12/04/24

Part 2 | Session 2 | 18 Apr 2024 | „Wir eingebildeten Europäer“ – Debatten, Verstrickungen und das Erbe der Ethnologie des frühen 20. Jahrhunderts

Gespräch zwischen Richard Kuba & Katja Geisenhainer mit Kommentar von Andre Gingrich

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Die Kolonisierung außereuropäischer Territorien wurde in der Zeit der Konstituierung der Ethnologie als eigenständige akademische Disziplin von frühen Fachvertretenden überwiegend gebilligt oder sogar gefordert. Parallel wurde ausführlich über Inhalte und Methoden der jungen Disziplin diskutiert. Bei näherer Betrachtung dieser Debatten im zeithistorischen Kontext, zeigt sich, dass es durchaus auch Stimmen gab, die Ideen vorwegnahmen, die in Europa zu dieser Zeit außergewöhnlich waren und heute noch von Bedeutung sind, die sich gegen auf vermeintliche „Rassen“ fokussierte Theorien wandten und sich explizit gegen den Kolonialismus aussprachen. Manche dieser Ideen wurden in Ansätzen aufgenommen, andere wurden scharf kritisiert und ihre Vertretenden marginalisiert.

Neben den theoretischen Debatten unternahmen Ethnologen und mitunter auch Ethnologinnen Feldstudien, fotografierten, eigneten sich Objekte und wiederholt auch menschliche Überreste an, zeichneten und notierten sich Erlebtes und Erzähltes. Die Kolonisierung vereinfachte Sammeltätigkeiten und das Anlegen kultureller Archive in Form von Museumssammlungen, Aufzeichnungen oder auch visueller Dokumentation.

Welchen Status diese oftmals wenig erschlossenen Archive heute haben, sollte im Wesentlichen von den Herkunftsgesellschaften bewertet werden, die mit neuen Bedeutungszusammenhängen und vor dem Hintergrund ganz anderer Ontologien dieses historische Material betrachten. Dabei wird vor allem die Ambivalenz des „kolonialen Archivs“ deutlich. Zum einen enthält es oftmals erschütternde Zeugnisse für die ungleichen Machtverhältnisse seiner Entstehung, zum andern lässt es sich als „Zeitkapsel“ aus einer an Schrift- und Bildquellen ansonsten äußerst armen Periode deuten. Angesichts der vielfachen Traditionsbrüche der Kolonial- und Postkolonialzeit spielen ethnographische Archive zunehmend eine Rolle für Fragen der individuellen oder kollektiven Rückbesinnung auf die eigene Geschichte.

In dem Vortrag werden mit Fritz Graebner, Otto Mänchen-Helfen und Leo Frobenius exemplarisch drei unterschiedliche frühe Vertreter der deutschsprachigen Ethnologie vorgestellt und darüber hinaus gezeigt, welchen Bedeutungswandel ethnographische Archive durch Herkunftsgesellschaften erfahren können.

Literatur:

Beer, Bettina: Vorwort mit Bibliographie. In: Hans Fischer, Die Hamburger Südsee-Expedition. Über Ethnographie und Kolonialismus. Überarb. Neuausgabe. Berlin 2022: 7–33.

Gingrich, Andre: The German-Speaking Countries. In: Frederik Barth [u.a.], One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology. Chicago, London 2005: 61–153.


Andre Gingrich ist Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien, Direktor des Instituts für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Träger des Wittgenstein-Preises. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftsgeschichte und Theorienbildung der Anthropologie, komparative und ethnografische Methoden, Sozialstruktur und Kulturgeschichte Südwestarabiens sowie Nationalismus in Europa.

Katja Geisenhainer hat in Mainz und Leipzig Ethnologie, Soziologie, Pädagogik und Pädagogische Psychologie studiert. 2001 promovierte sie in Leipzig mit einer fachhistorischen Studie über den Anthropologen und Völkerkundler Otto Reche (1879–1966). Es folgten ein DFG-Projekt über die Ethnologin Marianne Schmidl (1890–1942) und weitere Forschungen zur Geschichte insb. der deutschsprachigen Ethnologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Angesiedelt am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, widmete sie sich von 2013–2016 als Lise-Meitner-Stipendiatin des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) den fachlichen Vernetzungen zwischen Wiener und deutschen Völkerkundlerinnen und Völkerkundlern von 1933 bis 1945.  Aktuell beschäftigt sie sich mit Interaktionen in der Ethnologie zwischen Wien und Frankfurt, von der Zwischenkriegszeit bis in die unmittelbaren Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und dem kulturhistorischen Ansatz als gemeinsamen Nenner in Zeiten von Krisen und totalitärem Regime (Elise-Richter-Programm des FWF, Wiener Institut für Kultur- und Sozialanthropologie) in enger Kooperation mit dem Frobenius-Institut. Seit 2019 ist sie  Sprecherin der AG Fachgeschichte in der DGSKA.

Richard Kuba ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frobenius-Institut der Goethe-Universität Frankfurt und Kurator des Bild- und Felskunstarchivs des Instituts. Er promovierte in Anthropologie an der Universität Bayreuth und hat umfangreiche Feldforschungen in Nigeria, Benin und Burkina Faso durchgeführt. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der vorkolonialen Geschichte und der europäischen Begegnung mit Afrika. Er hat eine Reihe von Ausstellungen kuratiert, darunter „Kunst der Urzeit. Felsbilder aus der Frobenius-Sammlung“ 2016 im Martin-Gropius-Bau in Berlin (Katalog: Kunst der Vorzeit, Prestel) und 2017 „Frobenius. El mundo des Arte rupestre“ im Museo Nacional di Anthropología in Mexiko-Stadt.