11/06/21

Your Life is Data

Wie erleben Studierende die Pandemie?

Mein Leben als Material für meine anthropologische Forschung? Genau diesen Ansatz verfolgt die sogenannte Autoethnographie. Dabei bilden die autobiographischen Beobachtungen der Forschenden die Grundlage des Datenmaterials. Diese Herangehensweise wird von den Sozialwissenschaftler:innen Roy und Uekusa (2020: 384) als pandemie-konforme Methode der Wissensproduktion vorgeschlagen, da sie lediglich die Forschenden selbst erfordert. Ich möchte mithilfe dieser Technik einen Blick auf Studierende in der Pandemie richten und frage, wie sie ihren Studienalltag erleben.

Vor etwas mehr als einem Jahr, als sich die erste Welle der Corona-Pandemie in Europa ausbreitete, war das Virus noch fremdartig. Besorgte Neugier und Aufregung waren mit dem Thema verknüpft. Noch immer befindet sich die Welt in einer Ausnahmesituation, das steht außer Frage. Der krisenhafte Zustand wird schließlich auch durch die täglichen Nachrichtenmeldungen vor Augen geführt. Mittlerweile hat sich jedoch ein individueller Pandemiealltag eingependelt. Ich beobachte, dass sich die Neugier und das Mitteilungsbedürfnis bezüglich Corona in meinem Bekanntenkreis etwas gelegt haben. Diese Beobachtung zeigt sich auch auf dem Blog „Witnessing Corona“: Zwischen März und April letzten Jahres erschienen fast täglich neue Beiträge. Die Autor:innen behandelten Themen wie die Ungewissheit im Umgang mit der neuen Situation, die ungewohnte Erfahrung von Isolation oder die neue Erfahrung in Bezug auf Abstandsregelungen oder das Tragen von Masken. Seit Anfang des Jahres 2021 sind dagegen lediglich vier Blogbeiträge veröffentlicht worden. Für Kultur-und Sozialanthropolog:innen ist jedoch auch das unspektakuläre, vermeintlich irrelevante Alltagsleben in der Pandemie von Interesse. Schließlich hat sich die Fachdisziplin schon lange von dem Gedanken abgekehrt, nur „das Exotische“ oder „das Fremde“ zu erforschen (vgl. z.B. Kapferer 2013: 813). Genau deshalb richte ich den Blick gezielt auf das Alltagsleben von Studierenden in der Pandemie. Die Frage nach dem aktuellen Alltag von Studierenden wurde Teilnehmer:innen eines Seminars im BA-Studiengang Kultur-und Sozialanthropologie (KuSa) der WWU Münster gestellt. Um diese Frage zu beantworten, wurde eine kollaborative Methode angewandt, welche nach den subjektiven Eindrücken der angehenden Wissenschaftler:innen fragte. Die genaue Aufgabe war, die persönlichen Symbolbilder zum derzeitigen Studium fotographisch festzuhalten. Mithilfe der sogenannten Photovoice-Technik entstand eine Collage aus den autoethnographischen Erfahrungen der Studierenden.

Als erstes fiel auf, dass fast alle ein Bild von ihrem Schreibtisch mit einem Computer einsendeten. In der Diskussion der Ergebnisse kam heraus, dass die meisten ein solches Bild erwartet hatten, da es die unverzichtbaren Begleiter im Studium darstellt. Auf den vielen Bildern lassen sich zudem kleine „Aufmunterer“ wie Blumen, Kaffee oder eine Flasche Wein erkennen. Auf zwei Bildern werden auch Gegenstände gezeigt, die auf den ersten Blick nichts mit dem KuSa-Studium zu tun haben: Ein Controller und ein Puzzle. Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass neben dem Verfolgen der Online-Veranstaltungen gerne auch anderen Aktivitäten nachgegangen wird. Insgesamt erinnerten uns die Bilder noch einmal daran, dass wir uns alle aktuell in einer ähnlichen Situation befinden. Wir verbringen die meiste Zeit Zuhause, loggen uns in Zoom-Sitzungen der Uni ein und machen zwischendurch einen Spaziergang. So könnte man die alltagsstrukturierenden Aktivitäten überspitzt zusammenfassen. In gewisser Weise bewegte uns diese Feststellung, gemeinsam in der Situation festzustecken. Wir wurden daran erinnert, dass wir mit der Situation nicht allein sind. Es ließ ein spontanes Gefühl der Verbundenheit auftreten, das ohne die derzeitigen Gegebenheiten vielleicht nicht aufgekommen wäre. Im normalen Alltag (ohne Corona-Beschränkungen) haben alle die eigenen Abläufe, Termine, Freizeitaktivitäten und Freundeskreise. Das Studium wird auf unterschiedliche Weise in den Alltag integriert, der sich von Person zu Person stark unterscheidet.

Um den Bilderpool zu erweitern, habe ich weitere Kommiliton:innen gebeten, mir Fotos zu derselben Fragestellung zu schicken. Interessant waren zunächst die Rückfragen, die ich erhielt: „Ich glaube da habe ich kein interessantes Foto für dich.“ Oder: „Wie? Einfach ein Bild von meinem Schreibtisch?“ Das zeigte mir bereits, wie unspektakulär sich der aktuelle studentische Alltag anfühlt. Auf den Fotos sind ähnliche Ausschnitte wie aus der ersten Bilderrunde zu sehen. Sie zeigen erneut das Studium in Isolation, das derzeit unseren Alltag darstellt.

An dieser Stelle möchte ich eines dieser Bilder – meines – mit mehr Leben füllen. Denn hinter diesem Foto steht ein Jahr Online-Studium. Was das bedeutet und dass diese Form des Studierens drei Semester meines Uni-Daseins ausmacht, hätte ich mir Anfang des letzten Jahres nicht ausmalen können. Ich erinnere mich an eine Mensa-Mittagspause mit einer Kommilitonin im Februar 2021. Zu diesem Zeitpunkt erreichten die deutschen Medien die ersten Bilder des Covid-19 Ausbruchs in Italien. Wir witzelten noch, was passieren würde, wenn in Deutschland alles lahmgelegt und die Uni „dicht machen“ würde. Es dauerte nicht lange bis uns klar wurde, dass wir in diesem Semester keine Nachmittage in der gemütlichen Ethnologie-Bibliothek verbringen, keine Vorlesungsräume betreten und auch keine KuSa-Partys feiern würden.

Nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten in den ersten Wochen des Onlinesemesters pendelte sich der Uni-Alltag langsam ein: Seminare in Jogginghose, Kaffeetrinken während der Vorlesung und Zoom-Kacheln als täglicher Anblick gehörten bald zum Alltag. Ich schätzte die Möglichkeit, mich von jedem beliebigen Ort mit Internetverbindung einzuloggen, sodass ich auch mal für eine längere Zeit in die Heimat fahren konnte. Mit der Zeit fehlte mir der Austausch mit den anderen Studierenden jedoch immer mehr. Auch eine noch so gut konzipierte Online-Veranstaltung kann den sonst oft spontan entstehenden Austausch in Seminaren in meinen Augen nicht ersetzen. Da so vieles, was sonst zu meinem Alltag als Studentin gehörte, wegfällt, habe ich manchmal das Gefühl, gar nicht mehr richtig zu studieren. Es gibt nur mich in meinem Zimmer und meinen Wegbegleiter – den Laptop. Inzwischen hat sich auch bei mir die Zoom-Fatigue eingestellt, die das erschöpfende Gefühl der Videokonferenzen beschreibt. Diese Art von Müdigkeit wird durch die Konfrontation mit den vielen Gesichtern auf dem Bildschirm erzeugt – eine Situation, die in analogen Meetings so nie gegeben ist (vgl. Khazaleh 2021). Es sollte eigentlich die Zeit des Lebens sein. Denn neben dem Studieren an sich fallen auch so viele andere Veranstaltungen weg, die sonst das studentische Leben prägen. Stattdessen gibt es immer öfter die Momente der Trostlosigkeit, isoliert im Zimmer vor sich hin zu studieren. Ich habe mich bei meinem Photovoice-Bild bewusst dafür entschieden, eine ungeschönte Szene zu zeigen, wie sie aktuell häufiger den Studienalltag prägt. Trotz der unglücklichen Situation möchte ich nicht den Eindruck vermitteln, mich über meine Gegebenheiten zu beschweren, da ich mich trotzdem in einer sehr privilegierten Position befinde und mir bewusst ist, dass viele Menschen mit ganz anderen herausfordernden oder gar prekären Situationen konfrontiert sind.

In einem vorhergien Beitrag dieses Blogs griff Simona Bianchi (2020) die kollektive Erfahrung des Lockdowns und der Verzweiflung in Italien auf und brachte sie mit Benedict Andersons Nationstheorie in Verbindung. Bianchi beschreibt, wie die gemeinsamen Erfahrungen in Bezug auf Corona als italienische Erfahrungen gedeutet werden. Der Beitrag löste bei mir die Überlegung aus, ob man ebenfalls von einer kollektiven Erfahrung von Studierenden im Onlinesemester sprechen könnte. Zumindest gibt es einen Aspekt, der sich neben den Schreibtischen und Laptops auf den Fotos durch alle Bilder zieht: Das Zimmer. Der Ort, an dem wir uns hauptsächlich aufhalten ist auch der Ort, an dem die autoethnographischen Schnappschüsse entstanden sind. Knapp 30 Prozent der Studierenden leben in Wohngemeinschaften (Statista 2019). Dort steht ihnen neben einer gemeinschaftlich genutzten Küche meist ein eigener Raum zur Verfügung, in dem Aktivitäten stattfinden, die sonst an unterschiedlichen Orten stattfinden: z.B. Schlafen, Freizeitbeschäftigungen, Lernen und Freunde treffen. Im Onlinesemester kommt nun das komplette Uni-Leben hinzu. Somit ist das Zimmer zum Dreh- und Angelpunkt des Studierens geworden. Die ungewohnte Situation, Lehrenden und Kommiliton:innen einen Einblick in das eigene Zimmer zu gewähren, macht deutlich, wie privat diese Fläche normalerweise ist. Für mündliche Online-Prüfungen müssen Studierende ihren Prüfer:innen alle Winkel des Raumes mit der Webcam zeigen. Das ist natürlich unumgänglich, um Täuschungsversuche ausschließen zu können. Das unangenehme Gefühl, anderen den privaten Rückzugsort zu zeigen, bleibt jedoch. Das Schlafzimmer bildet einen sogenannten private space: Ein Ort, der Ruhe und Frieden vermittelt, der zur Entspannung und zum Zurückziehen einlädt (vgl. Lincoln 2012: 41). Lincoln macht außerdem auf den wichtigen Stellenwert von Schlafzimmern in Bezug auf die Identität von jungen Menschen aufmerksam: ‘Bedrooms are also important identity spaces, spaces in which young people can ‚be themselves‘ away from the pressures of life in other realms such as school, colleges or work’ (Lincoln 2012: 8). Durch die Pandemie wird dieser private space in zweierlei Hinsicht umgeformt: Zum einen wird die Funktion des Schlafzimmers verändert, da dieses verstärkt als Ort des Studiums genutzt wird. Da mit dem Studium eher Aspekte wie Arbeit und Konzentration als Entspannung und Ruhe verbunden werden, muss der Raum vielen Zwecken gleichzeitig dienen. Die Nutzung des Zimmers für das Studieren mag vor der Pandemie auch schon der Fall gewesen sein, jedoch hat sie mit dem Online-Studium ein massives Ausmaß angenommen. Zum anderen lässt das Onlinesemester den privaten Raum zunehmend öffentlicher werden. Durch Webcams erlangen Lehrende sowie andere Studierende einen Blick in den Raum, der unter „normalen Umständen“ nur den vertrautesten Personen zugänglich ist. Kommiliton:innen erzählten mir zum Beispiel, wie merkwürdig es war, dass ihre Dozierenden einen Blick auf ihr Bett im Hintergrund werfen konnten. Damit wird die Privatsphäre von Studierendenzimmern ein Stück weit „angegriffen“.

Lässt sich also von einer kollektiven Studiums-Erfahrung im Rahmen der Pandemie sprechen? Selbstverständlich ist es eine Verallgemeinerung, wenn man von einem kollektiven Pandemie-Alltag von Studierenden sprechen würde. Während die eine ihren Alltag isoliert in einer Einzimmerwohnung bestreitet, mag ein anderer zurück zur Familie gezogen und dort ständig von Menschen umgeben sein. Eine Kommilitonin lebt in einer 7-er WG, in der ein Corona-Alltag deutlich geselliger vonstattengeht als in anderen Wohnformen. Für eine solche Verallgemeinerung sind die Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten viel zu divers. Jedoch gibt es einzelne kollektive Momente, wie wir sie zum Beispiel im Seminar erlebten, als wir bildhaft sehen konnten, wie ähnlich einige Grundvoraussetzungen sind. Zu diesen Ähnlichkeiten gehört zum Beispiel allgemein die Erfahrung der Isolation, die vielen Stunden vor dem Bildschirm und auch die veränderte Nutzung und Wahrnehmung des privaten Raums. Bis es wieder in ein analoges Studieren übergeht, bleiben die individuellen Bewältigungsstrategien sowie der kleine Trost, dass wir uns alle in einer ähnlichen Grundsituation befinden.

Verfasst am 30. April 2021, aktualisiert am 18.05.2021

 

Laura Siebert studiert Kultur- und Sozialanthropologie (KuSa) an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) in Münster. Unter der Leitung von Annika Strauss wurden Studierende des Bachelors KuSa im Wintersemester 2020/21 im Rahmen eines Seminars zur Angewandten Ethnologie mit dem Blog Witnessing Corona vertraut gemacht. Der Blogartikel wurde von Laura Siebert als Bestandteil einer Modulabschlussarbeit zum Thema „Public Anthropology“ verfasst.

#Witnessing Corona

This article was simultaneously published on the Blog Medical Anthropology. Witnessing Corona is a joint blog series by the Blog Medical AnthropologyCurare: Journal of Medical Anthropology, the Global South Studies Center Cologne, and boasblogs.


Quellen:

Bianchi, Simona. 2020. The Awakening of a new Nationalistic Sentiment in Facing the Covid-19 Pandemic’. Witnessing Corona. https://boasblogs.org/witnessingcorona/learning-medical-anthropology-through-the-coronavirus/ (letzter Zugriff: 23.04.2021).

Kapferer, Bruce. 2013. How anthropologists think: configurations of the exotic’. Journal of the Royal Anthropological Institute 19 (4), pp. 813-836. https://doi.org/10.1111/1467-9655.12066

Khazaleh, Lorenz 2021. Anthropologist counters Zoom-fatigue: Your next video conference might resemble a video game. https://www.antropologi.info/blog/anthropology/2021/zoom-video-conference-video-game (letzter Zugriff 30.04.2021)

Lincoln, Siân. 2012. Youth Culture and Private Space. Basingstoke: Palgrave Macimillan.

Roy, Rituparna & Shinya Uekusa. 2020. Collaborative autoethnography: “self-reflection” as a timely alternative research approach during the global pandemic. In: Qualitative Research Journal 20 (4), pp. 383-392. DOI10.1108/QRJ-06-2020-0054

Statista. 2019. Ein Viertel der Studierenden wohnt noch bei den Eltern. https://de.statista.com/infografik/19250/wohnformen-von-studierenden/ (letzter Zugriff: 21.04.2021)