Das eigene Berufsfeld untersuchen:
Provenienzforschung ethnografisch betrachten
Mit welchem Verständnis von Wissenschaft wird im Museum gearbeitet? Was bedeuten Begriffe wie Ethnologie und Kultur in der musealen Arbeit? Fragen zur wissenschaftlichen Praxis in ethnologischen Museen begleiten mich seit Beginn meiner Tätigkeit in diesem Bereich im Jahr 2010. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Linden Museum Stuttgart, die zwischen 2016 und 2018 zur Herkunft kolonialer Sammlungen arbeitete, fokussierten sich meine Fragen zunehmend auf das sich gerade etablierende Forschungsfeld der Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten: Welche Faktoren beeinflussen meine Forschungspraxis und die in anderen verschiedenen Projekten? Welche Bedeutung haben institutionelle Strukturen, wissenschaftliche Konventionen und gesellschaftliche Erwartungen bei der Durchführung der Forschung? Welche Handlungsmöglichkeiten haben die in diesen Zusammenhängen zum Teil sehr unterschiedlich positionierten Akteur*innen?
In den letzten Jahren hat sich die Forschung zu anthropologischen, ethnografischen und naturkundlichen Sammlungen, denen sich im Kontext des europäischen Kolonialismus angeeignet wurde, mehr und mehr Aufmerksamkeit erhalten.[1] Museumsverantwortliche sehen in ihr eine wesentliche Möglichkeit, sich mit dem Erbe des Kolonialismus in ihren Institutionen zu befassen.[2] Auch Vertreter*innen der Politik verstehen sie als wichtiges Instrument bei der Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte (CDU, CSU und SPD: 169, Zeilen 8048–8052). Den Kritiker*innen der Museen scheint das Forschungsfeld hingegen oftmals vor allem ein Mittel zur Verzögerung von Objektrückgaben zu sein (AfricAvenir 2017). Mit diesem neuen Forschungsfeld und dessen wissenschaftlichen Praktiken beschäftige ich mich in meinem Promotionsprojekt „Doing Provenienzforschung – auf dem Weg zur Dekolonialisierung musealer Strukturen? Eine ethnografische Analyse von Wissenschaftler*innen, Institutionen und postkolonialen Kontexten“. Es soll aufgedeckt werden, worin das Potential zur Dekolonialisierung musealer Strukturen und Wissensproduktion der Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten besteht und welche Rahmenbedingungen für dessen Aktivierung notwendig sind. Ethnografisch untersucht werden hierzu die Zusammenhänge, in denen Provenienzforschung durchgeführt bzw. gemacht (doing) wird. Gefragt wird, wer und was diese Forschungen unter welchen Bedingungen wie gestaltet.
Im Unterschied zur öffentlichen Debatte um das koloniale Erbe in Museen, die besonders Äußerungen von Museumsdirektor*innen und Professor*innen in den Vordergrund stellt und oftmals den Forschungsalltag ausblendet, möchte ich die Prozesse der Wissensproduktion im Forschungsfeld der Provenienzforschung ausgehend von den Erfahrungen jener Personen untersuchen, die an Museen und Universitäten tatsächlich Forschung zu kolonialen Beschaffungskontexten durchführen. Dem Ansatz der Institutional Ethnography von Dorothy L. Smith folgend, sollen die Erfahrungen dieser Akteur*innen für mich den entry point in das Gefüge des Forschungsfeldes bilden (Grahame 1998; Smith 2005). Von ihnen ausgehend werden die Zusammenhänge analysiert, in denen Projekte zur Provenienzforschung stattfinden und die deren Gestaltung bedingen und den Erkenntnisprozess prägen. Geplant für meine Forschung hierzu sind Gespräche mit Nachwuchswissenschaftler*innen und Projektmitarbeiter*innen, festangestellten Wissenschaftler*innen und internationalen Gastwissenschaftler*innen in mehreren ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum und die ethnografische Begleitung der Forschungsarbeit in aktuellen Provenienzforschungsprojekten. Ergänzend erfolgt eine Diskursanalyse von akademischen, journalistischen und politischen Beiträgen zur aktuellen Debatte.
Meine eigenen Erfahrungen im Bereich Museumsarbeit und Provenienzforschung, meine Kenntnisse um die schwierigen und prekären Bedingungen im Museum, und dessen Verrücktheiten, sollten hierbei vor allem als door-opener für eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre fungieren. Leitend für meine Be- und Hinterfragung von Forschungspraktiken im Forschungsfeld der Provenienzforschung, sollten die Einschätzungen der involvierten Akteur*innen sein. Von ihnen ausgehend sollte die Annäherung an öffentliche Debatten, wissenschaftliche Diskurse und institutionelle Logiken und deren Rückwirkungen auf die Forschungspraxis erfolgen. Mein eigenes Detailwissen sollte dabei in erster Linie die gemeinsame vielschichtige Auseinandersetzung mit der sich hier vollziehenden Wissensproduktion ermöglichen.
Laut meines Arbeitsplans sollten Vorgespräche mit potentiellen Interviewpartner*innen und den Verantwortlichen des zu begleitenden Provenienzforschungsprojekts bis Ende Mai erfolgt sein. Die Durchführung erster Interviews war für Juni vorgesehen und der Abschluss der ersten Phase der ethnografischen Begleitforschung für Oktober. Durch die Entwicklungen rund um das Coronavirus, und anderen Unsicherheiten in meiner Planung, hat sich der Beginn dieser Arbeiten immer wieder verschoben. Statt mich ausgehend von den Erfahrungen meiner Kolleg*innen dem Forschungsfeld anzunähern, habe ich die Sammlung von Material für die Diskursanalyse im Internet an den Anfang meiner Arbeit gestellt. Hierzu gehört die Sichtung wissenschaftlicher und journalistischer Artikel zum Forschungsbereich Provenienzforschung wie auch die Teilnahme an Online-Tagungen und -Veranstaltungen rund um die Themen Kolonialismus, Kolonialgeschichte und koloniales Erbe. Im Vordergrund bei der Auseinandersetzung mit meinem Forschungsgegenstand stehen nun allerdings doch meist meine Erfahrungen im Museumsbereich und in der Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten. Ich merke dabei, wie ich die Arbeit meiner Kolleg*innen vorrangig als Provenienzforscherin betrachte und bewerte. Gerade im Homeoffice fällt es mir nicht immer leicht, in die Perspektive der Ethnografin zu wechseln. Durch den veränderten Ausgangspunkt meiner Forschung fällt das von mir hier vorgesehene Korrektiv, der Austausch mit den anderen involvierten Akteur*innen, weitestgehend weg. Für mich erwächst hieraus die Notwendigkeit, die von mir im Forschungsprozess eingenommen Rollen und auch meine emotionale Eingebundenheit besonders konsequent zu reflektieren.
Während die erste Interviewrunde bis zum Ende des Jahres abgeschlossen sein wird, ist die Frage, ob und wie die von mir geplante dichte Beobachtung von Forschungspraktiken durch eine digital durchgeführte Begleitforschung ersetzt werden kann, weiter offen. Im Moment ist davon auszugehen, dass die sich zurzeit beschleunigende Digitalisierung der Museumsarbeit auch Auswirkungen auf das Forschungsfeld der Provenienzforschung haben wird. Hierzu gehören neben einem (momentan) zunehmenden Verzicht auf Präsenztreffen im musealen Arbeitsalltag auch eine verstärkte digitale Zusammenarbeit mit internationalen Kooperationspartnern, wie Vertreter*innen der Gesellschaften, die die in den Museen verwahrten Dinge herstellten und verwendeten. Ob sich hierdurch auch museale Wissensproduktion und Repräsentationspraktiken verändern, wird sich zeigen.
Die Erweiterung des Begegnungsraums ins Virtuelle, mit der sich räumliche Distanzen leichter überbrücken lassen, birgt sowohl für meine Forschung als auch für das Feld der Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten neue Möglichkeiten des Beziehungsaufbaus und -ausbaus. Die Einbeziehung von Kolleg*innen auf dem afrikanischen Kontinent und den pazifischen Inseln erleichtert sich für mich dadurch erheblich. Gleichzeitig bleiben aber auch Fragen zu den Auswirkungen dieser Verschiebungen: Inwieweit können Treffen im virtuellen Raum Begegnungen im real life ersetzen? Wie vertrauensvoll können hier Informationen ausgetauscht werden? Und wie lassen sich Feldforschungen ohne Präsenz vor Ort durchführen?
Geschrieben am 05.Oktober 2020
Gesa Grimme ist freiberufliche Ethnologin und Historikerin. Seit April 2020 promoviert sie an der Ludwig-Maximilians-Universität zum Forschungsfeld der Provenienzforschung zu kolonialen Objekten und den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen diese Forschung stattfindet. Zwischen 2016 und 2018 erarbeitete sie am Linden-Museum Stuttgart im Projekt „Schwieriges Erbe: Zum Umgang mit kolonialzeitlichen Objekten in ethnologischen Museen“ einen Ansatz zur systematischen Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten. Zuvor absolvierte sie ihr wissenschaftliches Volontariat am Museum für Völkerkunde Hamburg, dem heutigen MARKK – Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt und arbeitete dort anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Footnotes
[1] Eine Dokumentation der Debatte liefert das Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH) unter http://www.carmah.berlin/media-review-on-museums/. Letzter Zugriff: 05.10.2020.
[2] „Dekolonisierung erfordert Dialog, Expertise und Unterstützung“, Stellungnahme der Direktor*innen der Ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum vom 06.05.2019. Online nachzulesen zum Beispiel unter: https://markk-hamburg.de/heidelberger-stellungnahme/. Letzter Zugriff: 05.10.2020.
References
AfricAvenir (eds.). No Humboldt 21! Dekoloniale Einwände gegen das Humboldt-Forum. Berlin: AfricAvenir International.
CDU, CSU und SPD. 2018. Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1. Letzter Zugriff: 05.10.2020.
Grahame, Peter: Ethnography. 1998. Institutions, and the Problematic of the Everyday World. In: Human Studies 21, 347–360. [https://doi.org/10.1023/A:1005469127008]
Smith, Dorothy E. 2005. Institutional Ethnography: A Sociology for People. Walnut Creek, CA: AltaMira Press.