Notwendige Positionen
Politisches Handeln und die Grenzen der ethnologischen Wissenschaft
„Das Ende der Aushandlungen?“ greift als Leitfrage der DGSKA-Konferenz 2019 nach einem spürbaren, aber längst nicht ausgereift gefassten Phänomen unseres noch jungen Jahrhunderts. Thematische Resonanz und inhaltliches Spektrum eingereichter Workshops, Roundtables und Einzelbeiträge sind ein Gradmesser, ob und wie ein Konferenzthema aufgenommen und weitergeführt wird – in diesem Jahr erweist sich das Konferenzthema als ein ebenso wohldurchdachter wie allgemein anregender Glücksgriff. Und doch hat mich überrascht, wie vage und marginal die Ethnolog_innen selbst sowohl im Aufruf als auch im Spektrum der eingereichten Workshops thematisiert werden – ihre Rolle bleibt im Wesentlichen an Fragen der Forschungsethik und Methode gebunden. Störrisch und moralisierend sind zunächst einmal nur die anderen, unsere menschlichen Forschungssubjekte da draußen in der Welt. Es scheint fast, als tauchten in unserer impliziten Selbstbeschreibung als Ethnolog_innen Momente des homo oeconomicus auf – ein homo anthropologicus also, der als rationales Wesen die Widrigkeiten anderer zu untersuchen vermag, ohne über die menschliche Hülle hinaus davon selbst betroffen zu sein. Wir anerkennen wohl unsere Leiblichkeit und Sensualität als Instrumente unserer Feldforschung, ziehen uns dann aber in eine überlegen distanzierte Sphäre der Kritik zurück – eine Abgeklärtheit in Anspruch nehmend, die so eindeutig und vom Dasein abgelöst gar nicht sein mag.
Freilich ist dies nur ein erstes, vielleicht gemeinschaftlich inszeniertes Verständnis, denn viele von uns bringen sich tatsächlich ein in eine vielgestaltige politische Welt und wollen keineswegs bloße Zeugen einer babylonischen Welt bleiben. Dies bringt eine Frage aufs Tapet, die keineswegs so radikal neu ist, wie sich das jüngere Generationen mitunter wünschen mögen: Wie hält es die Ethnologie mit der Tat? Dass die Geschichtlichkeit dieser Auseinandersetzung immer wieder unter den Tisch fällt, mag mit der Unmöglichkeit zusammenhängen, diese Frage abschließend zu beantworten. Nichtsdestotrotz bleibt sie notwendig. Sie ist unserem diesjährigen Tagungsthema inhärent – und wird auch immer wieder explizit werden, etwa in der beantragten AG Public Anthropology und auch in einzelnen Workshops.
Drei Gedanken möchte ich der Diskussion mit auf den Weg geben:
Erstens, die Frage nach Forschung und politischem Handeln hat innerhalb und außerhalb der Ethnologie eine Geschichte, die unseren Blick auf die eigene Gegenwart erweitert, in der dringliche Krisen mit Interventionen zu beantworten sind. Wurde der ethnologischen Aktionsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitunter vorgeworfen, Handeln über die Wissenschaft zu stellen, wiewohl sie Erkennen und Verstehen etwaigem gemeinsamen Tun vorausschickte, so ist das wesentliche Anliegen der Aktionsforschung doch in die ganze Breite des Faches eingegangen. Landrecht, Umweltzerstörung durch Entwicklungsprojekte, Industrialisierung und Raubbau, Vermarktung indigenen Wissens, Rassismus, Diskriminierung und Migrationspolitik sind bekannte Themenfelder, zu denen sich auch Ethnologinnen und Ethnologen seit langem äußern und engagieren. Vielleicht waren in den 1970er und 80er Jahren das politische Gegenüber und damit auch das eigene Tun deutlicher konturiert. Die Unübersichtlichkeit der eigenen Gegenwart macht – zweitens – eine eigene Standortbestimmung umso notwendiger, nicht um einer wenig interessanten Nabelschau willen, sondern um den eigenen Verstehensweg transparent zu machen und damit einem fundamentalen Anspruch an Wissenschaftlichkeit nachzukommen. Auch dies ist keine ganz neue Forderung, allerdings zielte sie bislang eher darauf ab, die eigene Stimme zu rechtfertigen und das Attribut ‚kritisch‘ zu besetzen. Vielleicht aber ist es gar nicht so einfach, eine distanzierte Außensicht und einen privilegierten moralischen Standpunkt einzunehmen und sich dann von hier aus wieder in gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu stürzen – als könnten wir unser Verwobensein in einer eng verflochtenen, doch keinesfalls zufriedenstellenden Welt, unser eigenes ‚being in the world‘, an- und wieder ausknipsen. Sich so herauszunehmen, erscheint zuallererst als ein hilfreicher Kniff, um einen Diskussionsraum zu erschaffen, der sich eben ein Stück weit von den Mühen des Daseins abhebt.
In ihrem Artikel „The business of anthropology and the European refugee regime“ (American Ethnologist, 46/3) riet Heath Cabot kürzlich dazu, die Wissenschaft Ethnologie moralisch nicht zu überfrachten. Selbst die Migrationsdebatte, in der sich Ethnolog_innen aus gutem Grund und persönlichem Anliegen heraus äußern, ist Teil unseres marktförmigen Wettbewerbs um Forschungsgelder, Karrieren und Einfluss geworden. In einer ‚globalisierten‘ Welt –
vereint nicht, wie befürchtet, in kultureller Gleichheit, sondern in sozialer Ungleichheit – sind auch die Wissenschaften nicht außen vor. Und würden wir das auch gerne so sehen und selbstbewusst nach außen tragen, so birgt die Ethnologie unserer Tage – drittens – ebenso wenig den Schlüssel zu einer besseren Welt wie andere Wissenschaften auch. Letztlich sagt sie uns nicht, was zu tun ist. Antworten werden wir notgedrungen und eingedenk unserer eigenen Nöte, Zwänge und Bedürfnisse diesseits und jenseits der Wissenschaft selbst wagen und verantworten müssen, ohne uns zur Gänze auf die Ethnologie berufen zu können. Und doch ist es von ganz grundsätzlicher Bedeutung, sich immer wieder darüber auszutauschen, was uns das wissenschaftliche Sein und Arbeiten bedeutet, welche Argumente wir aus der Ethnologie schöpfen, welche Grundverständnisse und Erwartungen wir mit ihr verbinden und wie wir sie weitertragen, gestalten und einbringen wollen. Eine solche Auseinandersetzung hilft dann durchaus, streitbare Positionen, klare Kanten und bewusste Haltungen auszuformen, freizulegen und innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft zu vertreten. Denn immer alles auszuhandeln, kann keineswegs in unserem Interesse sein.
Über den Autor
Magnus Treiber ist Professor für Ethnologie an der LMU München. Er promovierte 2005 an der Universität München zu jungem Leben in der eritreischen Hauptstadt Asmara und habilitierte 2016 an der Universität Bayreuth zur Migration aus Eritrea. Neben seinem regionalen Schwerpunkt, dem Horn von Afrika, interessieren Migrationsforschung, Stadt- und Existenzethnologie, Ethnographie und Theoriebildung und ganz allgemein die Möglichkeiten der Ethnologie zu interdisziplinärer Zusammenarbeit und öffentlicher Einflussnahme.