23/02/21

Triviales und Quadriviales

Bildunterschift: Wien, 25. Mai 2005 (Foto: Marcus Hahn)

„Es gibt immer wieder Zwischenfälle. Der Kontrast zwischen ‚ch‘ und ‚sch‘ kann in einigen Dialogen anders ausgespielt werden, etwa wenn sich ein Kölsch-Sprecher und Nicht-Kölsch-Sprecher über die ‚Kirsche‘ unterhalten. Für einen Kölsch-Sprecher oder gar einen auswärtigen Kölsch-Hörer ist der Kontrast zwischen ‚ch‘ und ‚sch‘ u.U. ‚allophonisch‘ und ‚nicht-phonematisch‘. Entsprechende Wortspiele mit entsprechenden (phonemisch-allophonischen) Ambiguitäten können hier ansetzen; und entsprechende Dialekt-Tests.“

So eine Passage auf S. 367/68 aus der Dissertationsschrift Figuren der Rede. Zur Theorie der rhetorischen Figur (1996, abgeschlossen 1993) von Erhard Schüttpelz. Hier eine zeitgenössische Probe aufs Exempel:

Gerade glücklich durch das 2003 für mich offenstehende Portal zwischen der strukturschwachen Nordeifel und der poststrukturalistisch geprägten Universität Siegen geschwebt, ging mir zum ersten Mal auf, dass ich Probleme mit der latinitas hatte, also nicht unfallfrei der deutschen Hochsprache mächtig war. Dies manifestierte sich neben einem Nuscheln unter anderem in der teils fehlenden, teils erratischen Unterscheidung des ‚ch‘ und ‚sch‘. Zwar wurde ich dadurch linguistisch gelegentlich – und mir durchaus schmeichelhaft – fälschlich im regionalen Metropolraum verortet, im oben erwähnten kölschen Einzugsgebiet, aber das Problem war real. Mein Lieblingsbeispiel, das ich auch später noch immer wieder vorgetragen habe, war die Kir(s)che. Die *Kirsche bzw. *Körsche ist das alltäglich präsente Zentrum der kleinen Eifler Straßendörfer und hat als solche das phonetische Hoheitsrecht. Will man nun dagegen von der eigentlichen Kirsche sprechen, also der zwar einheimischen, jedoch nicht sehr weit verbreiteten und nur saisonal verfügbaren Steinfrucht, sagt man ebenfalls *Körsche. Außer es handelt sich um einen Zweifelsfall, dann betont man der Eindeutigkeit wegen nicht das Gotteshaus, sondern die Steinfrucht als *Kirche mit dem Fremdlaut, was einerseits der dekorativen Finesse, andererseits aber auch der sündigen Süße der Frucht angemessen ist, cherry on the cake und popping the cherry, a Kirsch, please, mon chérie, etc. Solche Provinzialismen in der Universitätsstadt waren peinlich, für mich, amüsant für die vielen anderen Provinzlerinnen, z.B. aus dem Westerwald, die ich beim Erstkontakt allerdings aufgrund des lokalen r-Lauts für gebürtige Amerikaner hielt. Insbesondere peinlich war die Begegnung mit der Provinz jedoch für die ‚Dozentinnen‘ und ‚Dozenten‘ – so nannten wir sie egalitär und meist ohne größeren Sinn für Distinktion ganz im Sinne des anti-hierarchischen Selbstverständnisses der Uni mit Gesamthochschultradition. Man konnte spüren: Für einige von ihnen fühlte sich der Weg in die Semi-Peripherie des mittleren Westens Deutschlands und hinauf auf den Haardter Berg zur Uni Siegen kaum wie ein Bildungs-Aufstieg an, insbesondere mit dem überfüllten Linienbus, in dem einem jeden Tag der Wilhelm-von-Humbolt-Platz (sic) angekündigt wurde. Hinter den verschlossenen Bürotüren auf den langen Gängen der Uni herrschte dementsprechend auch eine überraschende Leere, offenbar sah kaum jemand der Dozierenden dort den Mittelpunkt ihrer Arbeit und gar seines Lebens, der lag meist in Köln, Frankfurt oder sogar Berlin. Die gefühlte Erniedrigung äußerte sich im erratischen Umgang mit der seit 2002 beginnenden Welle von Bachelor-Studierenden, die in einem eigentlich als studium generale konzipierten Lehrangebot, statt den Sieben Freien Künsten zu begegnen, immer wieder in eine commedia dell’arte gerieten. Was haben wir gelacht, gejammert und gelästert! Die De-Zentrierten verliehen dabei ihrer Frustration Ausdruck durch blasierte Langeweile, dann wieder plötzliche Über-Identifikation mit den Studierenden, verhohlene und offene Verachtung, Wahnwitz, Zynismus, aggressive Überreaktionen und Wutausbrüche, Raumverweise, Mitleidsgesten und … Referate, viele lange Referate, die im besten Fall für eine Art schläfrigen Burgfrieden in den Seminaren sorgten. Nur gab es neben dem Soziologen Trutz von Trotha zumindest in den unteren Fachbereichen keine Dozentinnen oder Dozenten mit großbürgerlichem oder eben Adelshintergrund, keine echten Experten für Burgen und Burgfrieden. Voll Hick-Hack, Technokratie und kleinbürgerlichem Ressentiment war die große Welt der Universität, in der die Studierenden nur mit einer gewissen Feierwut ihren Platz fanden. Folglich war es ein erfolgreicher Karnevals-Coup, als man es schaffte, eine Zeit lang verschiedene Professor-DJ-Parties zu organisieren. So wurde es unter Studierenden eindeutig als Höhepunkt von Herr-Schüttpelz-der-Dozent gesehen, als er zu solch einer Gelegenheit einen Partyhit, die 12-inch der Kölner Whirlpool Productions mit „From: Disco to: Disco“ auflegte und wie ich jetzt verstehe, damit sagte: ‚Ich habe verstanden‘. https://www.youtube.com/watch?v=06-vBrp5xw4

Ansonsten blieb Erhard jedoch von den Siegener Studierenden weitgehend unverstanden. In der Anfangszeit seiner Professur, aus der ich nur berichten kann, wurde er von seiner Hauptklientel, den Diplom-Studierenden, gemieden. Diese waren bereits nach einem drakonischen Initiationsverfahren in ‚die Medien‘ sozialisiert, wenn sie – numerus clausus hin oder her – vor dem Studium mindestens ein ganzes Jahr ihres Lebens für schlecht oder unbezahlte Hilfsarbeit im Film-, Zeitungs-, Werbe- oder PR-Betrieb opfern mussten, bevor sie sich überhaupt bewerben konnten. (Das damals für Männer noch obligatorische Jahr im Militär oder z.B. als Zivildienstleistender beim Rettungsdienst mit Arbeiten am Funkgerät, mit Navigationsgeräten und Straßenkarten, tägliches Formulare ausfüllen, Messungen von Blutdruck und Puls, Anamnesegesprächen mit Abstechern in die oral history, maintenance von kleinen und großen technischen Infrastrukturen – hätte natürlich nicht gezählt.) Das hatte den Leuten großen Respekt vor den sowieso schon prestigeträchtigen Medieninstitutionen gelehrt und man hatte mit dieser Zugangsbedingung de facto, mit wenigen Ausnahmen, alle Leute ohne bildungsbürgerlichen Hintergrund, alle Leute ohne Karriereziele, alle Leute die nicht nur mit Gottvertrauen ein Jahr überspringend in die Zukunft planen konnten oder wollten, erfolgreich ausgesiebt. So waren in den Medienwissenschaften auch die institutionellen Machtpole – und deren Themen – die anziehendsten. In Siegen, einer der letzten Bastionen der deutschen Ur- und Freikirchen, hatte eine wunderbare lokale (Kirsch-)Blüte autonom, das heißt allerdings auch ohne direkten Anschluss an den internationalen Forschungstand, stattgefunden. Diese hatte sich in der Tat nicht nur didaktisch gehalten, sondern konnte – ähnlich wie Texanische Schulbücher in den USA – in Form von Einführungen in die Medienwissenschaft ursprünglich als Siegener Pflichtlektüren auch deutschlandweit den Standard setzten, man konnte sich nicht ganz unberechtigt als das Zentrum der deutschen Medienwissenschaft fühlen. Die Siegener Studierenden beschäftigten sich in den Seminaren mit dem Design von Medientheorie und -praxis und verließen sich dabei vor allem auf die Autorität der Dozierenden, die Sachfragen für ihr Hoheitsgebiet ex cathedra entschieden. Für die Studierenden, die nicht zu dem Diplom-Studiengang gehörten, und sich außerhalb dieser Sphäre bewegten, war umgekehrt klar: Mit denen ist nicht gut Kirschen essen. Mir ist in dieser Zeit auch kein Versuch Erhards bekannt, dieses System zu stören und zum Beispiel, was ja eigentlich naheliegend gewesen wäre, eine der Einführungsvorlesungen zu kapern.

Nach kurzem Zögern angesichts der neuen Rolle als Professor war Erhards Verfahren klar: ‚Es gibt nur eine Didaktik, völlige Überforderung.‘ Dazwischen kleine Relativierungen durch frevelhafte Lehrsätze, in deren zweifelhaften Genuss ich allerdings auch nur in der privilegierten Position als Hilfskraft kam: ‚Gegen die Überforderung an der Universität hilft eigentlich nur eins: Faulheit. Man muss faul sein.‘ Nach drei Semestern hatte er dann den Dreh raus: ‚Ich unterrichte jetzt nur noch nachmittags, dann bin ich nicht mehr so frisch und überfordere die Leute etwas weniger.‘ Oder eben Dilettantismus: Zur ersten Sitzung kommt er ohne Seminarplan in den Raum und entwirft den Ablauf des kommenden Semesters in seiner nicht ganz einfach zu lesenden Handschrift an der Tafel, zunächst nach Wochen geordnet, dann irgendwann nach Ober- und Unterpunkten strukturiert anhand von Themen und Texten, dann beginnt er umzustrukturieren. Am Ende: ‚Hat das jemand mitgeschrieben?‘ Dass etwas nicht stimmte, sah man sofort, wenn er den Seminar-Raum betrat: mit einer Cola! aus dem Automaten und ohne Aktentasche oder Laptop, sondern nur mit einem dünnen blauen Spann-Hefter in der Hand; dazu ein kleines Notizbuch in der Jackett-Tasche, aus dem er auch manchmal unterrichtet und in das er sich beim Lehren!, raus aus der Tasche, rein in die Tasche, raus aus der Tasche, Einsichten aufschreibt, ‚ah, hmm, ja‘ – Luft durch die Zähne, nicken – ‚richtig, das ist wichtig‘; wenn er Bücher dabei hat, dann in einem Eastpack! Rucksack!; sein Platz bevorzugt an einem Tisch an der Tür statt vorne am Lehrerpult; er läuft dann den langen Weg zur Tafel, wenn er etwas aufschreiben will, immer alle Begriffe in Anführungszeichen, als Fluxus-Event, anfangs ‚einfache‘, dann irgendwann im Verlauf der Sitzung „doppelte“, auch rückwirkend an bereits auf der Tafel stehenden einfach angeführten Begriffen ergänzt; selten auch „‚dreifache‘“ Anführung; wenn er Theorien anspricht, an der Tafel nicht Titel sondern immer Autor Jahreszahl; durch seinen Platz an der Tür ignoriert er (außer eben der Tafel) die frontal ausgerichtete teure Medienausstattung der Räume weitestgehend; man versicherte sich unter den Studierenden auch regelmäßig der Unstimmigkeit der Erfahrung untereinander, mit Grimassen und geflüstertem ‚ich versteh gar nicht, was der will‘ – auf einer Postkarte in seinem Büro dagegen hätte man während einer Sprechstunde die Warnung lesen können: ‚Protect Me From What I Want‘. Ich hatte das große Glück, als Nachfolger von Benjamin Beil von der bereits erfahrenen HiWi Rukiye Canlı lernen zu können und das alles mit stoischem Gleichmut zu behandeln, auch wenn er bei der Sichtung von gerade herübergetragenen Bibliotheksbänden vor einem saß und in wahnwitzigem Tempo blätternd Bücher las bzw. verschlang. Dann, ca. 2008 zu Ende meiner kurzen Zeit als Hilfskraft, von Erhard doch einmal eine temporäre Kontaktnahme mit der Macht der Siegener Didaktik: ‚Ich mache mein Medien-Buch jetzt als Einführung, so mit Graphiken und Bildern.‘

Die einfachste Zusammenfassung dieser Beobachtungen ist sicherlich, dass der Professor in seinem Habitus in diesen Jahren schlicht Postdoc geblieben war, sich mit Händen und Füßen (in meiner ersten Erinnerung, da kannte ich ihn noch nicht und er war wohl gerade frisch berufen, sitzt er völlig unstandesgemäß in der Mensa halb im Schneidersitz auf einem Stuhl) gegen die Verwandlung in die Rolle des Universitätslehrers wehrte. Das ist aber eigentlich auch nur ein weiteres studentisches Missverständnis. Bereits 2004, noch gar nicht Professor, hatte er bereits einen didaktischen Text geschrieben, in dem er leicht verständlich und schematisch die Quintessenz seiner Doktorarbeit mit der Quintessenz seiner Habilitationsschrift verbindet: „Das radebrechende Alphabet. Drei Modelle der Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Ein echter Lehrtext, in dem die Einheit und Didaktisierbarkeit seiner Forschung angeregt und dann auch noch ausgeführt ist: ‚rhetorischer‘ Sprachunterricht wird mit der ‚grammatischen‘ Schreibstunde zusammengeführt, dazu die ‚logische‘ Selbstauslegung der mündlichen Sprache. Die oben zitierte Dissertation wird weltliterarisch gewendet und verbindet sich mit dem historischen Habilitationsprojekt, das ein Jahr nach diesem Aufsatz als Die Moderne im Spiegel des Primitiven publiziert wird. Doch was ist mit der Selbstauslegung? Hier findet sich 2004 die noch zukünftige Hinwendung zur „rezenten Soziolinguistik und Konversationsanalyse“ der „Sprachtheorie, Soziologie und Ethnologie“, zur „Frage nach mündlicher Kommunikation über Kommunikation, mündlicher ‚Metakommunikation‘ (und ihrer audiovisuellen Dokumentation und schriftlichen Darstellung)“ (Schüttpelz 2004: 349) bereits deutlich vorgezeichnet: untersucht werden müssen „alle Formen der ‚Kooperation‘ von Sprechern und Hörern“ (Ebd.: 365).

So hätte man dann auch damals schon zum Quadrivium und dem Studium von Abstraktion, Raum, Zeit und Raum-Zeit voranschreiten können, welches das höhere Studium in seinen Master-Seminaren inhaltlich bestimmte, konkret: Theorie (Strukturierung, Gliederung), Ethnologie (Symmetrisierung), Globalgeschichte (longue durée) und dem weltweiten, welthistorischen Vergleich (Universalismus auf Umwegen).

Für viele, vielleicht die meisten, war das zugegebenermaßen eine Tortur. Wenn man sich den Text zum „Radebrechen“ aber heute nochmal durchliest, stellt sich eher die Frage: Warum hat man das damals – nicht nur die Studierenden – nicht verstehen können, und: Was fehlt hier eigentlich noch zu den Medien der Kooperation? Die *Kirsche. Es musste aus einem Sternchen * … * – eine Kirsch-Blüte werden.

Dazu nochmal der Blick zurück, in die Dissertation über Wortspiele:

„Der Sinn des Sternchens ist die Negation des Nicht-Wohlgeformten, sozusagen ein ‚* include me out‘. […] Es gibt weder eine schlagendere Demonstration einer grammatischen Regel als das Zitieren eines Fehlers, noch ließe sich eine Grammatik lehren und durchsetzen, wenn sie nicht mit der Kraft begabt würde, die ihr begegnenden Fehler zu negieren. Wenn sie es aber tut, dann enthält sie das (auch), was sie negiert: ein Paradox. Aber dieses Paradox ist alles andere als oberflächlich. Es ist vielmehr – wenn man mir dieses Wortspiel verzeihen will – das ‚Paradox der grammatischen Oberfläche‘ […]“ (Schüttpelz 1996: 231)

„[W]enn man mir dieses Wortspiel verzeihen will“ – man wird in Erhards Texten nach der Doktorarbeit kaum noch vergleichbare Rücksichtnahmen und Entschuldigungen finden, und spätestens in den 00er Jahren kann man zumindest unter Kulturwissenschaftler*innen auch darauf wetten. Nicht nur, dass Wortspiele verziehen werden, sondern auch dass Wortspiele zur Grundlage von wissenschaftlichen Texten werden können. Und, das ist allerdings neu, man kann aus Wortspielen ganze Projekte entwerfen. Zum Beispiel das Teekesselchen ‚Trancemedien und Neue Medien‘. Oder die Fehlübersetzung ‚Locating Media – Situierte Medien‘. Oder man verkehrt Methode und Gegenstand: ‚Medien der Kooperation‘. Lassen sich im von alten Minenschächten untergrabenen hügeligen Siegerland Institutionen auf Intuitionen und Lehrgebäude auf Wortspiele bauen? Aus dem * wird eine Kirschblüte, wird eine Stein-Frucht, wird ein Kirschkern, wird eine neue *Kirsche:

„Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen [πέτρα, petram, auch: Stein] werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ (Matthäus 16:18)

Dazu das berühmte Zitat von James Joyce: „The Holy Roman Catholic Apostolic Church was built on a pun. It ought to be good enough for me.“

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