04/12/18

Ethnologie in einem Karton

Ethnologie ist schon eine eigenartige Disziplin. Sie ist eine jener, die immer ausführlich erklärt werden muss, weil Freunde und Familie im Normalfall keine treffende Vorstellung davon haben. Die perfekte Chance, um ein bisschen schlau daherzureden. Aber da macht uns das Fach einen Strich durch die Rechnung! Warum das so ist, lernt man ganz fix.

Man könnte sich das Fach als großen, magischen Karton vorstellen. Wenn man ihn öffnet, muss man auf eine unglaubliche Fülle an Elementen stoßen. Viele Teile, also Begriffe, Theorien und Konzeptionen, hält man in der Hand. Wenn man darin wühlt, weiß man oft nicht, was diese Teile sollen, was sie meinen oder wie man sie verwendet. Man wühlt und wühlt und findet keinen Boden, nur noch mehr Teile. Einige davon gefallen einem auch gar nicht, sie passen gar nicht so gut in den Karton. Sagt wer? Auch die Perspektive auf den Karton ist nicht unwichtig. Man kann ihn aus unterschiedlichen Blickwinkeln beobachten – die Teile des Kartons können je nach Blickwinkel unterschiedlich aussehen und in ihrer Bedeutung oder Verwendung variieren. Magisch eben! Für Menschen, die keinen schätzenden Blick auf den Karton erlangen können, ist dieser nicht mehr als ein Gegenstand im Raum. Manche stoßen und ärgern sich. Andere nehmen ihn gar nicht wahr. Wenn man anfängt Ethnologie zu studieren, dann hat man sich für diesen Karton entschieden und er ist jetzt irgendwie Teil des Lebens: wie man ihn ansieht, wie tief man darin wühlt und wie man die Teile zusammensetzt, liegt an einem selbst. Manchmal will man den Karton auch einfach wieder wegräumen.

Wie jede meiner universitären Pflichten, schreibe ich auch diesen Text kurz vor knapp! Mit der Metapher des Kartons kann man bei ahnungslosen Familienmitgliedern wohl eher nicht punkten – also wie macht man deutlich, warum man sich für diese herrliche Disziplin entschieden hat? Eigentlich gar nicht. Ein Professor hat mir bereits im ersten Semester davon abgeraten, zu versuchen, andere davon zu überzeugen. Das scheint mir aber glatt ein bisschen zu arrogant, so als hätten andere keinen Zugang dazu. Was mache ich also, wenn ich mich mal wieder darlegen muss? Einer der wohl universellsten Gründe, wieso dieses Fach sinnvoll ist, ist die simple Tatsache, dass es den eigenen Horizont ungemein erweitert. Oft erwidern Leute auf mein Wissen nur ein Lachen, von wegen es gäbe wichtigere Dinge, die man studieren könne. Das sehe ich anders: wer seinen Horizont erweitern möchte, muss sein Auge auch auf „kleine“ Dinge richten. Zum Beispiel Afrikanische Comics! Wenn man sich dann ein wenig damit befasst, merkt man rasch, dass viele Dinge gar nicht so „klein“ sind, wie man erst dachte. ZACK! Etwas Neues gelernt, einen neuen Blickwinkel eingenommen! Wenn ich zurückschaue auf drei Semester totale Verwirrung einerseits, dem Durst nach Wissen und Verständnis andererseits, ist der goldene Preis mein neuer Blickwinkel. Das merkt man, wenn man wie ich, mit Familienmitgliedern über Bräuche und Riten in Afrika spricht. Erstere schnappen so etwas in mittelmäßigen Dokumentationen auf, ich behandele das wissenschaftlich. Was Opa als äußerst komisch und rückschrittlich wahrnimmt, ist für mich eben einfach so, wie es ist: Menschen haben unterschiedliche Wege, ihr Zusammenleben so zu gestalten, dass es funktioniert. Was man dadurch gewinnt? Es ist schön. Es ist einfach schön zu wissen, dass es so viele unterschiedliche Lebensweisen auf der Welt gibt. Dabei möchte ich nicht die eine idealisieren oder die andere als weniger entwickelt betrachten. Um genau zu sein, gibt mir diese Gewissheit fast so etwas wie Trost. Nicht alle Gesellschaften der Welt verfolgen den gleichen Optimierungswahn und solch einen Leistungsdruck, wie unsere. Es gibt Systeme, die völlig anders sein können. Ganz plötzlich macht es also „klick“ und man findet Hexerei und Magie nicht mehr so schräg wie Opa das tut. Das Wissen, das ich mir aneigne, ermöglicht es mir Kritik zu üben. Viele versuchen das Fach auf den Gegenstand „Afrika“ zu reduzieren. Ich mag das nicht. Es ist auf der einen Seite unzutreffend, da die Ethnologie sich auch durch ihre Interdisziplinarität auszeichnet. Manchmal befasst man sich auch einfach nur mit Autobahnraststätten vor dem Hintergrund philosophischer Sichtweisen. Nein, keine afrikanische Gesellschaft. Und Kultur? Ein Begriff der so inflationär gebraucht wird, dass man ihn bereits anhand unserer Gesellschaft eingehend untersuchen und hinterfragen kann. Wenn man Ethnologie studiert, dann kann plötzlich vieles (oder alles?) im Leben ethnologisch relevant werden. Andererseits sind afrikanische Gesellschaften, deren politische und wirtschaftliche Systeme, Riten, Symbole und Strukturen etc.  immer eine hervorragende Grundlage, um die Welt besser zu verstehen und sie im Zuge dessen zu hinterfragen. Für mich geht es in erster Linie nicht konkret um das Wirtschaftssystem einer afrikanischen Gesellschaft. Man muss nur verstehen, was einem das Wissen über dieses für die eigene Gesellschaft mitgibt. Also sollte man tunlichst vermeiden, Ethnologie auf Afrika zu reduzieren. Man lernt vieles über die Welt, über einzelne Teile von ihr und über die Menschen selbst. Wie unterschiedlich sie leben, ohne, jemanden auf negative Weise als anders darstellen zu wollen.

..Dieser Text könnte eine lange Rede werden, warum dieses Fach so herrlich ist. Das würde den Rahmen aber sprengen.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass der Wille zum Wissen die Quintessenz ist. Man muss sich vor diesem Hintergrund auf den magischen Karton einlassen: man muss darin wühlen, sich diverse Teile aus unterschiedlichen Blickwinkeln ansehen. Und nach dem Boden sollte man gar nicht erst suchen, denn es gibt keinen. Viele stören sich daran. Übersetzt: Man muss sich Begriffe, Konzepte und Theorien ansehen und sich auf sie einlassen. Man verwendet sie, dekonstruiert sie oder legt sie einfach beiseite. Man wird im Laufe der Zeit immer tiefer im Karton wühlen und immer mehr Teile aneinandersetzen können, wie bei jeder Wissenschaft. Und man wird merken, dass einem die Ethnologie und relevante Bausteine und Gegenstände dieser tagtäglich begegnen. Und man versteht alles ein bisschen anders, ein bisschen besser und ein bisschen offener. Offenheit ist ein guter Preis für das viele Wühlen im Karton.

Theresa Vollweiter studiert im vierten Semester an der Johannes-Gutenberguniversität Mainz. Ihr Kernfach ist Soziologie und ihr Beifach Ethnologie. Theresa wollte niemals Ethnologin werden oder gar in die Schublade der Ethnologieklischees hineingesteckt werden. Bis sie sich mehr und mehr in der Thematik sah und sich bei Gesprächen immer wieder auf im Studium Gelerntes stützte. Da merkte sie schnell, dass sie in ihrem Fach angekommen ist. Am besten gefiel ihr das philosophisch geprägte Seminar zum Aspekt des Raumes in der Ethnologie. Im Einklang mit ihrem Hauptfach, kann sie sich für alltägliche Praktiken begeistern und diese vor ethnologischen Hintergründen betrachten. Plötzlich sah sie, dass Ethnologie überall ist, und sie war begeistert davon.