VIELSTIMMIGKEIT, DIFFERENZPOLITIK UND KONFLIKTE …
Vielleicht liegt es ja an der Zeit meines Studiums in den 1970er Jahren. Ohne eine intensive Grundausbildung in marxistischer Theorie ging gar nichts, und die Soziologie und Politikwissenschaft hatte damals für eine neugierige politisierte Studentin weit Interessanteres anzubieten als die Ethnologie, zumindest an meinen Studienorten.
Fächergrenzen waren uninteressant; wir wollten die Gesellschaft verstehen und verändern. Und jedenfalls lernten meine Kommilitonen und ich, immer nach den Widersprüchen und Konflikten zu fragen, die sich in jeder Gesellschaft finden – egal, ob auf der Makro- oder Mikroebene, und egal, ob im Globalen Norden oder in der „Dritten Welt“, wie es damals hieß. Vielleicht liegt es auch an meiner spannungsreichen Familiengeschichte, die mich von früh an gelehrt hat, auf Dissonanzen zu achten und unterschiedliche Sichtweisen und Interessen der Beteiligten gegebenenfalls zum eigenen Vorteil zu nutzen, wenn ich einigermaßen durchkommen wollte.
Jedenfalls überwog bei mir in all meinen Feldforschungen seit den 1980er Jahren, ob in indianischen Gemeinden im ecuadorianischen Hochland oder bei den einst segmentären Dagara in Nordghana (den „LoDagaa“ von Jack Goody), der Eindruck einer gewissen Vertrautheit, bei aller Unterschiedlichkeit und Fremdheit. Irgendwie schien es in diesen Dörfern und Lokalgesellschaften nicht so grundsätzlich anders zuzugehen als in meiner komplizierten Familie oder in niedersächsischen oder hessischen Kommunen mit ihren immer noch nachwirkenden Spaltungen von Katholischen versus Evangelischen und politischen Fraktionskämpfen im Gemeinderat, in denen sich wirtschaftliche mit verwandtschaftlichen Interessen verbanden. Es gab in meiner Erfahrung auch nicht so eine klare Grenze zwischen „wir“ und „die anderen“, wie sie in manchen Beiträgen in diesem Blog anzuklingen scheint. Ich wurde als Feldforscherin in Ecuador und Ghana zwar einerseits als Außenseiterin behandelt, andererseits aber auch sehr rasch in mit hiesigen lokalpolitischen Kämpfen durchaus vergleichbare Auseinandersetzungen hineingezogen; ich wurde dabei nicht selten instrumentalisiert, oft ohne zunächst so recht zu begreifen, wie mir geschah… Und ich habe dann am meisten gelernt über die „fremde“ lokale Geschichte und das Zusammenleben in den erforschten Gesellschaften, wenn ich versuchte genauer zu verstehen, wer da eigentlich mit wem, gegen wen, warum, seit wann und auf welche Weise kämpfte, sich verbündete und wieder trennte. Das eine Mal geriet ich sofort in die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Bauern, die von der Patronage des alten Großgrundbesitzers immer noch profitierten, und anderen, die frühzeitig auf Unabhängigkeit gesetzt hatten. Das andere Mal wurde ich in massive Konflikte um Häuptlingsnachfolgen hineingezogen, die mit allen Waffen der Erfindung von Traditionen und der Re-Interpretation kolonialer Eingriffe ausgefochten wurden.
Romantische Vorstellungen, dass ich Gemeinschaften mit einer „fremden“ Kultur erforschen würde, die ich ganzheitlich verstehen und respektieren müsste, lagen hier verständlicherweise nicht sehr nahe. Ich hatte es irgendwie immer mit Gesellschaften und Gruppen zu tun, deren Mitglieder selbst intensiv über anzustrebende Lebensentwürfe, durchzusetzende Normen und geeignete Strategien stritten. Auch über Fragen der Mitgliedschaft (wer „gehört“ eigentlich dazu) waren diese Gesellschaften uneins. Und einige Mitglieder hatten teilweise sehr selbstbewusst einige koloniale Angebote angenommen und zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen gewusst. Natürlich wurden und werden dabei auch temporär Bilder von Geschlossenheit errichtet, und einzelne Gruppen positionieren sich als „die X“ gegen „euch“ Imperialisten im Westen (aber meist eher gegen „die Y“ im eigenen Land). Doch solche Demarkationslinien waren und sind nicht von langer Dauer oder nur in bestimmten Kontexten relevant. Für mich bedeutete das auch: Ich fühlte und fühle mich einigen Individuen oder Fraktionen „dort“ enger verbunden und konnte sie besser verstehen als manche meiner Mitbürger „hier“.
Und wenn ich heute über Nationalfeiern oder über die Entstehung von Mittelklassen arbeite, kann ich beobachten, dass die Herausforderungen für einen ghanaischen und einen deutschen Protokollbeamten sehr ähnlich sind, oder ich verstehe vor dem Hintergrund der familiären Konflikte um Bildungsinvestitionen hiesiger Mittelklasse-Eltern die Entscheidungsdilemmata aufstiegsorientierter Nordghanaer besser.
Das alles ist sicherlich nicht sonderlich überraschend oder neu. Viele Blog-Teilnehmer haben sicher ähnliche Erfahrungen, und einige haben auch schon erwähnt, dass die meisten Ethnologen heute keine (scheinbar) geschlossenen indigenen Gemeinschaften, sondern differenzierte, in sich heterogene und vielfältig transnational oder jedenfalls supralokal verflochtene Lebenswelten erforschen. Eine gewisse Nostalgie über die verlorene Welt scheinbar einfacher Gegensätze klingt dennoch in etlichen Beiträgen an. Ebenso wie ein merkwürdiger „Sündenstolz“, wenn die indigenen Gesellschaften vor allem als Opfer des europäischen Kolonialismus wahrgenommen werden. Natürlich müssen wir über Machtgefälle nachdenken, in die unser eigenes Tun – als Forscher ebenso wie als politisch positionierte Bürger – eingebunden ist. Doch mir liegt, wie auch Chris Hann, eine komparative Soziologie sehr viel näher als eine romantisierende Ethnologie, die die „Andersartigkeit“ fremder „Kulturen“ zu verstehen trachtet und à la Graeber als inspirierenden Steinbruch für den Entwurf anti-kapitalistischer Praktiken sieht. Ich denke, wir brauchen komplexe, weltkluge Analysen nicht von Differenzen, sondern von Prozessen des Setzens (und Aussetzens) von einem ganzen Bündel von Differenzierungen (und Ähnlichkeiten). Dass ich „hier“ wie „dort“ in manchen Hinsichten vergleichbare Herausforderungen und Konfliktdynamiken wahrgenommen habe, macht ja das Erforschen von bzw. Forschen in nicht-europäischer Gesellschaften nicht überflüssig – im Gegenteil. Aber es braucht dafür keine Postulate einer grundsätzlichen, radikalen Andersartigkeit, die durch kulturrelativistische Positionen überwunden werden müsste. „Andersartigkeit“ findet sich auch in der eigenen Gesellschaft, und die „Befremdung des Eigenen“, die Stefan Hirschauer von Soziologen verlangt, braucht es überall.
Darum hätte ich auch kein grundsätzliches Problem damit, „unser“ Fach in einer übergreifenden Kultur- und Gesellschaftswissenschaft aufgehen zu sehen, die solche Analysen leistet. Es ist doch im Gegenteil erfreulich und erfrischend, wenn sich andere Wissenschaftler „unsere“ Methoden aneignen (die im Übrigen noch nie so recht das Monopol der Ethnologie waren, wie der von Malinowski konstruierte und in wissenschaftspolitischer Hinsicht erfolgreiche Mythos postulierte). Aber das geht weit über die Thematik des „Kulturrelativismus“ hinaus – und verweist darauf, dass „wir“ Ethnologen natürlich auch keine geschlossene Gemeinschaft sind, sondern höchstens ein temporärer Verbund, der sich im Protest gegen eine unbefriedigende journalistische Darstellung vereint…