DIE MÄR VOM GRAUSAMEN WILDEN
Christian Weber gehört zu denjenigen Wissenschaftsjournalisten, die Wissenschaft kritisch hinterfragen und sich auch nicht scheuen, wie ihre Kollegen aus der Politik ihre Meinung kundzutun. In seinem Artikel Die Mär vom Edlen Wilden dient ihm ein Fotoband von Nelson, aus dem farbige Abbildungen den Artikel illustrieren, zum Anlass, über uns und die Anderen nachzudenken. Das Thema ist im Jahr 2016 mehr als aktuell. Der Andere steht plötzlich als Migrant und Flüchtling vor unserer Haustür, und zu Weihnachten läuft im Fernsehprogramm eine Neuverfilmung von Karl Mays Winnetou, der Generationen übergreifenden deutschen Ikone des Edlen Wilden. Natürlich Zufall, doch genau in diesem Spannungsfeld ist der Artikel angesiedelt. Der Ton ist zu großen Teilen polemisch, und die Stoßrichtung zielt gegen eine Romantisierung des Edlen Wilden und gegen den ethnologischen Kulturrelativismus. Anstatt die Anderen als die Edlen Wilden zu verherrlichen, so Christian Weber, sollten wir uns auf unsere Tugenden und das, was wir erreicht haben, besinnen. Eine klare Ansage, die ja auch sogleich Protest hervorgerufen und zur Gründung dieses Blogs geführt hat.
„Okay, okay – an einigen unwirtlichen Orten dieses Planeten mag es immer noch angebracht sein, fremde Menschen, die einem unangemeldet über den Weg laufen, vorsichtshalber zu erschlagen. Und vielleicht darf man sogar ein bisschen Verständnis zeigen, wenn traditionsbewusste Inuit-Völker in der Arktis oder die San in der Kalahari zumindest früher ihre Alten aussetzten und verhungern ließen; das Essen war halt knapp.“
Auffallend ist hier Verwendung des Wörtchens „halt“, das im Schwäbischen im Sinn von:
„Das ist halt so“ verwendet wird, als resignativer Ausdruck eines Sachverhalts, der keiner weiteren Begründung bedarf. Diese Resignation befällt den Autor auch angesichts seiner unbelehrbaren Zeitgenossen: „Er ist halt immer noch in den Köpfen der Großstädter, der Mythos vom Edlen Wilden“. Wobei Großstädter darauf verweist, dass hier nicht der provinzielle Fernsehzuschauer, sondern eher der hippe Intellektuelle gemeint sein mag.
Zwischen diesen beiden für den Autor unerfreulichen Tatsachen, an denen man halt nichts ändern kann, kommt er zur Sache und stellt uns und die Anderen gegenüber. Er macht dies in Form von listengleichen Aufzählungen gleich mehrfach im Verlauf des Artikels. In diesem Vergleich gewinnen wir, daran lässt seine Aufzählung keinen Zweifel:
Wenn die Anderen nicht aus Not ihre Alten töten oder fremde Menschen erschlagen, dann mangelt es ihnen immer noch an einer intakten Gesundheitsversorgung; der Hexenglaube und Gewalt sind bei ihnen stark verbreitet, Freundschaften sind viel zweckorientierter und sinnlose Nahrungsmittel-Tabus sorgen für eine schlechte Ernährung. Religiöse Vorstellungen schüren unnötige Ängste, viele vernichten ihre Umwelt, und Sexualität ist viel reglementierter als Margret Mead glauben machen wollte.
Das ist noch keinesfalls das Ende der Weberschen Schreckensliste, aber die Aufzählung soll genügen, um den Kontrast deutlich zu machen. Wir haben nämlich ein staatliches Gewaltmonopol, eine allgemeine Rentenversicherung, und wir haben den Umweltschutz, eine Gesundheitsvorsorge, Menschenrechte und NGOs, die diese über die Welt verbreiten, um zumindest etwas Licht in die Dunkelheit der vermeintlich Edlen Wilden zu bringen, die, soviel ist inzwischen klar, grausame Wilde, zumindest aber erbärmliche Wesen sind.
Soweit lässt es der Artikel nicht an Eindeutigkeit fehlen. Doch wie kommt es zu diesem Irrtum der „Großstädter“, die Bilder der Edlen Wilden von Nelson für authentisch zu halten? Hier holt Christan Weber weit aus und referiert wie ein Student den Unterschied zwischen vermeintlicher Authentizität und den „invented traditions“. Er nimmt dabei eine bemerkenswerte Differenzierung vor: Am Beispiel des Bayerns in Lederhosen und mit Laptop zeigt er das Bild einer geglückten Traditionserfindung, die nicht schadet und den Menschen im Zeitalter der Technologie Wärme vermitteln hilft. Falsch hingegen ist die Projektion von Authentizität auf die Anderen, die dadurch lediglich noch tiefer in ihrer Dunkelheit festgeschrieben werden. Verachtenswert ist dabei laut Christian Weber vor allem der Kulturrelativismus, der Altentötung, Tötung von Babys, Zahnverstümmelungen oder Genitalbeschneidungen (um nur ein paar der Beispiele zu nennen) aus der jeweiligen Kultur heraus zu erklären und damit zu rechtfertigen versucht. Hier wendet Christian Weber endgültig das Bild des Edlen Wilden gegen diejenigen, die es seiner Meinung nach propagieren: kulturrelativistische Ethnologen im Allgemeinen und „emanzipierte Forscherinnen“ im Besonderen. Kann man den Großstädtern noch Naivität im Sinne von „die glauben das halt“ vorwerfen, handelt es sich hierbei um eine Tätlichkeit mit klarem Vorsatz. Das Verbrechen heißt „Relativismus“, und es ist der gleiche, „mit dem die chinesische Staatsführung der Bevölkerung volle Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verwehrt. Oder der in fundamentalistischen Ländern Frauen die Gleichberechtigung versagt“.
Damit ist der Bogen zur Aktualität geschlagen. Ohne dass es der Autor direkt anspricht, kann ich den Artikel nicht anders als vor dem Hintergrund um die Migrationsdebatte lesen. Automatisch denke ich hier an die Silvesternacht in Köln, an die Rede von Menschen aus anderen Kulturkreisen, die unsere Frauen belästigen; an die Debatte darüber, dass die Anderen sich an unsere Regeln und Werte halten müssen, wenn sie hierbleiben wollen, denn von ihnen geht eine Gefahr aus: Sie könnten unsere Errungenschaften unterhöhlen und unsere Werte relativieren. Auch wenn es an den „Industrieländern“ viel zu kritisieren geben mag, so Christian Weber, so läuft bei uns doch „einiges auch besser“. Kann oder muss man gar diesen Artikel nicht als Kommentar zu „Willkommenskultur“ und „Obergrenze“ lesen? Es ist zumindest schwer, diesen Hintergrund auszublenden. Das gilt vor allem auch für eine Argumentation, die allerorten im Feuilleton anzutreffen ist: der eigentliche Feind sind nicht nur die, die zu uns kommen, sondern er sitzt mitten unter uns. Es sind nicht nur die naiven Großstädter, sondern es ist der ethnologische Kulturrelativismus, personifiziert in der emanzipierten Forscherin.
In einem früheren Artikel aus demselben Jahr über vermeintlich zu viele Genderprofessuren an deutschen Hochschulen stellt Christian Weber fest, dass es nun mal natürliche Unterschiede zwischen Mann und Frau gäbe, und daher die Vielzahl von Genderprofessuren überflüssig sei. Er schlägt in seinem Artikel über die Edlen Wilden in eine ähnliche Kerbe: Er schreibt prinzipielle Unterschiede zwischen uns und den Anderen fest, indem er unsere gemeinsame Geschichte ausblendet. Wir haben mit den Herero auch die Khoi-San in die Wüste getrieben und getötet; das ist vergessen, stattdessen räsoniert Weber über die Altentötung. Erst so kann die Rede von den grausamen Wilden zur Grundlage unserer eigenen, überlegenen Identität werden.
Bei aller Kritik muss man Christian Weber auch dankbar sein, dass er eine Debatte über das Selbstverständnis der Ethnologie anstößt, die vielleicht wirklich überfällig ist. Das Jahr 2016, die Migrationsdebatte und terroristische Anschläge gehen keinesfalls spurlos an der Ethnologie vorüber, und sie ist keinesfalls einer Meinung. Allerorten ist wieder die Rede von uns und den Anderen, von Kulturkreisen und von akzeptablen und weniger akzeptablen Kulturen. Der Klimadeterminismus und der Sozialdarwinismus klopfen an die Tür, und mancher nutzt die Gelegenheit, bei uns mit der Postmoderne und den politisch Korrekten aufzuräumen und die Science Wars noch einmal zu gewinnen. Der Riss geht quer durch die Ethnologie, die hier keinesfalls mit einer Stimme spricht. Der Andere steht vor unserer Tür, und wir schauen fern und träumen vom Edlen Wilden.
Daran erinnert uns Christian Weber, wenn ich ihn richtig verstehe. Wenn wir die Tür öffnen, erkennen wir uns selbst nicht mehr. Damit fing die Ethnologie einmal an, und wir sollten nicht aufhören, das Fremde in uns zu entdecken und das Eigene im Fremden.
Diese Haltung ist bis heute nicht einfacher geworden.