Feldforschung trifft Krise
Erwartungen & Enttäuschungen, Erwägungen & Entscheidungen
Vor wenigen Wochen traf ich mich auf einen Kaffee mit einer befreundeten Ethnologin, die über lange Feldforschungserfahrung in Ecuador verfügt, wo auch ich derzeit forsche. Dabei erzählte ich ihr von meinen Erwägungen zu pandemiebedingt bevorstehenden Änderungen für meine Promotionsforschung und die zunehmend unwahrscheinlicher erscheinende Realisierung meiner geplanten Feldforschung. Unaufgefordert, aber eindringlich riet sie mir, ich solle unbedingt eine Projektverlängerung – am besten um ein Jahr – anstreben, da ein mehrmonatiger Feldforschungsaufenthalt für eine Promotion in unserem Fach (und mit einem Thema wie meinem) unerlässlich sei und danach die Gelegenheiten dazu stetig rarer würden. Hatte ich mich vor dieser Unterhaltung schon fast dazu entschieden, einen Alternativweg einzuschlagen, brachte mich ihr Appell für die Durchführung einer „klassischen“ Teilnehmenden Beobachtung, die ja „wesentlicher Bestandteil der ethnologischen Methode“ (Spittler 2001: 6) ist, erneut ins Grübeln. Er verweist auf die „existenzielle Erfahrung der Feldforschung“ als Teil der „Signatur“ der Ethnologie (Krings 2013) und offenbart damit die sich hartnäckig haltende und für das Selbstverständnis des Faches konstitutive Erwartung an sich selbst bzw. seine (künftigen) Vertreter:innen.
Erwartung: Feldforschung
Diese Erwartung findet ihre Entsprechung im Forschungsdesign meiner Promotionsforschung – zugleich ethnologisch-altamerikanistisches Teilprojekt des interdisziplinären Verbundprojektes SiSi (BMBF, „Sprache der Objekte“). Forschungsgegenstand sind chaquiras[1] oder Perlenartefakte indigener Gruppen in Südamerika, ausgehend vom Sammlungsbestand des BASA-Museums der Abteilung für Altamerikanistik der Universität Bonn. Zentrale Methode für die Erforschung der Materialität, Assoziationen oder „Bedeutungen“ von und sozialen Praktiken mit diesen Artefakten ist die Teilnehmende Beobachtung, in Kollaboration mit indigenen Partner:innen, während zweier im Projekt vorgesehenen Feldforschungsaufenthalte.
Erwartungen treffen Krise – Entscheidungen treffen
Die genannten fach- und projektspezifischen Erwartungen spiegeln sich in meinen eigenen Erwartungen an die (ausstehende zweite) Feldforschung – im Sinne einer Teilnehmenden Beobachtung in ihrer radikalisierten Praxis als Dichte Teilnahme (Spittler 2001) – wider. Im Zusammenspiel von Erwartungen an und durch die Feldforschung, die ich in diesem Beitrag reflektiere, konzertieren außerdem die durch die bisherige Kollaboration entstandenen Erwartungen meiner Forschungspartnerinnen sowie die des die Forschung finanzierenden Drittmittelgebers. Mit ihrem plötzlichen Betreten und zeitweisem Vereinnahmen der globalen Bühne droht das SARS-CoV-2 Erwartungen in Enttäuschungen zu verwandeln. Um (größeren) Enttäuschungen vorzubeugen, müssen andere mögliche Schrittfolgen auf dem unbekannten Parkett in Erwägung gezogen werden, die den durch die Krise veränderten Rahmenbedingungen für Mobilität und Miteinander als Voraussetzungen für die physische Präsenz im Feld entsprechen. Mit der schleichenden Verstetigung der (zunächst) als außergewöhnlich empfundenen Krise in eine oft heraufbeschworene „neue Normalität“ haben sich meine Erwägungen hinsichtlich der Feldforschung verändert. Bevor das Forschungsprojekt selbst in eine Krise mit dringendem Handlungsbedarf unter Zeitdruck gerät (vgl. Mergel 2012), müssen diese Erwägungen also in Entscheidungen münden. Auch aus der sogenannten „Corona-Krise“ entsteht „in global-lokalen Konstellationen […] dauerhafte Struktur“ (Beck & Knecht 2012: 68), die jedoch noch nicht erkennbar oder etabliert, sondern von Unbeständigkeit und Ungewissheit geprägt ist. Das erschwert das Treffen von Entscheidungen.
Feldforschung vor der Krise – Erwartungen an die Feldforschung
Während der ersten sechswöchigen Feldforschung (August bis Oktober 2019) bewegte ich mich zwischen Otavalo in der nördlichen Andenregion und verschiedenen Orten im Waorani-Territorium im ecuadorianischen Amazonasgebiet, vielfach begleitet von meinen lokalen Forschungspartnerinnen. Das große Interesse für „meine Forschungsgegenstände“ insbesondere einer Wao-Frau, die ich in den ersten Tagen in Quito eher zufällig kennen lernte und der ich mich für zwei Reiseetappen im Amazonasgebiet anschloss, war ausschlaggebend dafür, dass ich recht am Anfang dieser Reise entschied, auch die zweite Feldforschung hier durchzuführen.
Andere Beobachtungen und Begegnungen, darunter die sich allmählich offenbarenden direkten Verbindungen zwischen ihrer Familie und der Sammlung von Objekten der Waorani in Bonn, stützen diese Entscheidung. Entsprechend meiner daraus resultierenden Erwartung wiederzukommen, bekam die erste Feldforschung einen stark explorativen Charakter, in der mein Hauptaugenmerk auf dem Aufbau von Vertrauensbeziehungen lag, an die ich ein paar Monate später würde anknüpfen können. Insofern war es nicht allzu dramatisch, dass diese Feldforschung aufgrund der schweren politischen Krise in Ecuador vor genau einem Jahr ein abruptes, vorzeitiges Ende fand: Massenproteste und Straßenblockaden schränkten Mobilität und öffentliches Leben in ähnlicher Weise ein (Rattunde 2019) wie in den letzten Monaten das Virus – die wiederholte Antwort seitens der Regierung lautete: Ausnahmezustand. Gespeist von vielen unerwarteten Begegnungen und Eindrücken und losen Fäden, die wieder aufgenommen werden mochten, waren meine Erwartungen an die zweite, zentrale Feldforschung entsprechend groß. Mit dem Versprechen wiederzukommen habe ich auch bei meinen Forschungspartner:innen Erwartungen geweckt, die ich (erst einmal) enttäuschen muss. Wohlgemerkt ist meine Präsenz dort für sie bei weitem nicht so entscheidend wie sie existenziell für meine Forschung (in ihrer bisherigen Ausrichtung) war – erst recht nicht in den Monaten des Lockdowns, der seinen Namen dort (traurigerweise) tatsächlich verdient hat.
Entscheidungen und Existenzen in der Krise
Anfang April traf ich die unausweichliche Entscheidung (die mangels Alternativen keine war), den zwischen Juni und September 2020 geplanten Feldforschungsaufenthalt bis auf Weiteres zu verschieben, bis er nicht nur wieder möglich, sondern mit Blick auf die soziale, ökonomische, humanitäre und emotionale Situation der Forschungspartner:innen auch verantwortbar ist. Wie Angehörige vieler indigener Gruppen in südamerikanischen Tieflandregionen entschieden besonders ältere Waorani aus Angst vor dem Virus, das schmerzhafte Erinnerungen an Epidemien nach ihrer „Kontaktierung“ Mitte des letzten Jahrhunderts wachruft, in Selbstisolation tiefer in den Wald zu gehen. Die meisten verzichten auf ihre sonst üblichen Reisen zwischen Stadt und comunidad und versuchen, sich an Präventionsregeln zu halten, auch wenn sie dem sozialen Miteinander der Waorani diametral entgegenstehen (Bravo Díaz 2020). Während die besagte Wao sich vor kurzem mit der Eröffnung des Kunsthandwerk-Geschäfts Ñänönani einen lang ersehnten Traum erfüllen konnte, hat die zweite meiner Waorani-Forschungspartnerinnen während der Pandemie ihren Job verloren, sodass aus ihrer schon zuvor sehr prekären Situation eine existenzielle Notlage wurde, in der sie mich um finanzielle Unterstützung bat (wie gehen wir als Ethnolog:innen hiermit um?). Ich sehe diese Bitte auch im Kontext dessen, dass mein Wiederkommen nicht nur, aber gerade bei ihr mit der Erwartung von Mitbringseln verbunden war.
Meine Forschungspartnerin in Otavalo bangte angesichts von Virus-Krise und Lockdown auch um die Existenz der von ihrer Familie geführten Escuela de Música Yarina. Es gelang, ihr Funktionieren aufrechtzuerhalten, indem zahlreiche Aktivitäten in digitale Formate überführt wurden, an denen zumindest die Schüler:innen mit entsprechenden Zugangsmöglichkeiten teilnehmen. Bei unserem ersten Treffen hatte sie ihre Erwartung an gemeinsames Forschen und gegenseitiges Geben und Nehmen (Kichwa: ranti ranti) explizit und zur Bedingung unserer Zusammenarbeit gemacht. Während erstere zumindest zu einem Teil enttäuscht werden wird, hat unsere Kollaboration über die letzten Monate Formen und über meine Forschung hinausreichende Inhalte angenommen.
Erwägungen zur Feldforschung mit Dingen
Die erste Feldforschung war besonders durch Interaktionen mit Dingen – Perlenartefakte, Pflanzenfasern und Fotografien, auch von Dingen in der Bonner Sammlung – geprägt.
Durch sie entstanden Beziehungen, Unterhaltungen, „soziale Nähe und gemeinsames Erleben“ (Spittler 2001: 12). Die Materialitäts-Bezogenheit des Forschungsthemas übertrug sich geradezu von selbst auf die Forschungspraxis, die so eine Dichte erlangte, von der nicht zu erwarten ist, dass sie in einer digital gestützten Feldforschung in ähnlicher Weise herstellbar wäre – aufgrund des (generell zu problematisierenden) Spannungsverhältnisses von Dinglichkeit/Materialität und Digitalisierung/Virtualität. Daher beinhalteten meine Erwägungen zur Feldforschung weniger, sie auf digital „umzustellen“ (im Sinne einer Kompensation), sondern den im Forschungsprozess entwickelten Fokus auf die Perlenartefakte der Kichwa-Otavalo und Waorani zu verlassen und mich wieder der Gesamtheit der chaquiras im BASA-Museum zuzuwenden. Im weiteren Prozess ist noch zu erwägen, inwieweit ich die beiden begonnenen „Tiefenbohrungen“ weiterführe (etwa durch Gespräche per Knopfdruck bzw. Touchpad-Berührung mit den Frauen, die mich bisher begleitet haben) und in die (räumlich und zeitlich) breiter aufgestellte und stärker sammlungszentrierte Forschung integriere.
Entscheidungen und (enttäuschte) Erwartungen
Mit ihrem beim Kaffee erteilten Ratschlag für die Durchführung einer Teilnehmenden Beobachtung plädierte die eingangs erwähnte Ethnologin „entschieden für die Möglichkeit ihrer Realisierung“, die, so Spittler, „weniger durch ihre Kritiker bedroht [ist] als durch die Bürokratie“ (2001: 22). Dabei sind Zeit und Geld maßgebliche Faktoren und das Produkt beider ergibt den Rahmen, innerhalb dessen die Forschung abzuschließen ist, auch in Erfüllung der Erwartungen nach Effizienz von Forschungsförderinstitutionen (vgl. Krings 2013: 278). Die von selbiger zunächst (zumindest vorsichtig) in Aussicht gestellten Erweiterung des gesteckten Rahmens bewirkte meine beobachtend-abwartende Haltung der letzten Monate hinsichtlich der Realisierung der Feldforschung. Inzwischen ist deutlich geworden, dass keine maßgebliche Erhöhung des Faktors G zu erwarten ist, erst recht nicht, wenn der Faktor Z nicht klar definiert ist, da die unverzichtbare Erwartung des Drittmittelgebers für jegliche Änderung des Rahmens eine realistische Zeitplanung bis Projektabschluss ist. Doch mit der unkalkulierbaren Variable SARS-CoV-19 und dem Faktor Feldforschung – der für die Förderinstitution kein notwendiger ist –, kann diese Rechnung derzeit nicht aufgehen. Meine vor dem Hintergrund dieser divergierenden Erwartungen getroffene Entscheidung, Design und inhaltliche Ausrichtung der Forschung im skizzierten Sinne zu ändern, bringt die Enttäuschung vor allem meiner Erwartung mit sich, die Promotion mit dieser Feldforschung (die nicht sein sollte) abzuschließen. Gleichzeitig treffe ich diese Entscheidung nach einer ersten „existenziellen Erfahrung“, bei der – trotz ihrer Kürze – der Zufall einer meiner „beste[n] Begleiter“ (Krings 2013:278) war. Diese Entscheidung eröffnet auch die Möglichkeit, die chaquiras in anderen Dimensionen und Zusammenhängen zu betrachten, stärker von den Dingen im Museum auszugehen, die sich im aktuellen Kontext eingeschränkter Mobilität einmal mehr als besondere Ressourcen für ethnologische Forschung erweisen. Auch insofern betrachte ich mein erwartetes Wiederkommen nach Ecuador als aufgeschoben, nicht aufgehoben.
Verfasst am 5. Oktober 2020, überarbeitet am 11. Oktober 2020.
Naomi Rattunde M.A. promoviert in Altamerikanistik/Ethnologie an der Universität Bonn als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verbundprojekt SiSi („Sinnüberschuss und Sinnreduktion von, durch und mit Objekten. Materialität von Kulturtechniken zur Bewältigung des Außergewöhnlichen“, BMBF, 2018-2021). Sie war wiss. Hilfskraft im BASA-Museum (Bonner Amerikas-Sammlung) und ist Mitglied der Forschungsgruppe AmazonAndes. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Materialität, Museen und Sammlungen. Kontakt: naomi.rattunde[at]uni-bonn.de
Footnote
[1] Als chaquiras werden im engeren Sinne die von den Spaniern in die Amerikas eingeführten Glasperlen bezeichnet; im weitesten, hier zugrunde gelegten Sinne sind chaquiras Perlen jeglicher Materialien sowie daraus gefertigte Artefakte sowohl vorkolumbischer als auch gegenwärtiger indigener Gesellschaften.
References
Beck, Stefan & Michi Knecht. 2012. Jenseits des Dualismus von Wandel und Persistenz? Krisenbegriffe der Sozial- und Kulturanthropologie. In: Mergel, Thomas (ed.). Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Frankfurt: Campus, 59-76.
Bravo Díaz, Andrea. 2020. Notas Amazónicas frente a la pandemia, el caso Waorani en Ecuador. In: Perifèria, revista de recerca i formació en antropologia 25 (2), 22-33. [https://doi.org/10.5565/rev/periferia.742]
Krings, Matthias. 2013. Interdisziplinarität und die Signatur der Ethnologie. In: Bierschenk, Thomas, Matthias Krings & Carola Lentz (eds.). Ethnologie im 21. Jahrhundert. Berlin: Reimer, 265-283.
Mergel, Thomas. 2012. Einleitung: Krisen als Wahrnehmungsphänomene. In: Ders. (ed.). Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Frankfurt: Campus, 9-22.
Rattunde, Naomi. 2019. Vorerst keine Entwarnung. Der Aufstand gegen das Spardiktat des IWF und die staatliche Repression in Ecuador. In: ila 430, 39-41.
Spittler, Gerd. 2001. Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme. In: Zeitschrift für Ethnologie 126, 1-25.