Thematische Offenheit und methodischer Opportunismus
Über die (Un-)Möglichkeit meiner Feldforschung während der Corona-Pandemie
Am Anfang lief noch alles nach Plan. Ich war im Oktober 2019 nach sieben Jahren des Studiums in Göttingen und Hanoi endlich wieder zu Hause in Ostberlin. Und dazu hatte ich auch noch das große Glück eine Stelle innerhalb eines vietnambezogenen Forschungsprojektes des an der Freien Universität angesiedelten SFB 1711 Affective Societies ergattert zu haben. Zum Ende meines Studiums lief mein akademisches Feuer eher auf Sparflamme, nun spürte ich jedoch die Forschungs-Motivation wieder in mir steigen und ich freute mich auf meine beginnende Promotion.
Das Gefühl eine neue Studie beginnen zu dürfen schürte dieses Feuer in mir; ich fühlte mich lebendig und trotz des bevorstehenden Winters wohlig warm im Inneren. Auf der Suche nach einem Promotions-Thema flanierte ich die darauffolgenden Wochen in bester stadtanthropologischer Manier durch die Straßen meiner Heimatstadt. Ich erinnerte mich an meine studentische Ausbildung zurück und wurde mir einer (von insgesamt zwei) forschungsleitenden Prämissen wieder gewahr: Der Grundeinstellung einer thematischen Offenheit. So nutze ich meinen wiedergefundenen Antrieb, um alle vietnambezogenen Veranstaltungen in Berlin zu besuchen, die ich finden konnte. In dieser Zeit liefen mehrere Gedankenstränge zu möglichen Forschungen parallel in meinen Kopf, kreuzten sich, verhedderten sich von Zeit zu Zeit und bildeten dadurch Knotenpunkte für neue Ideen. Das aus all den verschiedenen Pfadlinien mein aktuelles Projekt hervorgegangen ist, war ein schöner Zufall und wäre ohne die aktuelle Corona-Krise gar nicht zustande gekommen. Um diesen Prozess der Themenfindung und Corona-bedingten Forschungs-Transformationen darzustellen zu können zunächst jedoch zum Beginn meines Gedanken-Knäuels.
Die ersten Schritte ins Feld …
Als sich im Dezember letzten Jahres in Wuhan bereits die ersten unerklärlichen Lungenentzündungen häuften, saß ich für einen Themenabend zur vietnamesisch-deutschen Geschichte noch dicht gedrängt im Acud-Kulturhaus und wartete auf den Beginn einer Filmvorführung. Neben mir saß eine Frau, die vor dem Beginn der Vorführung noch eilig einige Sätze in ihren Laptop eintippte. Da ich alleine auf dieser Veranstaltung war – und mir im Laufe meiner anthropologischen Methodenausbildung die unhöfliche Angewohnheit antrainiert habe, fremde Gespräche zu belauschen oder auf Bildschirme in meiner Nähe zu schielen – schaute ich auf den Laptop neben mir und las dort: „Auf Budda gebaut. Seit 2006 existiert eine buddhistische Pagode auf dem Gelände eines Asiamarkts. Für VietnamesInnen ist sie heilig, für den Bezirk „Zweckentfremdung“ (Mai 2019). Eine unauffällige Notiz in mein Handy und dann begann der Filmabend.
Einige Wochen darauf hatte ich diese kurze Episode schon längst wieder vergessen, als ich die Eltern meiner Partnerin besuchte und mir meine Schwiegermutter einen sorgfältig ausgeschnittenen Zeitungsartikel aus der taz überreichte. Mir fiel beim Lesen der Überschrift meine zufällige Begegnung mit diesen Worten wieder ein, ich grinste innerlich über diesen schönen Zufall und las gespannt weiter: „Erstmals seit 1987 will eine Berliner Behörde ein Gotteshaus schließen, weil das ihrer Meinung nach am angestammten Platz stört. […] Die Pagode wird nur noch bis Ende Juni 2020 geduldet, danach soll sie sich neue Räume suchen“ (ebd.). Die zu einem asiatischen Großhandelszentrum zugehörige Pagode soll nun also schließen, weil laut Berliner Verwaltung die kulturelle und/oder religiöse Nutzung von Gebäuden in einem Gewerbegebiet nicht zulässig ist. Ich verdrehte schon beim Lesen des Artikels die Augen über die Sturheit der Behörden. Zu diesem Zeitpunkt war es Ende Dezember und ich spürte an dem Kribbeln in meinem Bauch, dass ich wusste wohin mein Promotionsprojekt gehen sollte. Das institutionelle Aufeinandertreffen der deutschen Behörden mit dem religiösen Fürsorge-Auftrag der Pagode versprach ein spannendes Thema zu sein.
Bis zum abrupten Ende
Im Laufe der nächsten Wochen folgte ich den Spuren des Artikels und versuchte mich dem Feld zu nähern. Ich schrieb Mails, telefonierte, schrieb neue Mails. Fuhr bei der Pagode vorbei und kam dort tatsächlich mit einigen Leuten des angrenzenden Großmarktes ins Gespräch. Doch alle Spuren verliefen schlussendlich im Sand und jeder Versuch mich der Gemeinschaft zu nähern scheiterte. Im Laufe der nächsten Wochen bekam ich das Gefühl, dass aus Robert Parks Aufruf zum nosing around (Lidner 2007:9) eher ein verzweifelter und unhöflicher Versuch wurde, mich einem Feld zu nähern, welches durch die angedrohte Schließung gerade ganz anderen Problemen gegenüberstand.
Der frühe Frust des (missglückten) Feldzuganges traf mich hart und schlug merklich auf mein Gemüt. Und dann – mitten in die endlosen Selbstzweifel – katapultierte sich ein kronenförmiges Stück RNA in das Weltgeschehen und stellte alles zuvor Bekannte auf den Kopf. Mein persönlicher Frust geriet schnell in den Hintergrund. Ich verfolgte von zu Hause aus, wie die Menschheit verzweifelt versuchte mit dieser Pandemie umzugehen. Aber wie so oft eröffnen solche affektiven Spannungsmomente auch Ereignishorizonte, hinter denen der Status quo neu auszuhandeln ist. So auch in der Sozial- und Kulturanthropologie.
Von der relativen Sicherheit meines Smartphones aus blickte ich durch dieses digitale Fenster in die Welt und beobachtete zwei interessante Dinge. Zum einem bemerkte ich wie online sofort Debatten zur (Un)Möglichkeit von Feldforschungen (Miller 2020) losgetreten wurden. In den folgenden Wochen konnte ich dann quasi live mitverfolgen, wie Anthropolog_innen aus der ganzen Welt in einem Google-Doc kreative Antworten auf die forschungstechnischen Irrungen und Wirrungen einer Fieldwork in a Pandemic sammelten (Lupton 2020). Zum anderen wurde mir schnell die zweite grundlegende, während meiner studentischen Ausbildung verinnerlichte Haltung zur anthropologischer Feldforschung bewusst: Dem vom Feld geleiteten Methodenopportunismus.
Mit Abstand und Maske ins (digitale) Feld
Auf eben diesen Methodenopportunismus und die thematische Offenheit rückbesonnen beginne ich mich Ende März zu entspannen und der Pagoden-Gemeinde in die für mich neuen Gefilde einer virtuellen Feldforschung zu folgen (Boellstorff 2013). Ich abonniere die offizielle Facebook-Seite der Pagoden-Gemeinde und stoße über Umwege auf ein Video des vietnamesischen Staatsfernsehens, in dem – mit viel sozialistischem Pathos – der weltweite Einsatz der vietnamesischen Diaspora-Gemeinschaft im Kampf gegen das Virus hervorgehobenen wird (VTV4 2020). Über diese digitale Spurensuche nähere ich mich allmählich einem neuen Thema, der Care-Antwort der vietnamesischen Gemeinschaft in Berlin auf die Corona-Pandemie. Anfang April lese ich in einem weiteren Artikel von Marina Mai (2020) wie Dutzende Berliner Vietnames_innen sich hinter ihre Nähmaschinen gesetzt hatten, um Tausende Mund-Nasen-Bedeckungen zu Spendenzwecken zu nähen. Ich folge abermals den Hinweisen aus dem Artikel von Frau Mai und steige in die digitalen Welten der „zwar räumlich getrennt, virtuell aber miteinander verbunden[en]“ (ebd.) Nähgruppen ein. Der missglückte Feldzugang zur Pagoden-Gemeinschaft gerät schnell in den Hintergrund. Als Anfang Mai dann die ersten Corona-bedingten Restriktionen gelockert werden spreche ich mit vietnamesischen Kosmetikstudio-Betreiberinnen, die ihre Hygieneartikel an Krankenhäuser spendeten. Darüber werde ich an Personen weitergeleitet, welche die räumlich getrennten Nähgruppen miteinander vernetzen und bekomme schlussendlich die Adresse einer Änderungsschneiderei, in der eine Gruppe ehemaliger Vertragsarbeitender der DDR bereits seit Wochen Mund-Nasen-Bedeckungen anfertigen.
Ich bereite ein paar Fragen zu ihrer Näh-Aktion vor und begebe mich etwas naiv zur Schneiderei. Das darauffolgende Gespräch mit meinen auf Deutsch vorbereiteten Fragen läuft eher schleppend und nach zehn Minuten sind wir bereits durch. Ich packe etwas ernüchtert mein Audiogerät wieder ein und nehme mir fest vor, das nächste Gespräch auf Vietnamesisch vorzubereiten. Als ich die Ladentür etwas bedröppelt öffne fängt es an zu regnen und ich werde spontan eingeladen bei Kaffee und Keksen die Husche abzuwarten. Ich nutze diesen schönen Zufall und denke mir jetzt oder nie: Ich krame mein bestes Vietnamesisch raus und stelle mich und meine Forschung noch einmal vor. Und siehe da, die affektive Stimmung im Raum ändert sich merklich. Wir lernen uns ein zweites Mal in der Muttersprache meiner Gesprächspartner_innen kennen, ich werde wohlwollend in meiner Sprache korrigiert und wir lachen gemeinsam. Wie sich im Laufe des anschließenden Gespräches herausstellt, sind alle Anwesenden Mitglieder der Pagoden-Gemeinschaft, zu der ich seit Monaten vergeblich versuche Kontakt herzustellen. Wir unterhalten uns über ihre buddhistisch-inspirierte Motivation für die Spendenaktion und meine eigene Motivation zur Forschung in der Pagode. Einer der Anwesenden ergreift daraufhin das Wort und lädt mich dazu ein, morgen gemeinsam mit ihnen in der Pagode den Geburtstag des Historischen Buddhas (Lễ Phật Đản) zu feiern. Das erste Zusammenkommen der Gemeinde, seitdem Anfang Mai die Restriktionen gelockert wurden. (M)Ein ethnografischer Glücksmoment!