15/05/20

Wenn aus Tätern Opfer werden

Freilassung von Gefangenen wegen des Coronavirus in Argentinien

SARS-CoV-2 hat die gesamte Welt in einen Ausnahmezustand versetzt. Jeden Tag geschieht etwas Neues, Unvorhersehbares, worauf die Menschen reagieren müssen. Die Regierungen der Länder und ihr Krisenmanagement werden auf die Probe gestellt. Oftmals treffen sie Entscheidungen, die nicht von allen für gut geheißen werden, ja, sogar moralisch fragwürdig sind.

Seit Ende Februar bin ich in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens. Hier wurden bereits sehr früh Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Virus zu verringern. Seit Mitte März befinden wir uns in Quarantäne und dürfen das Haus nur verlassen, um einzukaufen, einen Arzt aufzusuchen oder zur Arbeit zu fahren. Die verstärkte Präsenz von Polizist*innen in den Straßen und das Risiko, eine hohe Geld-, oder gar Gefängnisstrafe zu bekommen, tragen dazu bei, dass die Ausgangssperre eingehalten wird. Die strengen Restriktionen zeigen Wirkung: Der Präsident Alberto Fernández erklärte am 25. April, dass sich die Anzahl der Infizierten nur noch alle 17 Tage verdoppelt, anstatt, wie zu Beginn des Ausbruchs am 3. März, jeden Tag. Dieser Erfolg ist den Argentinier*innen zuzuschreiben, von denen sich 90% an die Ausgangssperre gehalten haben (Ámbito 2020).

Strikte Quarantäne in Buenos Aires. Copyright: Kim Radestock.

Jeden Tag gehen die Menschen um 21 Uhr auf ihre Balkone, um denjenigen zu applaudieren, die in den Krankenhäusern, Supermärkten und Apotheken ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Funktionierens leisten. Auch am 29. April hörte man wieder Lärm von den Balkonen der Stadt, dieses Mal jedoch keinen Applaus, sondern das scheppernde Schlagen von Löffeln auf Töpfen. In Argentinien nennt man das „cacerolazo“. Der Begriff beschreibt eine Form des Protests, eine Bekundung der Unzufriedenheit, die in der Hauptstadt zwar am lautesten, darüber hinaus jedoch im gesamten Land stattfindet. Grund für diese Proteste ist eine neue Anordnung seitens der Regierung.

In diesem Beitrag möchte ich das Ereignis vorstellen, welches in den letzten Tagen in Argentinien für großes Aufsehen und die „cacerolazos“ gesorgt hat. Derzeit sind aufgrund des Virus viele Menschen stark beunruhigt. Das Land, welches zuvor bereits wirtschaftliche Probleme und große Schulden hatte, wird von der Krise schwer getroffen. Die Angst und Unsicherheit wurden jedoch noch größer, als die Regierung den Plan zur Freilassung mehrerer tausend Gefangener im Großraum Buenos Aires bekanntgab. Diese Entscheidung wurde aufgrund der Pandemie getroffen, doch wird sie auch in Zukunft das Leben der Argentinier*innen beeinflussen. Ich werde im Folgenden sowohl auf die Beweggründe der Regierung für diese Entscheidung, als auch die daraus resultierenden Sorgen der Bürger*innen eingehen.

 

Ausgangssituation

Ende April wurde von Aufständen in dem Gefängnis von Devoto berichtet. Ein Aufseher wurde positiv auf das neue Virus getestet und begab sich anschließend in Quarantäne. Auch drei Insassen wurden infiziert. Unter den Gefangenen brach Angst aus, sie begannen zu protestieren, Feuer zu legen und auf die Dächer zu klettern. Auf den Bannern war unter anderem der Schriftzug „Nos negamos a morir en la cárcel“ (Wir weigern uns, im Gefängnis zu sterben) zu sehen (TN 2020). In Argentinien, wie in vielen anderen Ländern Südamerikas ebenfalls, sind die meisten Gefängnisse stark überfüllt und verfügen über unzureichende Wasserversorgung, was die ungebremste Ausbreitung des Virus unterstützt. Bereits vor den Aufständen in Devoto kam es zu Tumulten und anschließenden Entlassungen von Gefangenen in Kolumbien, Ecuador und Brasilien.

Gefangene erklommen die Dächer des Gefängnisses Villa Devoto in der Provinz von Buenos Aires (24.04.2020). Es waren selbst geschriebene Banner, Feuer und gewalttätige Szenen zu sehen. Quelle: Nicofava, CC

Als Reaktion auf die Unruhen beschlossen Präsident Alberto Fernández und seine Regierung, die Insassen aus den Gefängnissen zu entlassen. Einige sollten unter Hausarrest mit elektronischer Überwachung gestellt werden, andere erhielten sogar die bedingte Freiheit. Es wurden bereits 2.244 Menschen aus den Gefängnissen im Raum Buenos Aires entlassen und weitere Fälle werden überprüft (Radiomitre 2020, Stand: 1. Mai 2020).

Die Begründung der Regierung für ihr Handeln lautete wie folgt: Da die physische Distanz von ein bis zwei Metern in den überfüllten Gefängnissen nicht gewährleistet werden könne und so die Gefahr einer Ansteckung erhöht werde, müsse eine andere Lösung gefunden werden. Fernández sagte weiterhin, er entschied sich für die Maßnahme aufgrund der Empfehlungen der Comisión Interamericana de Derechos Humanos (Interamerikanische Kommission für Menschrechte). Diese riet zu Hausarresten von Personen, die zur Risikogruppe des Coronavirus gehören und keine schweren Verbrechen begangen haben (Centenera 2020). In Argentinien überprüfen nun Gerichte die einzelnen Fälle und entscheiden, wem die Entlassung zusteht. Entgegen der Empfehlung der CIDH betrifft dies jedoch auch Personen, die der Entführung, des Mordes, der Vergewaltigung und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen wurden (Smink 2020).

 

Politische Ausmaße der Entscheidung

Am gleichen Tag der Freilassung der Gefangenen, dem 27. April, titelte eine weitere Schlagzeile, dass seit Beginn der Quarantäne am 20. März 32 femicidios begangen wurden. Die meisten davon im häuslichen Umfeld. Femicidio bezeichnet das Töten einer Frau aufgrund der Tatsache, dass sie dem weiblichen Geschlecht angehört. Das Thema der Gewalt und vor allem der femicidios ist in Argentinien sowie in ganz Südamerika sehr groß und bereits seit Jahren protestieren Feminist*innen regelmäßig gegen den vorherrschenden Machismo und fordern Gerechtigkeit für deren Opfer.

Der aktuelle Präsident Argentiniens zeigte sich kontinuierlich als Unterstützer dieser Proteste, weswegen viele Bürger*innen nicht verstanden, warum er sich nun doch gegen sie wendete, indem er Hausarrest oder die bedingte Freiheit der Täter zuließ. Ein besonders schlimmer Fall der gravierenden Folgen dieser Freilassungen wurde zur Unterstützung der Argumentation in der Öffentlichkeit diskutiert. Ein 68-jähriger Mann hatte seine 13-jährige Nachbarin vergewaltigt. Nachdem er sechs Monate flüchtig war, wurde er letztendlich gefasst und zu acht Jahren Haft verurteilt. Nun ist er aufgrund des Dekrets der Regierung nach nur sieben Monaten wieder in seinem Haus, zwar unter Arrest, aber in unmittelbarer Nähe seines Opfers (Scannone 2020).

Eine typische Demonstration in Buenos Aires: „Schluss mit dem Töten“ und „Gerechtigkeit“ sind einige der Schlagwörter. Stete Begleiter sind die grünen Tücher, deren Tragen für die Forderung auf das Recht auf Abtreibung steht. Quelle: CoopePauloFreire, CC

Ein weiteres Beispiel spricht eine andere politische Dimension dieser Regierungsentscheidung an: Von 2011 bis 2015 war Amado Boudou Vizepräsident des Landes unter Cristina Fernández de Kirchner. Er wurde 2018 der Korruption schuldig gesprochen und durfte nun aufgrund der Freilassung wegen Covid-19 ebenfalls das Gefängnis verlassen (AS Argentina 2020). Über die Hälfte der Bürger*innen sind jedoch der Meinung, dass Cristina Fernández de Kirchner, die aktuelle Vizepräsidentin, die Entlassungen eingefädelt habe, um sich eigene Vorteile zu verschaffen. Sie selbst muss sich nämlich aktuell auch noch wegen diverser Korruptionsvorwürfe vor Gericht verantworten (Clarín 2020).

 

Abschließende Überlegungen

Die Argentinier*innen haben bezüglich der Entlassung der Gefangenen eine relativ eindeutige Meinung. Daten einer nationalen Umfrage, durchgeführt per Telefon zwischen dem 28. April und 3. Mai, zeigen, dass 81,8 % gegen diese Maßnahme sind. 8,9% haben sich hingegen dafür ausgesprochen (Clarín 2020). Bestätigung für ihre Fragen und Zweifel fanden die besorgten Bürger*innen, als am 30. April in den Nachrichten berichtet wurde, dass einer der Freigelassenen bereits einen Raub begangen hat. Mittlerweile ist das kein Einzelfall mehr. Bei seiner erneuten Festnahme erklärte der Täter, dass er auf der Straße lebe und kein Geld habe (El doce 2020). In Zeiten der Quarantäne kann man schwer Arbeit oder eine Wohnung suchen und als ehemaliger Häftling stehen die Chancen noch schlechter.

Vor dem Hintergrund des jahrelangen Kampfes der Frauen in Argentinien gegen Gewalt wird die Entlassung der Täter allerdings zu einer weiterreichenden politischen Angelegenheit. Ebenso wird über die Motive der Regierung und die Rolle von Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner mit Bezug auf die ergriffenen Maßnahmen spekuliert. Die Bürger*innen, die sich in der Krise stets solidarisch verhalten haben, protestieren nun wieder gemeinsam von ihren Balkonen aus gegen den Beschluss der Regierung. Dabei blenden sie meist aus, dass die Gefangenen ja ebenfalls mögliche Opfer des Virus sind.

Persönlich denke ich einerseits, dass es den Opfern, vor allem von Gewaltverbrechen, gegenüber respektlos ist und auch eine Gefahr darstellt, verurteilte Straftäter*innen wieder in deren Nähe zu lassen und sie somit erneut einer akuten Bedrohung auszusetzen. Andererseits kann man auch den Gefangenen nicht ihre Menschenrechte verweigern und sie dem Virus ohne Weiteres aussetzen. Sie sind schließlich, wie wir alle, von derselben Situation einer möglichen Ansteckung betroffen.

Was wiegt also mehr? Das Recht eines Einzelnen, der zugleich jedoch eine Gefahr für andere aufgrund seines früheren Handelns darstellen kann, oder das der Gesellschaft? Lässt man Gefangene frei, damit sie sich nicht untereinander anstecken oder lassen wir sie in der Situation allein, um die Gesellschaft vor ihnen und möglichen Verbrechen zu schützen? Wer hat das Recht, solch eine Entscheidung zu treffen? Dies ist eine moralische Zwickmühle, die auf die Kollision unterschiedlicher Grundrechte im Kontext der Coronavirus-Pandemie verweist und die aktuell in der argentinischen Gesellschaft eine akute politische Herausforderung darstellt.

 

Geschrieben am 01. Mai 2020, überarbeitet am 09. Mai 2020

 

Kim Radestock ist Bachelorstudentin der Sozial- und Kulturanthropologie und Politikwissenschaft im 6. Semester an der Freien Universität in Berlin. Sie verbrachte das Jahr 2019 in Buenos Aires  und absolvierte dort verschiedene Praktika, unter anderem bei einer Tageszeitung, einer Stiftung für die Entwicklung Lateinamerikas und einer NGO für Menschenrechte. Aktuell befindet sie sich wieder in Buenos Aires und teilt Tagebucheinträge als Beitrag zum Curare Corona Diaries Project. Kontakt: kim.talea.radestock@fu-berlin.de

 

#Witnessing Corona

This article was simultaneously published on the Blog Medical Anthropology . Witnessing Corona is a joint blog series by the Blog Medical Anthropology / MedizinethnologieCurare: Journal of Medical Anthropology, the Global South Studies Center Cologne, and boasblogs.


Bibliographie:

Ámbito. 2020. Mapa: la curva de crecimiento de casos de coronavirus en el país. https://www.ambito.com/politica/coronavirus/mapa-la-curva-crecimiento-casos-coronavirus-el-pais-n5098301. Stand: 06.05.2020.

AS Argentina. 2020. Qué está pasando en las cárceles argentinas y por qué hay motines y polémica? https://argentina.as.com/argentina/2020/05/05/tikitakas/1588690455_314791.html. Stand: 06.05.2020.

Centenera, Mar. 2020. La Justicia argentina suspende las excarcelaciones por la covid-19 en la provincia de Buenos Aires. https://elpais.com/sociedad/2020-05-05/la-justicia-argentina-suspende-las-excarcelaciones-por-la-covid-19-en-la-provincia-de-buenos-aires.html. Stand: 06.05.2020.

Clarín. 2020. El debate por las excarcelaciones. Encuesta nacional: la mayoría se opone a la liberación de presos y cree que lo impulsa Cristina Kirchner. https://www.clarin.com/politica/encuesta-mayoria-opone-liberacion-presos-cree-impulsa-cristina-kirchner_0_IGCzAvfic.html. Stand: 06.05.2020.

Di Lodovico, Cecilia. 2020. Así se organizó la protesta en Devoto: “Todas las cárceles del país están esperando que pongamos primera”. https://tn.com.ar/policiales/asi-se-organizo-la-protesta-en-devoto-todas-las-carceles-del-pais-estan-esperando-que-pongamos_1064914. Stand: 06.05.2020.

El doce. 2020. Salió de la cárcel debido al coronavirus y horas después lo detuvieron por robar. https://eldoce.tv/sociedad/salio-carcel-debido-coronavirus-despues-detuvieron-robar-liberacion-presos_98413. Stand: 06.05.2020.

Radio Mitre. 2020. Cárceles bonaerenses: cuántos presos fueron liberados desde el inicio de la cuarentena por el coronavirus. https://radiomitre.cienradios.com/carceles-bonaerenses-cuantos-presos-fueron-liberados-desde-el-inicio-de-la-cuarentena-por-el-coronavirus/. Stand: 06.05.2020.

Scannone, Leonardo. 2020. Drama en Burzaco: el violador de una niña de 13 años recibió prisión domiciliaria y volvió al barrio en plena cuarentena. https://www.infobae.com/sociedad/policiales/2020/04/25/drama-en-burzaco-el-violador-de-una-nina-de-13-anos-recibio-prision-domiciliaria-y-volvio-al-barrio-en-plena-cuarentena/. Stand: 06.05.2020.

Smink, Veronica. 2020. Coronavirus en Argentina: por qué genera tanta polémica la decisión de sacar de la cárcel a algunos presos por riesgo a que contraigan el covid-19. https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina-52496655. Stand: 06.05.2020.