24/01/17

ALLE KULTUR IST PREKÄR. DIE RELATIVISTISCHE ETHNOLOGIE ALS AUFKLÄRUNG

Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil, sagt der junge Alte Martin Walser. Also: Aufklärung ist immer auch Verklärung, insbesondere wo sie sich dem alles beanspruchenden Fortschrittsmythos verpflichtet zeigt. Und Kulturrelativismus verabsolutiert die kulturelle Kreativität, gerade wo diese, wie so oft, in Wahn und Grauen ausschlägt oder, wie noch öfters, fremdbestimmt ist. Die beiden im Widerstreit stehenden Weltsichten gleichen sich, wo sie Heterogenes gleichmachen möchten, sie trennen sich, wenn es um Bescheidenheit und Zurückhaltung im Urteil – bei Cicero hieß diese schon damals seltene Tugend epochä – geht. Die Moral, die in einer wieder einmal endzeitlichen Verkrampfung diesmal des 21. Jahrhunderts sich erneut auf der Siegerstraße wähnt, muss den zögerlichen und abwägenden Geist bekämpfen, weil sie mit jeder Erhöhung ihrer Rigorosität und Reichweite sich verbesserte Durchschlagskraft verspricht, ohne danach zu fragen, was dahinter kommt.

Die Ethnologie, die sich seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert kulturellen Unterschieden nicht nur nivellierend, sondern auch verstehend oder gar affirmativ annähern wollte, ist heutzutage unter so massiven Beschuss geraten, dass viele hervorragende Fachvertreter das Schweigen wählen. Der internationalistisch sich gebende Globalismus wirft der Wissenschaft von der kulturellen Differenz vor, die Fremden, denen sie sich mit Neugier und Ehrfurcht zugleich zu nähern wagt, überhaupt erst erfunden zu haben. Damit reihe sie sich ein unter die apokalyptischen Reiter der Neuzeit, also Nationalismus, Rassismus, Sexismus oder die noch schlimmerer Antismen, die allesamt von Differenzen leben und deswegen mehr an ihrer Pflege als an ihrer Abschaffung Interesse zeigten.

Ganz gewiss ist die Ethnologie ein Kind des Kolonialismus, dieses Dominanzstrebens im interkulturellen Kontakt, das sicher mit der Entdeckung der Ungleichheit von Menschengruppen im Neolithikum aufkam und seither die Kulturgeschichte ganz wesentlich strukturiert. Der Überlegene belehrt den Unterlegenen, so geht es bei Individuen, Verwandtschaftsverbänden, Ethnien, Kultbünden, Nationen, Religionen und Geostrategen zu. Binnenideologisch handelt es sich um Führung, altgriechisch agogä, von anderen, von schwächeren, die ge- oder gar verführt werden müssen. Der Lehrer führt den Schüler als Päd-agoge ins Erwachsenendasein, der (verantwortungsbewußte, nicht der kritische) Journalist führt den Leser zum richtigen Bewusstsein als Volkspädagoge, als Dem-agoge (Volksführer) wäre er denunziert. Nur der Geistliche ist hier in der Selbstbezeichnung ehrlicher: Als Pastor geht er einer Schafherde voran und wird dabei selbst von „Hirtenbriefen“ angeleitet; eine Nivellierung der Differenzen ist dabei nicht angedacht.

Ethnologen sind von ihrem Selbstverständnis her Kritiker von Hierarchien, antiautoritäre Kulturologen, die jede Suprematie auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem oder religiösem Gebiet kritisch hinterfragen. Das ist die Essenz ihres heute wieder im Namen der Vernunft, der Menschenrechte, des aufgeklärten und vereinheitlichten Geschichtsziels herausgeforderten Kulturrelativismus. Es geht nicht um Rechtfertigung von Unsinn, Barbarei, Ressourcenvergeudung, sexistischer Gewalt und was es noch alles an Abscheulichkeiten in jeder kollektiven Daseinsbewältigung geben kann.

Niemand weiß über Intensität und Verbreitung gesellschaftlicher Irrwege besser Bescheid als kulturvergleichende Ethnologen mit ihrer Expertise für Kollektiv-Irrgärten. Es geht einzig um das Bestreiten des Richteramts, das sich heute wieder eine wachsende Schar von Moralisten, Ethikkommissaren, Wahrheitshütern, Demokratiewächtern oder „Kirchenrügern“ (so hießen früher Ehrenamtliche, die während des Gottesdienstes durch die Häuser gingen und Predigtverweigerer aufspürten) anzumaßen erdreistet.

Die heutige Ethnologie beschäftigt sich längst nicht mehr nur mit Differenzen zwischen Indigenen und Nichtindigenen (also „Entwurzelten“, wie die Völkerkundler des interbellum tatsächlich die Assimilierten und Akkulturierten in aller Welt gern nannten). Heute geht es um Differenzen aller Art, um Vielfalt im Kulturgeschehen, für deren Verständnis die ethnologischen Methoden des Relationismus und Perspektivismus ebenso Voraussetzung sind wie für die Akzeptanz zivilisatorischer Unterschiede, die mit der Globalisierung ja keineswegs – auch nicht konzeptionell – verschwunden sind. Es bedurfte vieler Dekaden intensiver Feldforschung, bis die Gebrochenheit auch der vermeintlich geschlossenen Gesellschaften und traditionalen Kulturen erkannt war und damit jede Kultur – ob stammesgebunden, überregional oder maschinenbasiert – als die kollektive Gewöhnung an Wechselzustände begriffen werden konnte, die immer auch interne Differenzen aufweist – sie in aufwändigen Synthesen schließt und dann wieder aufreißt. Es sind immer mühsam gefundene und stets reparaturbedürftige Kompromisse, etwa wenn sich zwei – oft ungleiche – Familienverbände auf ein exogames Eheband verständigen konnten, oder wenn eine expansive Weltreligion sich in einer überalterten und ratlos gewordenen Überflussgesellschaft selbstbewusst einrichtet. Es hängt vom Objektiv des Betrachters (und seiner Geduld) ab, wie viel Risse und Divergenzen er innerhalb einer kulturellen „Einheit“ ausmachen kann. Dabei erscheint die „gezeigte Kultur“ immer einheitlicher als die „verborgene“, und die Konflikte, die beim Erscheinen eines Fremden unter den Teppich gekehrt werden, gehören – wie Goethes „Flöhe und Wanzen“ – eben auch „zum Ganzen“.

Das ist „ganzheitliche“ Ethnologie, wie sie trotz der massiv gewordenen Verurteilungen durch Globalisten, Internationalisten, Okzidentalisten und Philanthropen immer noch gebraucht wird, weil die Differenzen zwischen den Menschen und Menschengruppen zwar ideologisch weggeredet werden können, damit aber nicht faktisch aufgehoben sind. Alle Konsensgruppen sind das nur relativ, alle Kultur ist prekär, das Individuum wandert in jeder Gemeinschaft oder Gesellschaft von einer Sinndomäne zur anderen und passt sich dabei immer neuen Gegebenheiten an. Was verlassen wurde, gerät oft unter die Füße, um in neuer Drapierung und zu anderer Gelegenheit wieder begrüßt zu werden Die Vielfalt der Kulturen im Weltganzen wiederholt sich in jeder einzelnen Kultur, in ihren Maskenspielen und Kulissenwechseln, in ihren Umschreibungen und Verheimlichungen. Die einzelnen Sinnprovinzen, aus denen sich auch die am geschlossensten erscheinende Kultur zusammensetzt, ignorieren sich gegenseitig, wenn sie nicht in harten Revierkämpfen ineinander verhakt sind wie die endemischen Dualismen zwischen Invasoren und Platzhaltern oder – wie der scheidende Bundespräsident sich ausgedrückt hat – zwischen hell und dunkel gesinnten Landsleuten. Auch solche immer neu sich bildende Lager besitzen nur eine begrenzte Sinnhaftigkeit, eben nur solange wie man sich kollektiv darüber verständigen kann. Werden die Sinndeuter aber schwach oder unterliegen sie ihren Widersachern, ändert eine (Sub)kultur rasch ihr Gesicht.

Ethnologen konnten solche Wandlungsprozesse an den fluktuierenden Einflusszonen von Magiern studieren. Der bekannte Satz des Philosophen Karl Jaspers: „Alles Sein ist ausgelegt sein.“ verweist auf den Prozess des Auslegens, des Interpretierens. Das ist die Tugend der interpretativen Ethnologie, die nicht nur am Verständnis kultureller Vielfalt und ihrer adäquaten Übersetzung arbeitet, sondern auch die Vorgänge des sinnhaften Auslegens studiert, die Erringung, die Verteidigung und den Verlust von Deutungshoheit, also insbesondere der Frage nachgeht: wer sagt wann was wem?

Der moralisch Überlegene weist den Unterlegenen dann zurecht, wenn er eine Differenz entdeckt hat, die seiner Meinung nach ausgeräumt werden muss. So rückte die ethnologische Beschäftigung mit Indigenen in die Kritik des Globalisten Christian Weber, weil solche Studien den Prozess der Homogenisierung zu behindern scheinen, der für die Erreichung des sozialstaatlich begründeten Weltfriedens für unverzichtbar gehalten wird. Die heute medial und politisch geförderte Eine-Welt-Ideologie hat für ihr Endziel eine leicht verständliche Werteskala aufgestellt, nach der Offenheit zu bevorzugen ist gegenüber der Geschlossenheit, ebenso wie Internationalismus gegenüber Nationalismus und transatlantische Orientierung gegenüber einer eurasischen. Für Ethnologen ist das eine interessante Denke, weil sie Einstimmigkeit vorschreibt und zugleich Buntheit als Lockmittel anbietet. Doch auch sie hat das irdische Feld zu teilen mit vielen anderen Entwürfen, Sinnprovinzen, Kulturen und Endzeitvisionen. Unsere „Neuzeit“ begann vor 500 Jahren mit dem Entwurf von Thomas Morus‘ Insel der Glückseligkeit, aber auch mit Martin Luthers Untergangsszenario in seinen Schriften „wider die Türken“. Seither ist die Arena der Weltgeschichte keinesfalls eindeutiger geworden. Wer sich einen Überblick verschaffen möchte, muss relativistisch und perspektivistisch wahrnehmen und begreifen. Wahre Aufklärung kann nur kulturrelativistisch argumentieren und ist so offen wie die Evolution der Arten oder die Entwicklungsgeschichte der Sterne.