MIMETISCHE PRAKTIKEN IN DER BEGEGNUNG VON EIGENEM UND FREMDEM. HEGEMONIALE IMAGINATIONEN UND IHRE SUBVERSION
Die Selbstvergessenheit von “Kulturkritikern”
Immer wieder einmal wird der Ethnologie vorgeworfen, sie idealisiere abstruse kulturelle Praktiken bei “indigenen” nichteuropäischen Gesellschaften. Impliziert wird in der Kritik, dass Ethnographien in ihrem Methodenkanon in der Tat die Logik der Praxis anderer Kulturen durch ethnographisches Schreiben autorisieren und legitimieren, indem sie vor allem die Stimmen der Beteiligten und deren Interpretationen zur Sprache bringen. Dabei wird jedoch leicht vergessen, dass Ethnographien auch immer die Positionierung der Forscherinnen als reflexive Folie – und damit ihr eigenes gesellschaftliches Umfeld einschliesslich der dort herrschenden Vorurteilsstrukturen – in ihre Texte einfliessen lassen. Unangemessen ist daher der Vorwurf, dass der dadurch angeblich vorgezeichnete Relativismus es verhindere, universal anwendbare Standards von Menschenrechten zu etablieren, die, so wird in der Kritik als selbstverständlich angenommen, auf unhinterfragten philosophischen Vorgaben einer westlichen – daher universalen – Vernunft aufbauen müßten.
Wenn dem so wäre, müßte der Kritiker sich selber an die Nase fassen ob seines flachen historischen Verständnisses nicht nur der europäischen Ideengeschichte, in der die Ethnologie und das ethnographische Schreiben ihren Ursprung haben, und ob seines selbstvergessenen kollektiven Gedächtnisses über genau die Gräuelpraktiken, die er den “Indigenen” vorwirft, deren Ausübung jedoch durch europäisch-amerikanische Welteroberer in der eigenen und unter fremden Gesellschaften zur Verwüstung der Natur auf globaler Ebene wie zur genozidalen Entvölkerung auf allen Kontinenten geführt haben. Bastian, der “Gründer” der deutschen Ethnologie, hat sich zeitlebens (1823-1904) mit dem Problem von Universalem und Kulturspezifika herumgeschlagen und ein ganzes Arsenal von hypothetischen Konzepten erarbeitet, die allerdings heute zum Teil als überholt angesehen werden. Sein Lösungsversuch des Widerspruchs, der die europäische Episteme seit zwei Jahrtausenden durchzieht, war ein rein szientistischer, auf Empirie aufbauender Ansatz, der zumindest insofern noch beeindruckt, als er es vermeidet, einer Melancholie anheimzufallen, die Levi-Strauss bei dieser Fragestellung überkam. Beide haben jedoch klar ihr Entsetzen über die Resultate kolonialer Verwüstungen an Natur und Menschen durch europäische Gier und Arroganz zum Ausdruck gebracht (Köpping 1983, Adolf Bastian and the Psychic Unity of Mankind, Brisbane; Neudruck 2004, Berlin; Claude Levi-Strauss, 1954, “Les Tristes Tropiques, Paris). Bastian hätte den Kritiker wahrscheinlich unter seiner Rubrik eines Produzenten “dünner geistiger Wassersuppen” eingestuft (Bastian 1871, in einer Rezension von Darwin’s ‘Descent of Man’ in der Zeitschrift für Ethnologie, zu deren Gründern er gehörte, Band 3, S. 133 ff.).
Den Kommentaren von Claus Deimel in seinem Beitrag vom 17.1.17, der die Sicht des Zeitungskritikers an der Ethnologie treffend als eine an Absurdität grenzende Grotske kennzeichnet, kann ich nur einige Fußnoten hinzufügen, einmal durch kursorische Verweise auf europäische Praktiken der Intoleranz seit der Zeit der “Entdeckungen” um 1500 in einer historischen Sicht einer “longue duree” oder als Teil eines “kulturellen Kapitals”, das, wie Stephen Greenblatt (Bourdieu folgend) es umschrieb, manchmal an die Oberfläche kommt (wie in der Kritik an der angeblich moralischen Relativierung aller Maßstäbe durch die Ethnologie), um ab und zu abzutauchen, ohne jedoch völlig verloren zu gehen (Stephen Greenblatt, “Marvellous Possessions”, 1991). Bevor ich zu diesen Beispielen der europäischen Sichtweisen auf die Bewohner außer-europäischer Räume zu sprechen komme, möchte ich den Kritiker auf seine offensichtliche Verwechslung von Konzepten, nämlich von “Idealisierung” hinweisen, die etwas anderes umfasst als das Beharren auf der “Einzigartigkeit” kollektiver kultureller Lebenswege, die Kernpunkt allen ethnographischen Berichtens und der ethnologischen Theoriebildung seit Johann Gottfried Herder’s Schriften von 1774 (“Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit”) und von 1784-1791 (“Ideen zur Philosophie der Geschichte”) geblieben sind.
Von Herder zu Zygmunt Bauman
In den angeführten Schriften stellt Herder einmal die rhetorisch-theatral formulierte Frage, wo denn endlich ein neuer Montesquieu zu finden sei, der hinter den unendlich vielen jeweils einzigartigen kulturellen Gebilden ein gemeinsames Konzept beibringen könne. Er meint nicht Konzepte zur Bezeichnung einzelner Gesetzesformen, sondern er fragt nach dem “Geist der Gesetze”. Aber Herder – in seiner der französischen Aufklärung gegenüber skeptischen Sicht über die Verschubfächerung von Wissen – winkt sogleich ab: Nein, das wäre ein falscher Ansatz, denn kein einziges Konzept passe auf die Vielfalt von kulturellen Schöpfungen von Gruppen. Solche uniformen Gesetzmäßigkeiten zu suchen käme dem Versuch gleich, für alle Körperformen ein einziges Kleid zu entwerfen. Das wäre aber genau dann das Kleid, das keinem passen würde. Für Herder ist es wichtig, einen Standpunkt zu finden, der jede Kultur aus ihren eigenen Rahmenbedingungen und Wertehaltung her zu beurteilen imstande wäre. Er veweigert sich damit wissenschaftlichen wie eurozentrischen Sichtweisen. Die logischen und interpretativen Widersprüche, die seine Forderung auslösen, haben bis in die moderne Hermeneutik hinein keine schlüssige Antwort gefunden. Gadamer gibt einmal den Hinweis, dass wir uns durch Reflektion von jenen Vorurteilsstrukturen befreien könnten, die uns sonst unbewußt zu beherrschen drohen. Für Habermas ist es die Forderung nach einer von kommunikativem Interesse geleiteten Vernunft, die zur Emanzipation führen könne. Eine epistemologische Begründung für eine solche Forderung kann aber nach Zygmunt Bauman nicht gefunden werden. Das ist eine in der Praxis jeweils zu treffende Entscheidung, wenn man sich für relativierende Diversität und den gleichberechtigten Dialog einsetzt, anstatt sich der monologischen Hegemonie der Setzung durch eine dominante Partei zu verschreiben (Bauman 1992: “Intimations of Postmodernity”, S. XXI ff. und 35 -38). In einer radikal pluralistischen Gesellschaft gibt es keine Verteidigung eines dominanten Standpunktes mehr: “Reason cannot legislate for discoursive formation” (Bauman, S.70).
Für den neuseeländischen Dichter und Ethnographen der Kuranko Kultur gibt es daher nur einen Weg für ethnologische Forschung:
“An anthropology which reflects upon the interplay of biography and tradition and makes the personality of the anthropologist a primary datum entails a different notion of truth than that to which a scientistic anthropology aspires. It is a notion of truth based less upon epistemological certainties than upon moral, aesthetic, and political values” (Michael Jackson, “Paths Toward a Clearing”, 1989:167). Es gibt aus dem Aktivismus indigener Gruppen in der politischen Gegenwart vielleicht doch zwei erwähnenswerte Beispiele, bei denen die Ziele eines universal zu schützenden Gutes und die partikulären Interessen zusammenfielen: zum einen in dem Dauerstreik der Ureinwohner Amerikas, die Fracking und das Legen einer Pipeline verhindern wollen; hier treffen die Interessen des Überlebens der Dakota Völker auf die Interessen der internationalen Gemeinschaft, die sich um Raubbau in der Natur sorgen und gegen eine industrielle Ausbeutungen wehren, die globale Schäden im Klima hinterlassen würden. Ein anderer Fall sind die Märsche indigener Frauen in Peru, die auf die Verletzung ihrer körperlichen Unversehrtheit aufmerksam machten, die durch unerlaubte und in den Folgen unabsehbare medizinische Eingriffe durch die vorhergehende Regierung ausschliesslich an Körpern der Autochthonen vorgenommen wurden. Weltgesundheitsregeln und universale Frauen-Rechte wurden hier durch partikulären regionalen Widerstand umgemünzt, der nicht nur die Wahlen in Peru beeinflusste, sondern auch weltweit auf das Problem aufmerksam machte, dass diese und ähnliche Praktiken (Verkauf und Versklavung der Arbeitskraft von Frauen subalterner oder wirtschaftlich schwacher Regionen, wie den Philippinen, Malaysia oder Nigerien) von hegemonialen wirtschaftlichen und politischen Interessen geleitet sind, die einer Rendite-Vernunft wie einer Degradierung von Autochthonen als verachteten oder verfemten Fremden, als “Nicht-Menschen” geschuldet ist (in Japan genauso wie in Frankreich oder den Vereinigten Staaten). Es ist bemerkenswert, hier anzumerken, dass Herder, was die Auswahl der Sinneskanäle für empathische Affektivität betrifft, sich eher vom Ohr leiten liess als vom Auge, das in der mit Medien beschäftigten akademischen Diskussion der Gegenwart eine große Rolle spielt. Er verweist einmal auf das Mitleid, dass die Schreie eines früheren Gefährten, der auf einer Insel verwundet gestrandet ist, die Gefährten des Odysseus, als sie vorbeisegeln, tief bewegt. Herder vertraute also dem Hören als direktem Zugang zum Empfinden mehr als dem von uns favorisierten Sehorgan, das als eine ubiquitäre Zugangsweise zur Weltwahrnehmung gesehen wird, und als eine primär auf Beherrschung zielende Form der Weltsicht (zumindest in der europäischen Episteme; ob generalisierbar für bestimmte interactive Beziehungen, in der eine Partei sozusagen die Augen abwendet, oder nur für bestimmte Bereiche medialer und medialisierter Wahrnehmung, die nicht isoliert betrachtet werden sollte, siehe die Kontroverse, die sich seit der Veröffentlichung von Laura Mulvey’s einflußreichem Essay “Visual Pleasure and Narrative Cinema”, in: Screen, vol. 16:6-18, 1975, über die skopische Hegemonie, den “male gaze” und ihre Kombination im “imperial gaze” entwickelt hat; ein hervorragendes Beispiel für ihre These, die den männlichen beherrschenden Blick mit dem kolonialen besitzergreifenden Blick zusammenbringt, sind die für afrikanische Frauen erniedrigenden Filme über die von Citroen veranstaltete Expedition mit Raupenfahrzeugen von der Mittelmeerküste bis zum Indischen Ozean, die “Croiziere Noire” in der Mitte der 1920-er Jahre, wobei die Film mit Abbildungen von Mangbetu Frauen mit Lippenpflöcken gezeigt werden, mit dem unglaublich erscheinenden Titulierung “Cine-Zoologie”).
Die Spektakularisierung des Naturmenschen
Es sind nicht die Ethnographen, die den imaginären “bon sauvage” in die Welt gesetzt haben, es sind in unserem Jahrhundert vielmehr die immer schneller sich abwechselnden spektakulären “events” eines privilegierten Marktes, der den Massenjahrmarkt der explodierenden Großstädte des 19. Jahrhunderts mit seinen Zirkus-Sensationen neu erfindet oder in anderer Form wieder aufleben läßt. Ich gehe im folgenden einigen Beispielen der Spektakularisierung von Bildern des imaginierten “Naturmenschen” nach, wie sie in der europäischen Literatur zur Zeit der Entdeckungen seit 1500 erschienen sind, um dann die Parallelen zu dieser Spektakel-Kultur im modernen Kunst- und Ausstellungsbetrieb aufzuzeigen (für den Begriff “Spektakularisierung” siehe Guy Debord, “Die Gesellschaft des Spektakels”, Berlin 1996). Die Vorrangstellung des Spektakels in der Beschreibung und Visualisierung des Fremden ergibt sich nach Bauman daraus, dass Repression als Form gesellschaftlicher Kontrolle in der Moderne nunmehr, im Zeitalter der Postmoderne, durch Formen der “Verführung”, durch Märkte und Medien, ersetzt werden (Bauman, S. 35). Die Sichten von Debord und Bauman ergänzen sich hier und verweisen auf eine Spur, die meiner Meinung nach bis auf das 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann und die seit dem Zeitalter des Modernismus, zwischen 1900 und 1930, auch von der Avantgarde des Kunst- und Kulturbetriebs unterstützt oder sogar radikalisiert, auf jeden Fall akzetabel gemacht wurde (der bis heute in der französischen Philosophie ausgesparte Hintergrund der angeblich vorherrschenden “negrophilie” im Paris der Jahre 1910-1930 innerhalb der künstlerischen und akademischen Avantgarde und im breiten Bürgertum; siehe Köpping, “Colonial Erasure – Post-colonial Recovery: Identity/Alterity in Faustin Linyekula’s Choreographies”, in Anja Dreschke, Ilham Huynh, Raphaela Knipp, David Sittler (Hg.), Reenactments, 2016, pp. 43-l06).
Spektakularisierung als Mimesis
Solche Erscheinungen mögen mit dem sogenannten mimetischen Begehren in Verbindung gebracht werden, das allen Menschen sowohl durch die Altersschichten hindurch – wenn Kinder das Verhalten von Älteren mokierend oder anverwandelnd – wie über die Grenzen von Kulturen hinweg als Nachahmungs-“Trieb” zugeschrieben wird. Ob diese performativen Entäußerungen als eine blosse “Nachahmung” im Sinne einer “Mimikrie” zu bezeichnen sind, oder ob sie nicht vielmehr zu den innovativen Kulturtechniken der als schöpferisch angesehenen “Mimesis” gehören, bleibt von Fall zu Fall zu erforschen. Welche Bedeutung solche mimetischen Handlungen haben, hängt davon ab, ob solche Handlungen als positive Anverwandlung von den Ausübenden verstanden werden oder als eine Parodie auf die Personen, die dargestellt werden.
Beides, die Anverwandlung und “Übernahme” zum Beispiel der Position der Macht als auch die distanzierende Parodie über diese Position, können in derselben Performanz, im gleichen Körpermodus stattfinden.
Wer sind die Wahnsinnigen bei Jean Rouch?
Dafür ist der viel diskutierte Film von Jean Rouch ein hervorragendes Beispiel: in “Les Maitres Fous” von 1955 über den Besessenheitskult der “Hauka” in der Hauptstadt Accra der damaligen Kolonie Ghana, bewegen sich die Besessenen in grotesken Körperverrenkungen. Dies sind die Formen, durch die sie sich die Macht der Kolonialherren aneignen können, indem sie von deren Geistern besessen werden, um vor allem die “mechanischen Maschinenkräfte” zu bekommen, auf deren Grundlage die Macht der Kolonialherren basiert. Während viele europäische Zuschauer den Eindruck bekommen könnten, dass die Besessenen die “Verrückten” seien oder spielten, ist für die Ausübenden klar, das die “Meister des Wahnsinns” die Europäer sind. Die Körperverrenkungen sind nämlich gleichzeitig ein Kommentar, eine Parodie, auf die Verhaltensweisen der kolonialen Truppen und Beamten und ihrer rituellen Ordnung, wie sie von den Kolonialisierten wahrgenommen werden. Man könnte hier vermuten, das zwei Kulturpraktiken aufeinanderstoßen, die sich gegenseitig nicht verstehen, zwischen denen es auch keinen Dialog gibt, sondern nur eine Unterordnung der einen Gruppe unter die andere, während in der Performanz der Hauka beide Praktiken miteinander in Verbindung gesetzt werden, damit aber auch die bestehende Rangordnung in Frage gestellt wird. Wie ethnographische Berichte ähnlicher ritueller Bewegungen gezeigt haben, sind solche mimetischen Ritualformen fast immer die Vorläufer von Unabhängigkeitskämpfen, die in dem Augenblick verschwinden, wenn die Trennung von der Kolonialherrschaft vollzogen und die politische und kulturelle Autonomie erreicht sind (zu mokierenden Praktiken über die Kolonialverwaltungen durch westafrikanische Künstler über die letzten zwei Jahrhunderte siehe die Beiträge in Jens Jahn (Hg.), “Colon. Das schwarze Bild vom weißen Mann”, 1983; ein satirischer Beitrag aus jüngster Zeit stammt von dem Dichter Yambo Ouologuem von 1968, in seinem “Le Devoir du violence”, in dem er unter anderem eine Persiflage des Ethnologischen Sammlers “Shrobenius” benutzt, um die Interessenverknüpfung mit korrupten einheimischen Eliten, auch Akademikern der Dakar Universität, an den Pranger zu stellen; für eine Diskussion dieser Gegenstrategie siehe den Kommentar von Anthony Kwame Appiah von 1991, “Is the Post- in Postmodernism the Post- in Postcolonial?”, in Critical Inquiry, vol. 17:336- 357. Es sei angemerkt, dass bereits der Westindische Schriftsteller Rene Maran in seinem aus seiner eigenen Kolonialpraxis gewonnenen Einsichten komponierten Roman “Batouala”, der den Prix Goncourt als erster schwarzer Schriftsteller 1921 bekam, davon sprach, dass die Gewalt der Kolonialisten, auf der der Westen seine “Königreiche” errichtet habe, diese bald zu Hause heimsuchen werde; siehe dazu Köpping, “From Curse to Cure through Performing the Contagious Body: Colonial and Postcolonial Dis/Continuities from Jean Rouch to Ousmane Sembene”; im Druck 2017).
Avantgarden und die Negierung des Fremden
Bei spektakulären Inszenierungen stehen auf der einen Seite die Künstler der Avantgarde, deren Vorliebe für das, was den Bourgeois ärgern würde, eindeutig jenseits des “mainstream” anzusiedeln ist, sonst würde es nicht immer wieder zu “Skandalen” gekommen sein, jenen Aufgeregtheiten, bei denen die vermutete Mehrheit, das sogenante “man”, abgestützt durch die staatlichen Organe der “Obrigkeiten”, die sich um den “Anstand” zu kümmern vorgeben, von den Medien noch affektiv angefeuert wird.
Andererseits goutierten die guten Bürger zwischen 1890 und 1904, mehrmals auch in Deutschland, einen Bill Cody und seine fake-shows des “Buffalo Bill”; beide Gruppen, die Avantgarde und ein Massenpublikum fielen gleichermassen auf diese Dramatisierungen von imaginierten Zuständen bei der brutalen Landnahme herein, die nach 1870 westlich des Mississippi vor sich ging. Beide Gruppen solidarisieren sich in der Gegenwart über die Phantasien von “Winnetou” oder “Pandora” als tragischen Heldinnen, was zugleich auch ermöglicht, sich als “sozialkritische” Zuschauerschaft fühlen zu können, wenn man die Überfrachtung der Narrativen mit einer Schein-Kritik an den Herrschenden wie an kolonialen Ausbeutungspraktiken berücksichtigt.
Diese Spektakularisierung kommt zustande durch ein kaum mehr durchschaubares Zusammenspiel von gewitzten (“savvy”) public relations Managern, von vielen Avantgarde Künstlern, von Kunsthändlern und Vermarktungsstrategen, nicht zu vergessen von Kunstkritikern, die für eine reiche Elite schreiben, welche die Erwartung hegt, als Gruppe von “gebildeten Connoiseuren” im ihrem sozialen Umfeld anerkannt zu werden. Dabei ist sogar der Horizont der Erwartungshaltungen des Publikums, oder verschiedener Publikumssegmente, bereits im voraus durch Spezialisten der Meinungsumfragen mit einbezogen, um in einer Endlosschleife zwischen Erwartungen auf der Rezeptionsebene und diesen zuarbeitenden Produzenten zu zirkulieren (zu dieser Kategorie gehören Dutzende spezialer Berufssparten, von Regie und Kameratechnik bis zum Kuratieren).
Hier finden wir den “bon sauvage” (oder eben sein Pendant, den “Kannibalen”), den “Naturmenschen” in doppelter Ausführung, wobei dem Kannibalen eine ambivalente Wahrnehmung durch die Jahrhunderte seit dem Zeitalter der Entdeckungen zuteil wird. Während ein Pariser Massenpublikum die Amazonen-Kriegerinnen aus Dahomey (in den 1890-er Jahren von Frankreich in einem zweijährigen blutigen Unterwerfungskrieg gerade annektiert) begafft, begutachtet ein betuchtes Publikum zwei Dekaden später die “wilde Frau” in erotisch aufgeladener Erwartungshaltung in der Person von Josephine Baker. Avantgarde Künstler wie Artaud hingegen versprachen sich eine Vitalisierung des als vermottet wahrgenommenen Theaters durch Imitation von Ritualen, die man auf
Welt- oder Kolonialausstellungen gesehen hatte (für Bataille waren diese Vitalisierungsphantasien in blutigen Ritualen wie in Marter-und Strafpraktiken aufzufinden, für Leiris war es der fälschlicherweise als “archaisch” angesehene spanische Stierkampf, den der Maler Masson dann mit einem Verwischen von Gender- Zuschreibungen erotisierend ins Bild setzte, während Picasso seinen Prostituierten jene Fang-Masken aufmalte, die seit 1907 unter den Konzepten von Kubismus und Primitivismus als Marksteine des europäischen Modernismus gelten).
Der Kannibale als Denkfigur der Kritik am Eigenen in der Frühen Neuzeit
Für die kosmopolitische Elite des 16. Jahrhunderts hingegen blieb der “Kannibale” in der europäischen Imagination immer nur eine Metapher, um die eigene Gesellschaftskonventionen subversiv zu hinterfragen: für Shakespeare wurde Caliban (der Karibische Kannibale, den Kolumbus in seinen Tagebüchern vom Hörensagen beschrieb) zum wahren Helden im “Sturm”, denn er führt den Lug und Trug der dominanten Klasse vor, während er sich zu seinem Appetit bekennt und die Enteignung seiner Insel rächen will; für Montaigne ist der Kannibale in den “Essais” der 1580-er Jahre eine Metapher für die viel schlimmeren Gräueltaten der französischen Religionskriege zwischen Monarchisten und Hugenotten; der Schützling des Hugenotten-Admirals Colbert, der Seereisende de Lery, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts bei den als Kannibalen betitelten Einwohnern der Brasilianischen Küste landet, beschreibt in seinen Erinnerungen über vier Jahrzehnte später, dass er beim persönlichen Erleben ihrer Ritualgesänge ein an Ekstase grenzendes Staunen verspürte.
Subversive Einverleibungen
Im 20. Jahrhundert adoptieren Künstler Brasiliens seit den 20-er Jahren den literarischen Topos des Kannibalen, um sich als alles fressende Anthropophagen zu positionieren, indem sie die europäische Zuschreibung zu den Ureinwohnern – subversiv und emanzipatorisch – zum Teil des Nationalcharakters stilisieren: aus der mit Sicherheit vom Manifest des Surrealismus eines Breton abgeschauten Vorbild geht das “Manifesto Antropofagico” von 1928 von Oswald de Andrade hervor, das als Geburtsurkunde des eigenständigen künstlerischen und kulturellen Ausdrucks des “Tropikalismo” oder des brasilianischen “modernismo” gilt; auf den alle Konventionen brechenden Schandtaten des “trickster-artigen” kannibalischen Helden der “Tupi” Gruppen des Amazonas bauen dann der Roman “Macunaima” von 1928 durch den Namensvettern des Manifest- Autoren, den Schriftsteller Mario de Andrade, sowie der Film “Macunaima” des Regisseurs Pedro de Andrade von 1969 auf. Der Roman trägt den Untertitel “Der Held ohne jeden Charakter”, womit der Autor den “Brasilianer” meinte.
Das kannibalische Manifest beginnt mit der Überschrift “Tupi – Not Tupi”, als Referenz zur Frage nach Leben und Tod und dem Bezug zu den beinahe ausgerotteten Tupinamba Gruppen Amazoniens. Hier finden wir die subversive und gleichzeitig sich über das Eigene als Kollektivität mokierende Haltung, die die Zuschreibungen von Kannibalismus, wie sie in über 300 Kupferstichen des Verlegers Theodor de Bry in vierzehn Amerika Bänden zwischen 1590 und 1634 in ganz Europa zirkulieren,nicht annulliert, sondern zum Markenzeichen erhebt Damit werden aber auch alle europäischen Vorstellungen vom “Wilden” ad absurdum führt. Die europäischen Imaginationen als mythisierende Verschleierungen jener Realität entlarvt, über die sich Europäer nicht Rechenschaft ablegen möchten, nämlich durch den Kolonialismus ausgelösten Zerstörungen. Bis heute gibt es in diesem Genre des kulturellen Einverleibens als ideologischer Strategie brasilianische Performance Aufführungen, die, wie die des jetzt über 80-jährigen Ze Celso, immer einen gegen autoritäre Regierungen wie gegen euro-amerikanische Hegemoniebestrebungen gerichtete Tendenz aufweisen, mit einer Partizipation der Zuschauer, die sich auch unter dem Einfluss von Hallucinogenen dann nackt auf der Bühne gerieren, für Celso ein typischer Schelmenstreich, den er als eine Art “Initiation” einer jüngeren Generation versteht, die zugleich eine gewisse Subversion ihres bildungsbürgerlichen Hintergrundes beinhaltet. Abgesehen davon, dass diese Form der Einbeziehung des Publikums in die Performance nur in Deutschland zu einem Aufschrei über die “Unanständigkeit” geführt hat, erinnert Celso natürlich auch an die von Schechner abgebrochenen Versuche von “Dionysos 69”, da er die Reaktionen aus dem Ruder zu laufen fürchtete (das Theater der Bourgeoisie und der Akademiker ist wohl im Westen immer noch mit puritanischen Anstandsregeln verbandelt, von deren zunehmendem restriktivem Einfluss zwischen 1500 und 1900 bereits Norbert Elias 1939 im Exil zunächst auf Englisch veröffentlichte Studie “Der Prozess der Zivilisation” handelt).
Die Kontinuität des hegemonialen Blickregimes
De Bry’s Illustrationen über südamerikanische Kannibalen, die die europäische Schaulust anregten und die imaginären Figuren des “Wilden” in das kollektive Gedächtnis oder das kulturelle Kapital der Imagination Europas eingruben, beruhen auf dem fiktiven Bericht von Hans Staden, in dem er über seine Gefangenschaft bei den Tupi zwischen 1548 und 1550 berichtet, mit dem in 1557 in Marburg veröffentlichten eindrücklichen und bereits auf das Sensationelle gerichteten Titel: “Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser- Leuthen in der Newenwelt America gelegen” (zu den Bildwerken von de Bry siehe Gereon Sievernich (Hg.), “America de Bry. 1590-1634”, 1990).
Buch und Kupferstiche bilden einen zentralen Aspekt der exzessiven Schaulust des Europäers, der Besessenheit mit der Kontrolle durch den Blick, also jener skopophilen erotischen Schaulust, den Laura Mulvey dem einen “male gaze” befriedigenden cinematischen Apparat zuschreibt (Mulvey 1975). Denselben kontrollierenden Blick in ein vorhandenes Paradies, das durch die eigene europäische Zukunftsvision zerstört wird, identifiziert Louise Pratt als den “imperialen” Blick in der Reiseliteratur von Afrika- Entdeckern. Als typisch zitiert sie aus den Schriften von Paul Du Chaillu’s “Explorations in Equatorial Africa” von 1861, wo dieser, nach dem Erklimmen eines Berges von 1500 m mit ungehindertem Blick über immense, sogenannte “jungfräuliche” Regenwälder, von einer Zukunft zu träumen beginnt, in der in diese “Wildnis” zu den “schwarzen Kindern Afrikas” das “Licht der Zivilisation” gebracht werden würde, begleitet von Kaffee- oder Baumwollplantagen, auf denen die “friedlichen Schwarzen” ihrer täglichen Arbeit nachgehen könnten, mit Farmen, Schulen, Kirchen. Die “Vision” verschwindet, als die Realität in Form einer Schlange seine Träumereien unterbricht (Pratt, “Imperial Eyes”, 1992: 216-7). Mit dem Träumen über das Entstehen von Plantagen, Fabriken und Städten imaginiert du Chaillu die “civilizing mission”, die konkret die Zähmung von Natur und Menschen beinhaltet, aber auch Rendite verspricht.
Die Kosten für die “Naturmenschen” hat vor kurzem – in Bezug auf die Verhältnisse am Amazonas – der fiktionalisierte Dokumentarfilm des Kolumbianers Ciro Guerra einer breiteren Öffentlichkeit in seinem “El Abrazo de la Serpiente” (“Der Schamane und die Schlange”) von 2015 visuell nahegebracht. Ein Schamane, dem zwei Ethnologen (der deutsche Koch-Gruenberg 1909, und der amerikanische Ethnobotaniker Evan Schultes 1940 begegnen) beginnt im Laufe der Erzählzeit “sein Gedächtnis” zu verlieren, so dass er am Ende nur noch Schatten seiner selbst ist, der nicht einmal mehr den Weg auf den heiligen Berg der Schöpfungsgötter finden kann, während der sonst mit vielstimmigen Geräuschen “sprechende” Regenwald nur noch im dunklen Schweigen liegt. Dem Regisseur ist hier eine elegante Metaphorisierung von Vernichtung von Leben in Natur und Kultur gelungen, die mehrere Sinneskanäle affiziert. Während er keine Plantagen oder Minen zeigt (wohl aber eine Missionsstation, in der der “Padre” das “indigene Sprechen und Denken” aus Waisen herauszuprügeln versucht), verweist er auch auf ein Mitverschulden der Ethnologen, die hier einmal dem Schamanen das Überlassen eines Kompass verweigern mit der Begründung, das würde die authentische Kultur unwiderbringlich verändern (die fiktiven Direktiven der Serie “Startrek” vorwegnehmend?). Daraufhin erwidert der Schamane ärgerlich, das Kulturtechniken allen Menschen gehörten.
Ich habe absichtlich die Visualisierungen durch Bilder und Filme in die Debatte gebracht, da diese Formen eng mit den europäischen Kontrollfunktionen durch den Besitz ergreifenden Blick im Kolonialismus verbunden sind, andererseits aber auch als Hauptmittel bei der modernen Spektakularisierung der Imagination über den “Naturmenschen” in Ausstellungspanoramen geblieben sind.
Die andere Seite dieser im “Augenschmaus” verbundenen Metapher des verzehrenden Blicks ist die des Eindringens des Bildes in die “Einbildungskraft” der gedanklichen Imaginationen, welcher sich dann der kinematische Apparat zunutze zu machen versteht, und zwar durch die bereits von Walter Benjamin diesem zugeschriebene Kraft der Einschreibung – in die Neuronenbahnen, würden heute die Neurowissenschaften formulieren -, also durch die Metapher den Bezug zur Keilschrift wie zur Tätowierung evozierend, die Benjamin als “Immersions- oder Innervationsmaschinerie” verstanden wissen wollte (so die Filmtheoretikerin Miriam Bratu Hansen in ihrer bahnbrechenden akribische Benjamin-Textforschung, siehe Hansen 1987: Benjamin, Cinema and Experience”. In: New German Critique, vol. 40:179-224).
Konquistadoren und Avantgarden
Nicht die Ethnologen, sondern die Konquistadoren/Eroberer/Entdecker haben als Vorhut kolonialer und später imperialer Weltherrscher Fakten für eine Landnahme geschaffen, indem sie jene Entvölkerung von ganzen Landstrichen bewerkstelligten, die dann der legalistischen Fiktion von “unbewohnten Gebieten” der “terra nullius”-Doktrin durch staatliche wie kirchliche Edikte Vorschub leistete. Die päpstliche Bulle von Tordesillas von 1494, nur zwei Jahre nach der “Entdeckung” Indien-Amerikas durch Kolumbus, enthält neben der Aufteilung des Globus zwischen spanischen und portugiesischen Besitz-Ansprüchen die Aussage, dass “Indigene” nur dann als Menschen zu betrachten seien, wenn sie getauft wären.
Die europäischen intellektuellen und künstlerischen Eliten des europäischen Modernismus, die sich von den Kolonial- und Weltausstellungen angeregt fühlten, trugen auch bis in die 1930-er Jahre entscheidend zur Etablierung einer derartigen imaginierten und völlig irrealen imaginären Wirklichkeit des “Naturmenschen” bei, ohne die grauenhaften genozidalen Realitäten der Kolonialpraktiken europäischer Mächte zu problematisieren. So sind die Anhänger einer Bewegung, die sich im Paris der ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts als “negrophil” stilisierte (unter ihnen Jean Cocteau, Pablo Picasso), indem sie ihre eigenen Kunstproduktionen “als afrikanisch” deklarierten – wie z.B. durch das erste so genannte “ballet negre”, “La Creation du Monde”, eine kubistische Schöpfung von Milhaud, Leger und Cendrars (siehe Köpping, 2016) – ,die jedoch dadurch die afrikanische Kunst völlig ausradierten, vergleichbar mit der spanischen Auslöschung der Kultur von Tenochtitlan.
Greenblatt geht einen Schritt weiter in seiner Interpretation, als er darauf aufmerksam macht, dass die Spanier es nicht ertrugen, bei den Azteken jenen religiösen Opferpraktiken zu begegnen, die ihnen die Protestanten für ihr spanisches Verständnis der Wandlung im Abendmahl als “kannibalistisches” statt eines symbolischen Verstehens der Praxis vorwarfen Das imaginierte Paradies als konkrete Wirklichkeit ist nicht vorgesehen, es muss Phantasie bleiben, und jeder Hinweis auf konkrete “Wunder”, von Nicht-Europäern und Nicht-Christen geschaffen, können als Anathema nicht geduldet werden: dies sind auch die wahrscheinlichen Gründe für die Desavouierung der Schriften von Marco Polo über den Glanz und die Reichweite der mongolischen Herrschaft unter dem Großkhan Kubilai um das Jahr 1200 als “Lügenmärchen”.
“Genesis” und der wieder aufgelegte Exotismus
Es ist unter diesen historischen Umständen überraschend, das Bild des “edlen Wilden” in der postkolonialen Zeit wieder aufleben zu sehen, und zwar in der Photo-Strecke “Genesis” von Sebastiao Salgado, die auf Welttouren bei Millionen von MenschenAnklang fand und 2016 auch in Berlin gefeiert wurde. Die spektakuläre Ausstellung machte – inmitten von hunderten von Großprojektionen der globalen Natur, von Wüsten, Eisbergen und Urwäldern, das Bild jener “Naturmenschen” zum Zentrum der Aufmerksamkeit, die als Yanomamö zu Ikonen vom “glücklichen Eingeborenen” für die Öffentlichkeit geworden sind (hier liegt eine gewisse Ironie darin, dass der umstrittene Bericht des Ethnographen Chagnon sie als “fierce people” betitelt; der weniger umstrittene Film von Timothy Ash erläutert dagegen die Streitrituale in didaktischer Form).
In einer humorvollen Vignette über das Exotische schreibt die afro-amerikanische Kolumnistin Andrea Lee im New Yorker vom 3. November 2014, dass das Bild des Exotischen leicht durch eine Kokosnuss und eine Hängematte zwischen zwei Palmen evoziert werden könne. Sie hat nur den “Naturmenschen” vergessen, der jedoch mit voller Intensität von Salgado in die manipulierte photographische “Realität” hineingeholt wird, mit halbnacktem Körper, fast schneeweisser Haut, ein Bein aus der Hängematte baumelnd: die ideale Imagination eines Europäers vom paradiesischen Leben als “dolce far niente”, im tropischen Regenwald, ohne Sorgen für Überleben und ohne einen Hinweis auf existierende Drohung der Ausrottung beider, des Regenwaldes und der Bevölkerung. Schöner oder schlimmer ideologisch aufgeladen hätte es auch Sergej Eisenstein in seinem unvollendeten Meisterwerk von 1930 “Que Viva Mexico” nicht zeigen können, wo ein Liebespaar in einer Hängematte flirtet, während er es schaffte, durch Schnitte auf folgende Szenen die Dialektik der Einbettung dieses “unschuldigen Paars” in die grausamen Unterwerfungsriten kirchlicher Prozessionen einerseits, in die Brutalität der Latifundien-Wirtschaft andererseits einzubinden, die einen Landarbeiter für ein kleines Vergehen in den bis zum Hals eingraben, um ihm dann durch berittene Pferde mit Hufen den Schädel zertrümmern zu lassen. Salgado erhielt dann für diese Photoserie noch den “Ritterschlag” eines Weltstars unter den Regisseuren durch die bewundernde Verfilmung seiner Arbeiten durch Wim Wenders in “Das Salz der Erde” von 2014.
In Anbetracht der Tatsache, dass Salgado eine frühere Photo Strecke über die Gold schürfenden Garimpeiros angefertigt hat, bestätigt nur die Vermutung, von Susan Sontag geäußert, dass es sich hier um eine Stilisierung, Ästhetisierung und Fetischisierung der Schaulust “, und zwar “am Leiden anderer” handelt (Susan Sontag, “The Pain of Others”, 2003). Salgado’s visuelle Überwältigungsspektakel passen in diese Tradition der Ästhetisierung des Nostalgischen, um zugleich – in seinen Photo-Strecken über die mit Schlamm überkrusten Körper von Arbeitern in offenen Goldminen – eine Spektakularisierung von Subalternität zu evozieren, die eher eine affektive Resonanz der Bewunderung für die Bildästhetik und die in Nahaufnahmen herausgefilterten Bein- Muskeln der Garimpeiros zu erreichen scheint, als eine empathische Reaktion über die Bedingungen des abjekten Lebens selbst zu affizieren.
Antworten zum Verhältnis von relativierender Autonomie und universalen Regeln?
Die Ethnologie kann sicherlich kaum eine Antwort auf die universalen Fragen nach einer Menschheits-Charta geben, und das ist im Herder’schen Paradigma angelegt. Bauman weist darauf hin, dass man sich immer von neuem auf dieses riskantes Unterfangen einlassen müsse, wirklich tolerante Dialogik in der Praxis zu ermöglichen, in der man dem anderen die Autonomie der abweichenden Meinung zugestehen muss. Auch Edward Said äußerte sich skeptisch über eine Relativierung aller Werte und Interessen, da er sich ja selbst in der Tradition eines kosmopolitischen Menschen der Renaissance sah. Jedoch wies er auf das praktisch negative Resultat hin, das in einem “din of civil wars” bestehen würde, wenn alle Partikularinteressen in einer globalen Gesellschaft sich nur selbst behaupten wollen (Edward Said, “Representations of the Intellectual” 1994).
Michael Jackson’s erwähnte Vorgabe für ethnologische Forschung, die den Ideen von Bauman wie von Habermas äußerst kongenial folgen, wird von Kurt Wolf in eine andere Metaphern-Kette verwoben, die phänomenologisch und existentiell für ethnographisches Arbeiten von Belang sein dürfte. Wolff fordert, dass man sich dem Feld, dem Fremden oder einer Begebenheit wie einer Begegnung “hingeben” müsse (“to surrender to”), nicht mit dem Ziel, sich zu verlieren, sondern mit dem Ziel eines “Fangs” (“catch”), der entweder darin besteht, reflexive-kritisch zu sich selbst zu finden, oder eben ein “Konzept”, eine Idee, eine Reflektion anzustossen (Kurt Wolff, “Surrender and Catch”, 1976, S. 25, 77, 168, 197; als Heilmittel für die Einsicht in die Findung ethischer Selbst- Identität durch ethnographische Praxis empfehle ich dem Kritiker, mal einen Blick auf die letzten Seiten des autobiografischen Ethno-Tagebuch-Romans von Laura Bohannan “Return to Laughter” von 1954 zu werfen).