UND BOAS HAT DOCH RECHT! EIN PLÄDOYER FÜR DEN KULTURRELATIVISMUS
Anmerkung der Redaktion: Thomas Reinhardt veröffentlichte diesen Text zuerst Anfang November 2016 auf der Homepage des ethnologischen Instituts der Ludwig-Maximilians- Universität München als offenen Brief an die Süddeutsche Zeitung – Betr.: SZ vom 17.10.2016, Christian Weber: Die Mär vom edlen Wilden
Der Mensch ist nicht immer gut. Was er sich an kulturellen Praktiken einfallen lässt, ist nicht immer schön. Und wo viele Menschen dauerhaft zusammenleben, geht es nicht immer erfreulich zu. Der Neuigkeitswert einer solchen Feststellung ist gering. Interessant wird die Angelegenheit erst, wenn man fragt, was denn genau „gut“ sei. Oder „schön“. Oder „erfreulich“. Sind Schlaghosen schön? Ist es gut, Leihmutterschaften zu verbieten? Ist industrielle Tierhaltung erfreulich?
Um Missverständnissen vorzubeugen: auch die laut einem Beitrag in der SZ vom 17. Oktober 2016 angeblich romantisch jede Ursprünglichkeit verklärenden Ethnologen würden mehrheitlich zweifellos eine Welt ohne Gewalt, Verstümmelung und Mord derjenigen vorziehen, in der wir leben. Die einfache Formel: „Alles, was anders ist als bei uns, ist gut“, allerdings hat in unserem Fach noch nie einen bevorzugten Platz besetzt (jedenfalls nicht, nachdem der wissenschaftliche Nachwuchs ein paar Jahre in Kulturrelativismus geschult wurde). Eine nach den eigenen Wertmaßstäben regulierte Welt lässt sich nicht gewaltsam verordnen. Es ist ja nicht so, dass es nicht versucht worden wäre. Die Geschichte der europäischen Expansion aber zeigt nicht nur, dass das nicht funktioniert, sie zeigt auch, wohin so etwas führt.
Dass kulturelles Hegemoniestreben, wie während der Kolonialzeit praktiziert, zwangsläufig scheitern musste, kann nun – Ihr Autor Christian Weber wird das nicht gerne hören – ausgerechnet der von ihm geschmähte Kulturrelativismus erklären. Der nämlich hat früh erkannt, dass kulturelle Praktiken stets Teil größerer Systeme sind. In ihrer Bedeutung für die betreffende Gesellschaft verstehen kann man sie entsprechend nur, wenn man ihre Rolle im Gesamtzusammenhang des jeweiligen Systems im Blick behält. So macht es beispielsweise einen ganz entscheidenden Unterschied, ob der Systemzusammenhang die deutsche oder die englische Sprache ist, wenn ich gefragt werde, ob ich jemandem ein „Gift“ gegeben habe.
Noch drastischer fallen die Konsequenzen aus, wenn wir nicht nur versuchen, Kultur zu verstehen, sondern aktiv in das System eingreifen und einen Teil davon nach unseren Wertvorstellungen zu modellieren versuchen. Wenn Ihr Autor genau das in seinem Artikel fordert, gleicht er dem Narren, der erkannt hat, dass aus dem Auspuff eines Autos schädliche Abgase kommen, und nun glaubt, das Problem sei behoben, wenn er nur eine passende Kartoffel ins Endrohr steckt.
Einem Kulturrelativisten wäre das vermutlich nicht passiert. Er hätte zunächst einmal gefragt, welche Rolle das Endrohr für das System Verbrennungsmotor spielt. Gut möglich, dass er danach mit keiner Empfehlung für eine effektive Abgasreduktion hätte aufwarten können. Nicht aber, weil er Abgase für gut hielte, sondern weil das System sich als komplexer herausstellte, als es vielleicht zunächst scheinen mochte. Gut möglich auch, dass der Blick auf das Ganze am Ende durchaus den Weg zu einer Lösung zeigte. Dazu muss man aber zunächst einmal versuchen, es in seiner inhärenten Logik zu begreifen.
Das bedeutet übrigens nicht, wie Ihr Autor zu glauben scheint, eine Relativierung aller Werte im Sinne eines „Alles-ist-gleich-gut“. Der Kulturrelativismus der Ethnologie war stets in erster Linie ein methodischer, der Werturteile zunächst (!) so weit zurückstellt, dass eine emische Analyse kultureller Phänomene, eine Untersuchung entlang der inneren Gesetzmäßigkeiten des Feldes, möglich ist.
Entsprechend halten Ethnologen keineswegs „jede menschliche Gesellschaftsform für bewahrenswert“, und wir „träumen“ auch nicht „von den Verhältnissen in Stammesgesellschaften“. Die stehen übrigens ohnehin schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr selbstverständlich im Kern ethnographischer Forschung. Zwar bildet das Studium menschlicher Lebensweisen auf Inseln, in Dörfern und in Nomadenlagern weiterhin eines der Standbeine der Disziplin, schon lange aber hat sich das Fach von der Illusion verabschiedet, hier auf Unvermischtes, Ursprüngliches zu stoßen. „Kultur“, so ein Ergebnis jahrzehntelanger ethnologischer Knabberarbeit am Begriff, heißt immer schon Vermischung. Heißt multiple Grenzüberschreitung, fehlendes Zentrum und unscharfe Ränder. Zunehmend forschen Ethnologinnen und Ethnologen deshalb heute auch in Megacities oder transnationalen Gemeinschaften, auf Müllkippen oder an der Börse. Und nicht wenige kommunizieren mit ihren Forschungsgegenübern bevorzugt per E-Mail.
Kern kulturrelativistischen Denkens sind allerdings ohnehin nicht individuelle Präferenzen. Wenn Ethnologen nicht über jeden Vorschlag, uns unangenehme (oder auch „abscheuliche“) kulturelle Praktiken abzuschaffen, in Ekstase geraten, dann nicht, weil wir unterschiedslos alles großartig fänden, solange es nur von sogenannten Indigenen getan wird – sondern weil wir gelernt haben, dass ein Eingriff in ein System stets Folgen für das große Ganze hat und in seinen konkreten Auswirkungen kaum vorherzusehen ist.
Kultureller Wandel, auch das ist eine der Lehren des Kulturrelativismus, ist möglich (und unausweichlich). Er kann aber nicht von außen diktiert werden. Und er verläuft, wenn wir es dennoch versuchen, mit Sicherheit anders als geplant.
Eine weitere Lehre der kulturrelativistischen Ethnologie ist, dass es die richtige Sicht auf die Welt nicht gibt. Mag sein, dass die westliche Lebensweise auf den ersten Blick eine ganze Reihe von Vorteilen gegenüber anderen Formen der Lebensgestaltung bietet: Menschenrechte sind eine großartige Sache, und ein Leben in Wohlstand finden Viele sicher auch erstrebenswert. Es gibt jedoch gute Gründe, unsere Lebensweise nicht für die alleinseligmachende zu halten. Schon allein deshalb, weil die Kapazität unseres Planeten in so vielerlei Hinsicht begrenzt ist, dass wir uns schon sehr kräftig in die eigene Tasche lügen müssen, wenn wir ernsthaft fordern wollten, dass unsere Maximen – mit Kant gesprochen – „ein allgemeines Gesetz werden“.
Vielleicht ist es aber gar nicht schlecht, wenn es keine unveränderlichen absoluten Maßstäbe gibt. Denn das Unglück am Dogmatismus ist ja, dass er unweigerlich in jene unappetitliche Form des Fundamentalismus mündet, der abweichende Meinungen nicht mehr toleriert. Schlimmer noch: der überhaupt keinen Versuch mehr zulässt, etwas zu verstehen, was der eigenen Sicht auf die Welt zuwiderläuft. Und davon gibt es in der Welt weiß Gott genug.
Der zu Unrecht in der SZ geschmähte Franz Boas wusste übrigens aus eigener schmerzlicher Erfahrung, wie es ist, von außen beurteilt und an Maßstäben gemessen zu werden, die nicht die eigenen sind. Zum Emigranten wurde er nicht wegen der großartigen Möglichkeiten, die sich in Amerika boten, sondern auch, weil eine von Antisemitismus geprägte deutsche Universitätslandschaft ihm, einem säkularisierten Juden, keine Chance auf eine wissenschaftliche Karriere in der Heimat bot.
„Ethnologen sind immer noch recht gut darin, [kulturelle] Praktiken aus der inneren Logik [von] Gesellschaften zu erklären“, schrieb Christian Weber am 17. Oktober in der SZ. Ein größeres Lob kann ich mir allerdings kaum vorstellen. Ich hoffe, dass viele unserer Studierenden mit genau dieser Fähigkeit die Universität verlassen.