst die kulturrelativistisch jovial übergangenen Differenzen – Magie sollte fortan nicht als Praktik, sondern als Denken angesehen werden –; zum anderen wollte er das Selbstbewusstsein der Croce-Schule schärfen, die sich auf ihre historische Hermeneutik eben verlassen sollte.

Magisches Denken war bereits für klassische armchair anthropologists‘ ein beliebtes Steckenpferd gewesen. Es zu konstatieren, trug zunächst zur ‚Veranderung‘ und Distanzierung dessen bei, wovon die Ethnographen vor Ort berichteten. Es enthielt damit zugleich das Versprechen, man würde hier an philosophischen Grundfragen arbeiten können. Spätestens mit den mehrbändigen Arbeiten Lucien Lévy-Bruhls (1857–1939) zur „primitiven Mentalität“ (zwischen 1910 und 1938) kam es zur detaillierten Reformulierung eines „prälogischen Denkens“, das an die Stelle des Nichtwiderspruchsprinzips die „mystische Partizipation“ setzte.[23] Diese trete etwa in der Doppelbelegung auf, wie sie anhand totemistischer Symbole deutlich werde: Dort erkenne man sich gleichzeitig als Mensch wie als Tier. Lévy-Bruhl machte für dieses Denken die schwächere Individuierung verantwortlich, auch die Angst, der der Primitive ausgesetzt sei. Er sehne sich nach einer Gruppe, in der er sich dieselbe Stärke zuspreche wie einem bestimmten Tier. Dieses auf Affekten beruhende Denken, das einen hohen Grad sozialer Kohäsion und auch das Lösen alltäglicher Probleme garantiere, gehe einher mit einer stärkeren Abhängigkeit von „Kollektivvorstellungen“, die im Primitiven wirksam seien.

Lévy-Bruhls Theorien sind eine eigenwillige Fortführung der konsequenten Soziologisierung des menschlichen Denkens und seiner grundlegenden Kategorien, wie es unmittelbar zuvor, ausgehend vom kritischen Studium ethnographischer Berichte, der Kreis um Émile Durkheim und Marcel Mauss durchgeführt hatte. Elementare Bausteine des Denkens und elementare Formen des Sozialen wurden darin in Beziehung gesetzt, so dass sie auch über große zeitliche und räumliche Abstände erkennbar blieben. Durkheims Anerkennung in Italien, aber auch in England, wo er innerhalb der social anthropology der zweiten Nachkriegszeit rasch an Bedeutung gewann, erfolgte relativ spät. Die eher spekulativen und interessierte Interpretation Lévy-Bruhls blieb lange vorherrschend.[24]

De Martino ging ebenfalls von der Andersartigkeit primitiven, besonders ‚magischen‘ Denkens aus. Die Herausforderung war zweifach: zu verstehen, wie sich eine ursprüngliche Welterfahrung in magisches Denken gekleidet habe, und zu rekonstruieren, wie der Übergang vom magischen zum modernen Denken verlaufen sei. Dass es diesen Übergang geben muss, ergab sich aus der Annahme, dass jeder Weltzugang in sich richtig und vollständig war, einem bestimmten, historisch nachzeichenbaren Moment des Bewusstseins entsprach. In diesem Sinn war eine Arbeit über das magische Denken eine Arbeit über den Charakter des Denkens überhaupt – und damit eine Arbeit zur Selbstaufklärung eines in Kriegen und Totalitarismen verstrickten Kontinents:

„Die Aufgabe der historischen Ethnologie besteht in der Möglichkeit, Probleme ins Auge zu fassen, deren Lösung zur Erweiterung der Selbsterkenntnis unserer Gesellschaft führt“, heißt es im Vorwort von Mondo magico. Außerdem:

„So wie im 14. und 15. Jahrhundert die Rückkehr zur klassischen Welt die Entdeckung einer viel reicheren ‚Humanität‘ vermittelte als jener, die sich innerhalb der theologisch-religiösen Einheit des Mittelalters abspielte, muss auf dieselbe Weise unsere Rückkehr zur Welt der Magie den Fortschritt der westlichen Selbsterkenntnis vermitteln, indem sie sie […] zu jener historischen Demut gegenüber dem Archaischen öffnen, die am besten der antihistorischen Bildanbetung des Archaischen vorbeugt.“[26]

Dass die vermeintliche Vielfalt der Renaissance das Bild eines umnachteten und in jeder Hinsicht defizitären Mittelalters beförderte, das spätere Generationen wiederum befreien mussten, steht auf einem anderen Blatt.

Il mondo magico zitiert Berichte der außereuropäischen Welt. Es gliedert sich laut Inhaltsverzeichnis in drei Teile: „ 1.) Das Problem der magischen Kräfte, 2.) Das historische Drama der magischen Welt, 3.) Das Problem der magischen Kräfte in der Geschichte der Ethnologie.“ Der erste Teil stellt die Realitätsfrage: Wenn die Magie hilft, warum tut sie das am Ort der ethnographischen Beobachtung und nicht über den Gesamtbereich all dessen hinweg, was wir Realität nennen? Anstatt diese Frage rein philosophisch zu beantworten, nämlich unter Verweis auf das Bewusstsein, das in der magischen Welt urteilt, zieht de Martino neben indigenen Schilderungen außerordentlicher Erlebnisse auch die Zeugenaussagen der westlichen Ethnographen heran. Von Steyler Missionaren besuchte Pygmäen und Feuerland-Indianer, besonders aber die wunderlichen Ereignisse in Schamanenbehausungen – und nicht nur in Schamanenerzählungen – werden ausführlich diskutiert. Steine bröseln, Geister klopfen, Weissagungen behalten nicht bloß für menschliches, sondern ebenso für tierisches Verhalten Recht. Um diese magischen Effekte in ihrer ganzen Tragweite epistemologisch fassen zu können, greift de Martino zunächst auf die Experimente der Parapsychologie zurück. Das heißt, er führt den Unterschied zwischen einer festgestellten Welt (der im naturwissenschaftlichen Experiment überprüften Welt der Naturgesetze) und einer im Werden befindlichen (den im Experiment überprüften Willen) ein, zwischen denen eben nicht notwendig ein Widerspruch bestehen muss, sondern lediglich ein Perspektivwechsel. Dieser verlangt eine Beobachtung zweiter Ordnung, in der

„Ob und in welcher Weise die magischen Kräfte real sind, ist eine Frage, die nicht unabhängig vom Sinn beantwortet werden kann, den man dem Urteilsprädikat des Realen zuspricht. Dieser Sinn aber kann einzig verstanden werden, wenn man das historische Drama der magischen Welt individuiert.“

Die Dramatik der magischen Welt besteht darin, dass die Projektionen, die die Welt real im Sinne der naturwissenschaftlichen Experimente machen, noch nicht konsolidiert und darum noch nicht von ihren innerweltlichen Gegenständen ‚abziehbar‘ sind. In dem Sinn ist diese Welt fragil, fallibel, was de Martino anhand von misslungenem Zauber oder misslungener Mitwirkung bei magischen Ritualen verdeutlicht. Im zweiten Kapitel wird das Drama der magischen Welt zunehmend individualisiert, es wird also nicht als historisches Drama im Sinne der Abfolge verschiedener kollektiver Formationen, sondern im Gegenteil als Agglomeration des Ringens Einzelner mit einer fluiden, noch nicht festgestellten Natur (einschließlich der sozialen) dargestellt, als eine Welt vor der Geschichte, aber eminent wichtig für die Analyse von Geschichtlichkeit. Im Zentrum dieses Kapitels steht nun ein Typus des Kulturhelden, der sowohl schamanistische als auch christliche Elemente verkörpert – nicht umsonst nennt de Martino den„eroe della presenza, il cristo magico“Seine Aufgabe ist es, Techniken und Riten zu inaugurieren, die dem Wüten der Welt eine „presenza“, die Selbstvergegenwärtigung eines zukünftigen Ich, abringen, einen Ort, von dem aus die für uns Spätere historisch überlieferte Welt überhaupt anzufangen vermag. Realität entsteht aus diesem „riscatto“ genannten Abringen der „presenza“ gegenüber einer nun erst definierten Natur. Die Techniken und Rituale, die diese Leistung vollbringen können, benötigen bei aller Wiederholung ein starkes Engagement, sie arbeiten durch mimetisches Nacherleben der kulturgründenden Urszene. Von dort aus wandern sie in die kleinen Techniken des Alltags, in die magische Heilung, den Sympathiezauber und ähnliches. Gerade diese als abgeschlossen vorgestellten Reservate des „mondo magico“ wird de Martino in den anschließenden zwei Jahrzehnten mit interdisziplinär besetzten Forscherteams aufsuchen: aber nicht in der Ferne, sondern in Italiens Süden, der eine schwache Industrialisierung und eine noch schwächere Umgestaltung seiner Herrschaftsklasse erlebt.

Der Kulturheld: der Zauberer in einer vom ökonomischen Fortschritt ausgeschlossenen Gemeinde in der Basilikata, der erste Ritenmeister, der Tungus-Schamane, der den Seelenraub aufhält – sie alle steigen momentweise in die Tiefen der fließenden Welt hinab, wo sie sich aufgeben, vertrauend auf eine Kraft, die aus der Passivität selbst kommt, aus der (vorhistorisch gedachten) Niederlage, aus der Zerstückelung (Dionysos Zagreus!), in die sie ihr Ich übersetzen. Ihre Mitmenschen fürchten den Selbst- und Kontrollverlust, den Verlust der presenza, die noch durch zu wenige soziale Institutionen gestützt wird – sie hingegen suchen ihn an ihrer Stelle auf. Sie sind Virtuosen in Handlungen, die sie sich durch immer neues Vorstellen angeeignet haben (der Schamane in der Nacht seiner Bestimmung, die er auf einem Pfahl verbringen muss, wo er den Geistern ausgesetzt ist), und dafür müssen sie frei sein, das heißt nicht durch die Angst um den Präsenzverlust zurückgehalten. Sie dürfen auch keine Angst haben vor der Menge, der Masse, die ja die fluide Welt beinhaltet, all das Gleiten der Erscheinungen ohne Sinn und Zweck, die einen mit sich zieht.

De Martino betont das kulturelle Erfindertum, etwa wenn er schreibt, Praktiken und Glauben der Turik besäßen kein „reales Fundament“ und seien „willkürlicher Überbau“, weshalb man sie als „Aberglauben“ abtue. Aber in jedem steckt ein Drama, das herausgearbeitet werden will, das das Drama des exzentrischen Daseins selbst ist, das andere vor uns und für uns durchgearbeitet haben. Und es an neuralgischen Punkten der Gesellschaft auszustellen, harmlos angemalt und etwas verschämt, wie es oft in Europa geschieht, im Sinne eines ‚ich glaube zwar nicht dran, aber es könnte wahr sein‘, bedeutet, Reserven anzulegen für eine Zeit, in der der scheinbar feste Bau, auf dem unsere Vorstellungen von Natur und Kultur ruhen, ins Wanken gerät.

Selbstverlust? Selbstgewinn? De Martinos frühes Hauptwerk – es folgen mit Morte e pianto rituale (1958), Sud e magia (1959), Terra del rimorso (1961) noch weitere Arbeiten, ganz abgesehen von der nie beendeten Fine del mondo (aus dem Nachlass zuerst 1977, in einer gänzlich neuen Edition dann wieder 2019 herausgegeben) – beschwört mitten im Zweiten Weltkrieg einen Austritt aus dem Herzen der Finsternis. Und zwar, indem man sich der Finsternis der eigenen Kultur zuwendet. Für die Rezeption war wichtig, dass das Buch ein weltweites ethnologisches Präsens einführte und dazu beitrug, das Bauerntum, die Hirten, überhaupt das niedere Volk der westlichen Industriestaaten aus der Schattenexistenz des Folkloristischen oder des überlebten Brauchtums zu befreien.[31] Es machte die Religionsforscher ebenso stolz wie ihre Gegenstände. Zugleich trug es zu einer Art Exkommunikation seines Autors im Croce-Kreis bei: Welche Kategorien seien dies, die im Drama des „mondo magico“ gezeugt würden, und woher kämen sie, wenn sie nicht schon da gewesen wären? Das Abarbeiten an einer unbequemen Empirie war dem Neapolitaner Altmeister nicht geheuer.

Zur Vorgeschichte des Buches gehört ein Selbstverlust – der im Faschismus –, ein in der Widmung erinnerter Beinahe-Verlust („Meiner Anna / die das Manuskript dieser Arbeit / aus den Ruinen von Cotignola gerettet hat – Fronte del Senio, November 1944 – April 1945“es fängt den Verlust der Glaubenssätze (der politischen, aber auch der religiösen: Christus wird aufgelöst im Kulturheld, zu dem andere aufsteigen) ebenso auf wie die Katastrophe Europas. Denn es enthält ja die Botschaft, dass es der Apokalypsen unzählig viele gab, persönliche und kollektive, und dass jede Apokalypse – das heißt jeder Untergang der Welt – sich in einer anderen spiegele.

Canettis Werk endet mit der Warnung vor dem Überlebenden, vor dem Wunsch der Vereinzelung. Masse und Macht schürt keine Vorbehalte gegenüber der Masse, sie wird nicht dämonisiert. In der Masse kann man sich fallen lassen und sich wiederfinden, im Vorwärtstreiben, im Berühren. Man kann die Furcht verlieren und tun, was man sich erträumte, wovor einen aber die Scham zurückhielt. Stattdessen hatte er erlebt, wie protestierende Arbeiter vor dem Justizpalast niedergeschossen wurden. Was, wenn die Masse kompakter gewesen wäre?

De Martinos Problem sind die Massen. Nicht, dass er sie thematisierte, er erwähnt sie kaum. Seine Massenerfahrung ist die einer dunklen Verführung, ja, die Dunkelheit selbst vergegenwärtigt die Masse, zugleich ist sicher, dass man ohne sie nicht auskommt.[34] Die Zauberworte lauten „presenza“, „riscatto“. Sie meinen Überblick, Erlösung – Verkörperung des Willens im Willenlosen. Natürlich geht es bei de Martino um Anleitungen zum solidarischen Leben, der Kulturheros gibt sich, er tut dies für andere, die ihm gemeinsam folgen, seine Gesten institutionalisieren – damit sie sich eines Tages, im Gedächtnis an ihn, retten.

Heißt: Der Kulturheros muss sich verlieren, die anderen müssen sich finden.

Alles auf Anfang: es scheint, als würde De Martinos Kulturtheorie das prekäre Verhältnis von Sein und Haben ein wenig reparieren. Die Konsolidierung der “presenza” erlaubt den Besitz und die Nutznießung von Dingen, nur wer “ist”, kann auch “haben”. Zugleich glaubt seine Theorie an einen Indifferenzpunkt von Sein und Nichtsein, in dem Moment, in dem die “presenza” in den dunklen Strom der Welt taucht, deren Kategorien noch zu erarbeiten sind. Das ist der idealistische Moment.

Canetti hingegen hat dem Haben abgeschworen. Gesteigertes Sein (Stichworte: “Jeder, nicht einer”, “Meistverwandler”) ist Übergang zu Nicht-mehr sein, Entäußerung an jene, die, indem sie nicht mehr sind, uns haben: die Toten. Sie werden vom Schamanen beschworen, sie werden aus dem Totsein, das uns zu Gefangenen macht – nicht zu ihren Gefangenen, sondern durch sie Gefangene –erweckt. So könnte man beinahe versucht sein zu sagen, bei de Martino geschehe am Anfang, was bei Canetti aussteht.

Bei zahlreichen amerindischen Völkern besteht die große Geschichte – einschließlich der Kosmogonie – aus einer unendlichen Abfolge des Einbruchs und der Limitierung der Toten und der Götter. Dazwischen leben die Menschen: ihr Sein ist ein Gewesen-Sein und ihr Haben ein Gehabt-Werden.

 


Literatur:

Antoni, Carlo (1955), Commento a Croce, Venedig.

Bloch, Ernst (1971), Tübinger Einleitung in die Philosophie I [1963], Frankfurt a.M.

Canetti, Elias (2004), Party im Blitz. Die englischen Jahre, München.

Canetti, Elias (2011a), Masse und Macht [1960] (Werke, Bd. 3), München.

Canetti, Elias (2011b), Aufzeichnungen 1942–1985 (Werke, Bd. 4), München.

Canetti, Elias (2011c), Aufzeichnungen 1954–1993 (Werke, Bd. 5), München.

Danowski, Déborah / Viveiros de Castro, Eduardo (2019), In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende [2017], Berlin.

de Martino, Ernesto (1959), Sud e magia.

de Martino (1962), Furore – simbolo – valore, Mailand.

de Martino, Ernesto (1975), Mondo popolare e magia in Lucania, hg. v. Rocco Brienza, Rom/Matera.

de Martino, Ernesto (2008), Il mondo magico. Prolegomeni a una storia del magismo [1948], hg. v. Cesare Cases / Gino Satta, Turin.

Fromm, Ernst (1976), Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München.

Goldberg, Oscar (1925), Die Wirklichkeit der Hebräer, Berlin.

Grünwedel, Heiko (2016), „Eine Spur Schamanismus. Ernesto de Martinos Lesart von Shirokorovs Psychomental Complex of the Tungus zwischen Aneignung und Präsenzerfahrung“, in: Ulrich van Loyen (Hg.), Der besessene Süden. Ernesto de Martino und das andere Europa, Wien, S. 135–149.

Johansen, Ulla (1999), „Further Thoughts on the history of Shamanism“, in: Shaman, vol.7,1, 1999, S. 40-58

Lévy-Bruhl, Lucien (1922), La mentalité primitive, Paris (dt. Die geistige Welt der Primitiven, München 1927).

van Loyen, Ulrich (2011), Franz Baermann Steiner. Exil und Verwandlung. Zur Biografie eines deutschen Dichters und jüdischen Ethnologen, Bielefeld.

Schüttpelz, Erhard (2001), Franz Baermann Steiner zur Verwandlung. ‘Das soziologische Hauptprinzip’ in einigen seiner Aufzeichnungen aus dem Nachlass, in: Behrend/ Büttner/ Marx/ McCue/ Schüttpelz, Geist, Bild und Narr. Zu einer Ethnologie kultureller Konversionen. Festschrift für Fritz Kramer, Wien und Berlin: Philo .

Steiner, Franz Baermann (2000), Am stürzenden Pfad. Gesammelte Gedichte, hg. v. Jeremy Adler, Göttingen.

Steiner, Franz Baermann (2009), Feststellungen und Versuche. Aus den Aufzeichnungen 1943–1952, hg. v. Erhard Schüttpelz / Ulrich van Loyen, Göttingen.

 


Fußnoten:

[1] Erich Fromms Haben oder Sein (1976) spitzt die Alternative zu, bevor sie sich eindrücklich im Umkreis der ökologischen Krise abzeichnet. Zuvor waren es zwei getrennte Konzepte, nun treten sie einander zunehmend exkludierend in einem chiliastischen Horizont auf (vgl. Danowski/Viveiros de Castro 2019). Eine positive Idee des Habens ist dabei nicht auszumachen. – Früher war das Nicht-Haben wenigstens ein Movens der (Selbst-)Bildung gewesen, die im Kontext einer ihr gemäßen Lebensform (des meritokratischen Bürgertums) eine Versöhnung beider anzielen konnte.

[2] Bloch 1971, S. 11.

[3] Das gilt vor allem für eine nachkantische, zunehmend immanentistische Philosophie in ihrem Bedenken bürgerlicher Freiheiten.

[4] Vgl. Steiner 2009, S. 69.

[5] Canetti 2004, S. 107.

[6] Vgl. das Poem „Eroberungen“ in: Steiner 2000.

[7] Steiner 2009, S. 283.

[8] Vgl. zur Geschichte von Steiners Thesis van Loyen 2011, S. 277-280.

[9]Steiner 2009, S. 253.Vgl. Erhard Schüttpelz 2001

[10] Canetti 2011a, S. 126

[11] Canetti 2011c, S. 381.

[12] Canetti 2011b, S. 207.

[13] Canetti 2004, S. 108.

[14] Canetti 2011a, S. 267.

[15] Vgl. Canetti 2011a, S.452

[16] Diese Grundzüge teilen die Schamanen in den Texten der genannten Autoren. Zusammenfassend vgl. auch Ulla Johansen 1999

[17] Die Ontologie der schamanistischen Welt, die gleichzeitige Nähe und Ferne, die virtuellen Exerzitien, für die man gleichwohl seinen Preis an geistiger und körperlicher Kräftezehrung entrichten muss, hat dem Schamanismus nicht unwesentlich zum Paradigma der letzten Moderne verholfen. Denn er macht vor allem die Brüchigkeit der modernen Welt bewusst, ihre innere Unruhe, die Anstrengung, die es kostet, sie im Gleichgewicht zu halten. Es ist nur zu verständlich, dass der Schamanismus zu einer Welt gehört, die sich selbst in Zweifel zieht und sich im höchsten Maß misstraut. Oder wie die deutsche Forscherin Ulla Johansen schrieb, dass er vor allem „scattered societies“ eigentümlich sei.

[18] Canetti, „Aufzeichnungen zu Masse und Macht“, Zürcher Zentralbibliothek (unveröffentlicht) (Herv. i.O. unterstrichen).

[19] Ebd.

[20] Vgl. dazu das Kapitel zur „Jettatura“ in de Martino 1959.

[21] De Martino 1975, S. 56 (diese sowie alle folgenden Übers. aus dem Ital. von mir, U.v.L.)

[22] Antoni 1955, S. 44.

[23] Vgl. Lévy-Bruhl 1922.

[24] Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass Ernesto de Martino später durch die Publikation der Schriften von Mauss und Hubert, aber auch durch seine Anthologie zu Theorien der Magie, der Durkheimschule in Italien zu größerer Aufmerksamkeit verhalf.

[25] De Martino 2008, S. 5. Historische Ethnologie bezeichnet hier jede mit textuellen Quellen anstatt durch Feldforschung operierende Ethnologie.

[26] Ebd.

[27] Ebd., S. 88. Es ist hier nicht der Ort, um auf mit der Diagnose verbundene Schwierigkeiten einzugehen. Die „kulturell konditionierte Kultur“, die auch auf kulturell Außenstehende (Besucher, Ethnographen etc.) einwirkt und diese inkorporiert, geht natürlich weiterhin von ethnisch relativ homogenen kulturalisierten Naturen aus, in der eine Mehrheit auf eine Minderheit trifft. Interkulturalität ist aus dieser Perspektive ein Verfallsphänomen. Diese Schwäche muss man dem Konzept lassen, das im Übrigen manche Ähnlichkeit mit Oskar Goldbergs Wirklichkeit der Hebräer (1925) aufweist, in dem die Einheit von ethnischer Gruppe und deren Realität (also auch ihrer „kulturell konditionierten Kultur“, wenn man so möchte) propagiert wurde.

[28] De Martino (2008), S. 196

[29] Was bei Lévy-Bruhl eine von außen gegebene Beschreibung primitiver Mentalität ist, wird bei de Martino zu einem rechten Drama, das gleichsam die Archäologie zentraler Grundbegriffe der abendländischen Anthropologie erlaubt: „In der magischen Welt kann die Seele verloren werden, in dem Sinne, dass sie in der Realität, in der Erfahrung und in der Vorstellung noch nicht gegeben ist, sondern sie ist eine fragile presenza‘, die (um es in einem Bild auszudrücken), von der Welt verschluckt zu werden droht. In der magischen Welt ist die Individuierung kein Gegebenes, sondern eine historische Aufgabe, und das Dasein ist eine noch ins Recht zu setzende Wirklichkeit. Daher ein Komplex aus Erfahrungen und Darstellungen, aus Schutzmaßnahmen und Praktiken, die zum einen den Moment des existenziellen magischen Risikos, zum anderen die Weise der kulturellen Rettung (riscatto‘) ausdrücken, und die, in ihrer dramatischen Polarität, die historische Welt der Magie ausmachen. Die eigene persönliche presenza, das Dasein, die Seele, ‚flieht‘ ihren Sitz, kann ‚geraubt‘ werden, ‚gegessen‘ u.ä.; sie ist ein Vogel, ein Schmetterling, ein Hauch; oder sie muss ‚repariert‘, ‚wiedererlangt‘ werden; oder auch ‚festgehalten‘, ‚fixiert‘, ‚lokalisiert‘ sein.“ De Martino 2008, S. #.96

[30] Vgl. ebd., S. 97##

[31] Die Diskussion der „magischen Welt“ empirisierte de Martino erst in den späten 1950er Jahren auf Forschungsreisen nach Apulien und in die Basilikata. Er ging, worauf Grünwedel (2016) hingewiesen hat, dabei den umgekehrten Weg zur zeitgenössischen Aneignung des Schamanismusdiskurses: nicht von einem lokal ausgedeuteten Phänomen zu dessen Entgrenzung (wie etwa Mircea Eliade), sondern von einer generellen Bestimmung zur genaueren Verortung in Raum und Geschichte. Grünwedel suggeriert zumindest, de Martinos Schamanismusexperiment (denn um nichts anderes handelt es sich bei der italienischen Übertragung eines letztlich auf Shirokogoroffs Tungus-Studie zurückgehenden Konzepts) sei der Versuch, Süditalien und ihn, den Forscher und Kulturbringer, gerade durch den Verlust an „presenza“ exemplarisch zur Selbstermächtigung zu führen.

[32] De Martino 2008, S. 1.

[33] Wo sie, wie im Essay „Fuore in Svezia“ Beachtung findet, wird sie negativ beschrieben. Dort teilt sie Eigenschaften mit Canettis aus Masse und Macht überlieferter „Erregungsmeute“ – sie hat sozusagen ihre „presenza“ noch nicht aus dem Strudel gerissen, was erst im Zuge ihrer Selbsterkenntnis als Klasse bzw. als historisches Phänomen geschehen könnte. Vgl. de Martino (1962).

[34] Der deutsche Sozialanthropologe Wilhelm Mühlmann hat auf seinen Italienreisen diese Verführung durch und in der Masse thematisiert, indem er sich ihr gegenüber abschloss. Fritz Kramer berichtet, wie Mühlmann in Sizilien in der Pension verblieb, um den Anblick protestierender Arbeiter abzuwehren. Bei ihm mag dies ein Nachhall seiner Zeit als wichtiger NS-Wissenschaftler sein, bei de Martino ist die Nichtnennung der Masse vermutlich eher klassenbedingt.