17/01/17

VÖLLIG LOSGELÖST, NICHTS GELERNT UND NICHT GEWILLT ZU LERNEN!

„Okay, okay – an einigen unwirtlichen Orten dieses Planeten mag es immer noch angebracht sein, fremde Menschen, die einem unangemeldet über den Weg laufen, vorsichtshalber zu erschlagen …“ Mit diesen Worten leitet Christian Weber seinen Artikel über die „edlen Wilden“ ein, an dessen Ende eine generalisierende Diskreditierung der Ethnologie steht, mit herausgepickten angeblichen Argumenten verschiedener Forscherinnen und Forscher vergangener Zeiten als Belege für die Antiquiertheit einer Wissenschaft. Sich tarnend mit dem kumpelhaften, pseudocoolen und fast spießig gewordenen „okay, okay“ webt sich Herr Weber eine Textur zurecht, die bei Demagogen und Demagoginnen gemeinhin am Anfang jedes Pamphlets stehen muss. Ganz seltsam etwa sei, dass in den USA und in Europa (warum bloß dort?) „gar nicht wenige“ Menschen glauben würden, dass in den sogenannten Stammesgesellschaften noch alles in Ordnung sei? Woher hat das Herr Weber bloß? Das klingt ja wie bei Trump! Glaubt wirklich „jeder“ Tourist, der gemeinhin in seinem heimischen Wohnzimmer um die Welt reist, dass in anderen Gesellschaften noch alles in Ordnung sei? Wo lebt heute in den Köpfen von Touristen und Großstädtern „der Mythos vom edlen Wilden“? Wahrscheinlich ist es eher eine Minderheit, die an so etwas noch glaubt. Touristen und Großstädter suchen nach Erholung, nach einem Ausgleich mit der Natur, nach unberührten Stränden, Landschaften und Meeren, nach historischen Sites, aber eher nicht nach Edlen Wilden. So doof, wie sie Herr Weber konstruiert, sind Großstädter, Nicht-Großstädter und Touristen in der Mehrheit sicherlich nicht. Im Übrigen mögen Touristen und Großstädter usw. denken was sie wollen, ihre vermeintlichen Meinungen aber auf eine ganze Wissenschaft zu übertragen ist postfaktische Anmaßung, ist das, was man als modische journalistische Hinwendung zum Trumpismus bezeichnen könnte.

Der Unterstellungsjournalismus und das zusammengebastelte Konstrukt, die in die Reihe der fakes gehören würden, die jenseits von jeder ernsthaften soziologisch- ethnologischen Analyse stehen und bloß gemeinte Meinung darstellen, stehen wie gesagt am Anfang des Textes von Herrn Weber und ziehen sich folgerichtig durch diesen hindurch. Dass dabei neue fakes herauskommen, ist diesem in seinem Bemühen, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, bloß Mittel zum Zweck. Doch inzwischen hat er sich wahrscheinlich längst anderen Themen zugewandt, schreibt etwa „über Margarine“ oder so und lacht sich eins über die besorgten Reaktionen der Ethnologen. Doch möchte ich annehmen, dass er es für sich genommen ernst meint mit seiner Meinung, die er hier als Realität präsentiert, gehört er doch zu jenen bedauerlichen Zeitgenossen, die mühevoll ihre Brosamen verdienen mit einem medienwirksam aufgepumpten Text, der sich einer Syntax und Lüge der frühen sechziger Jahre bedient. In der New York Times, die ich als Beispiel eines herausragenden Journalismus auch in diesen trumpischen Zeiten ansehe, hätte sein provinzielles Geplänkel sicherlich keine Chance zur Veröffentlichung. Herrn Webers Satz: „Tatsächlich sind in indigenen Völkern Gewalt, Hexenglaube und sorgloser Umgang mit der Umwelt verbreitet“ würde ich gern einmal dem gegenüberstellen, was wir bei uns jeden Tag an offener und versteckter Gewalt, an esoterischem Quark und sorglosem Umgang mit der Umwelt erleben und erleiden müssen. Wer das weiß, kann so einen Satz, der sogenannten Indigenen unterstellt wird, und wer erkennt, dass wir selbst auf eine Weise ebenfalls indigen sind, nicht mehr schreiben. Herr Weber und seine verantwortliche Redaktion sind von diesen Einsichten weit entfernt. Sie glauben offenbar selbst noch an den „edlen Wilden“ und geben sich als Aufklärer, denen man zurufen möchte: Seht doch auch auf Euch selbst, wenn wir schon über Relativismus sprechen.

Wie sooft müssen als „indigen“ geoutete Menschen, Gruppen, Völker herhalten, um abzulenken, von dem heruntergekommen Zustand, in dem wir uns journalistisch bezüglich des Verhältnisses zu anderen Kulturen offenbar befinden. Kann über „Hexenglauben“ in anderen Kulturen gesprochen werden, ohne in dialektischer Korrelation zum Hexenglauben und mystizistischen fakes bezüglich von Flüchtlingen und fremd erscheinenden Riten auf uns selbst zu schauen? Wann hat jemals ein ernstzunehmender Ethnologe Beschneidungspraktiken, Kindestötungen, Unterdrückung von Frauen, Tötung von Alten für rechtens erklärt? Sicher, es ist nicht auszuschließen, dass es da verschrobene Ansichten gibt, aber eine ganze Wissenschaft damit zu identifizieren … ? Wenn ich beispielsweise gewisse bayerische Praktiken von Nepotismus und Parteienwirtschaft als kulturtypisch für eine Region beschreibe, wie wohl jeder Bäcker beispielsweise eines kleinen Ortes in Bayern weiß, der nicht einer regional bedeutenden Partei beigetreten ist, rechtfertige ich damit eine derartige Kultur noch lange nicht. Ethnologie ist eine beschreibend-analytische Wissenschaft und nicht primär Meinungspolitik. Jedoch: Der Entwurf, den Herr Weber als Meinung über die Ethnologie vorstellt, hat Großes im Sinn: den Rundumschlag gegen eine Wissenschaft, die gerade durch ihren seit Langem geführten offenen Diskurs über das Eigene und das Fremde bequem angreifbar zu sein scheint. Dabei gehört gerade dieser Diskurs und die damit verbundene methodische Selbstkritik zu den Stärken der Ethnologie.

Sicherlich ist Herr Weber kein böser Mensch, er kämpft nur, wie alle anderen auch, ums Überleben in seinem Job. Abhängig von Redakteuren, die mäkeln und launisch sind, die, was gut sei und was schlecht sei, „ganz objektiv“ zur Veröffentlichung freigeben, muss der freie Autor sich nach der Decke strecken und sich täglich „neu erfinden“. Will man zum Thema Ethnologie und Relativismus in der Ethnologie „etwas machen“, so ist das Feld bereits bestellt, da muss man gar nicht mehr „sooo viel arbeiten“. Will sagen, Herr Weber befindet sich in guter Gesellschaft von Dilettanten und Hetzern gegen die Ethnologie. Ansätze zu populistischem Niedermachen der „Deutungshoheit“ von Wissenschaftlern, von Fachleuten mit soziologisch-ethnologisch-kulturhistorischer Ausrichtung, liegen bereits seit Längerem vor. Hier eine kleine Auswahl aus dem Bereich der Museen:

In einer ausführlichen Analyse am Beispiel einer Ausstellungsbesprechung in der Süddeutschen (16.4.2012) beschreibt Michael Kraus (in: Quo Vadis, Völkerkundemuseum? (Transcript, Bielefeld 2015: 228ff) wie mittels einer „typisch koloniale(n) Diskursfigur“ (230) Pseudokritik an einer „an sich schon“ problematischen Institution geübt wird. Ein Per-Se-Denken zur Diskreditierung dieses Museumstyps und seiner WissenschaftlerInnen wurde auch im Weltkulturen-Museum in Frankfurt am Main unter der Ägide seiner früheren (inzwischen entlassenen) Direktorin Clémentine Deliss gefördert: So hielt es Frau Deliss in ihrer Ausstellung „Objektatlas – Feldforschung im Museum“ (2012) für völlig ausreichend, ein Foto, das Mark Münzel während einer seiner Feldforschungen mit viel Gepäck vor einem Kleinflugzeug zeigt, als Beleg für die Fragwürdigkeit, ja „Lächerlichkeit“ von Forschungen in anderen Kulturen zu „dokumentieren“. In diesem Stil fortfahrend bediente sich Frau Deliss im reichhaltigen Archiv des Frankfurter Museums in einer späteren Ausstellung einer oberflächlichen Auswahl von Nacktbildern, vornehmlich „Penisbildern“ die Anthropologen im frühen 20. Jahrhundert von Afrikanern angefertigt hatten, um kommentarlos anthropologische Forschungen früherer Zeiten vorzuführen, ohne zu bemerken, dass Sie die erste war, die diese Bilder überhaupt ausgestellt hat und mit ihrer „Vorführtechnik“ frühere Vorurteile bloß in die Jetztzeit transportiert, statt sich dezidiert damit auseinanderzusetzen. Die Dialektik des Zeigens, die natürlich immer auch ein Bild der Zeigenden entwirft, trat auch in der von Tamara Garb 2015 in einer Berliner Galerie kuratierten Ausstellung „Distanz und Begehren. Begegnungen mit dem afrikanischen Archiv“ zutage: Die Problematik früherer und moderner Abbildungen von Afrikanern könne sich der Besucher nur erklären, indem er „mit vollen Sinnen“ durch die Ausstellung gehe (unterstellend, dass es ein Besucher sonst nicht tue). In diesem Zusammenhang spricht Frau Garb von einem „Rückfall ins Anthropologische“ („Das koloniale Archiv komplexer denken“. Interview mit Tamar Garb. TAZ, Berlin Kultur, 5.6.2015). Innerhalb dieses Denkens scheint es folgerichtig zu verkünden, dass Besucher, die in ein Völkerkundemuseum gehen, dort bloß ihren kolonialen Blick bestätigen wollten, wie es unlängst in der Ausstellung „fremd,“ im Leipziger Völkerkundemuseum behauptet wurde, weil ja bisher immer Wissenschaftler in diesem Museum ihr Wissen vermittelt hätten. Frenetisch wurde in Dresden im Dezember 2016 bei einer Ausstellungseröffnung im Japanischen Palais der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden die Verkündung seitens der nicht promovierten Direktorin gefeiert, dass es nunmehr gelungen sei, den „Doktoren die Deutungshoheit“ zu entziehen.

Was heißt denn „Deutungshoheit“? Wenn man Wissen missbraucht, doch wohl! Oder hat ein Wissenschaftler kein Recht mehr, seine Erfahrungen, sein Wissen über andere Kulturen mitzuteilen, auch wenn es unbequem erscheint, ohne von Dilettanten in die Schranken gewiesen zu werden? Selbstverständlich dürfen und müssen die „Liebhaber einer Kunst oder Wissenschaft, die sich ohne tiefere Ausbildung mit einem Thema beschäftigen“, also Dilettanten, ihre Meinungen vertreten und Wissenschaft kritisieren, und jede Wissenschaftlerin, jeder Wissenschaftler muss Fragen beantworten und sich in einem fairen Prozess rechtfertigen können. Aber was derzeit massiv stattfindet, ist die Ersetzung einer vermeintlichen „Deutungshoheit“ durch populistisch wirksame Ideologien aus den untersten Schubladen der Denunziation. Das sich verbreitende Ressentiment gegen ethnologisches Wissen, gegen Zurückhaltung und Vorsicht in der Darstellung von Erfahrungen in anderen Kulturen, erinnert an sehr dunkle Zeiten in unserer Geschichte. Heute sind es die schleichenden Symptome erneuter Arroganz, besessenem Gutmenschentums und banausischer Besserwisserei. – Doch mag meine Polemik hier stark überzogen sein, denn bei genauem Hinsehen verbirgt sich ein gar jämmerlicher Entwurf hinter diesen Angriffen, deren Sprache offen vorliegt und entsprechend erkannt werden kann.

Vergl. Claus Deimel, Wer Wind sät. Rufe aus der „letzten bildungsbürgerlichen Bastion rassistischen Denkens.“ In: Paideuma 62:261–274, 2016