Notiz zu einer Lektüre
Songs of central Australia
1.
Man könnte T.G.H. Strehlows Monumentalwerk für ein bloßes Gerücht halten. In einschlägigen Kreisen ist es von Legenden umrankt und doch so gut wie ungelesen. Einmal ist es, obwohl keine bibliophile Kostbarkeit, sondern 1971 in Sydney in schlichter Form erschienen, eine Rarität. Wegen der Flut von Sonderzeichen, die für den Druck geschnitten werden mußten, war die Herstellung sehr teuer, die Auflage klein, später eine Digitalisierung kaum möglich. Zwei oder drei Antiquariate bieten es an, von 4000 Dollar aufwärts. Nach langen Mühen gelang es mir, die Photokopie eines Exemplars aufzutreiben, das sich in der Gesamthochschulbibliothek Wuppertal befindet. Zum anderen ist die Lektüre eine Aufgabe, ich jedenfalls habe für die 775 Seiten mehr als ein von sonstigen Verpflichtungen freies halbes Jahr gebraucht. Strehlow setzt voraus, daß der Leser die Ethnographien von Spencer und Gillen und eigentlich auch die seines Vaters Carl Strehlow gründlich kennt; daß er Sinn für den Klang von Versen hat und sich, wenn er schon nicht Aranda spricht, mit Grammatik und Phonologie dieser Sprache vertraut macht. Zudem sollte man, sonderbar genug, die altenglische und altskandinavische Dichtung schätzen.
Theo Strehlow brachte für sein Werk Voraussetzungen mit, über die niemand sonst verfügte. Auf der Missionsstation Hermannsburg aufgewachsen, waren seine Muttersprachen Deutsch und Aranda, Latein und Altgriechisch seine ersten Fremdsprachen; Englisch lernte er spät, was es ihm als Lehrer für englische Literatur an der Universität Adelaide ratsam erscheinen ließ, sich auf Beowulf, den Widsith und ähnliche Werke zu spezialisieren, wo seine Sprachbegabung konkurrenzlos war.
Seine Mutter hatte ihre Schwangerschaft mit Theo zum ersten Mal an einem Ort in der Nähe von Hermannsburg bemerkt. Folglich galt Theo bei den Aranda als Inkarnation eines Totem-Ahnen, und obwohl sein Vater ihm die Initiation verwehrte – Carl Strehlow war zwar einer der Großen unter den Ethnographen, in erster Linie aber Missionar – sicherte der Ort, an dem seine Mutter ihre Schwangerschaft bemerkt hatte, ihm ein totemische Identität und damit das Recht auf Zugang zu esoterischem Wissen; und in dem Maße, in dem Aranda in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konvertierten, ihre Tradition aufgaben und ihre heiligen Tjurungas verkauften, erhielt Theo nach und nach Zugang zu weiteren totemischen Orten und den ihnen Sinn gebenden Liedern.
Songs of central Australia ist eine Anthologie dieser Lieder, die darin aber nur wenige Seiten in Aspruch nehmen. Der Rest ist Kommentar. Einleitend werden Rhythmus und musikalische Struktur der Lieder dargelegt, die Sprache und die Versstruktur; erst dann folgen die Lieder, eingeteilt nach Themen und Aufgaben: Lieder gegen Krankheiten, zur Verletzung von Feinden, zur Wiederbelebung von Getöteten, zur Vermehrung totemischer Arten, Pflanzen wie Tiere, zur Zelebration und zum Gedenken von Totem-Ahnen, zu Circumzision und Subinzision, zur Kontrolle von Wind, Sonne und Regen, zu Schönheit und Liebe, zur Feier der Pmara Kutata und einige etwas weniger heilige; schließlich die geheimen Lieder der Frauen, von deren Existenz Strehlow gehört hat, die aber nicht kennen darf.
Bei jedem Lied beschreibt Strehlow den totemischen Ort, zu dem es gehört, vulgo das Dreaming, auch die Zeit, zu der die Eingeweihten ihn aufsuchen, in vielen Fällen nämlich dann, wenn alle meteorologischen Zeichen sicherstellen, daß die Vermehrung der betroffenen totemischen Art bevorsteht oder bereits eingesetzt hat. Weil sich natürliche Eigenschaften des Orts in den Versen, wie gebrochen auch immer, widerspiegeln, sind diese minutiösen Ortsbesichtigungen zum Verständnis der Lieder unverzichtbar. Ebenso die Mythen, die von der jeweiligen Station der Traumpfade erzählen. Die Lieder sind zuerst in der esoterischen Sprache der Dichtung gegeben, dann ihre Übersetzung in normales Aranda, mit einer Erläuterung der Transformationen, die zwischen beiden Versionen statthaben; es folgt eine Interlinearübersetzung ins Englische, mit grammatischen Aufklärungen, und schließlich eine Art Nachdichtung, die sich im Stil an die altenglisch-altskandinavische Dichtung anlehnt. Letzteres vor allem hat den Dichter Barry Hill, T.G.H. Strehlows Biographen, gestört. Auch ich sehe darin eine Idiosynkrasie, meine aber, daß man die Nachdichtungen nicht mitlesen muß, da alles, was die Originale angeht, in den vorhergehenden Fassungen enthalten ist. Diese allerdings kann man nicht eigentlich lesen, man muß sich viel Zeit lassen und sie studieren, bis man ihren Klang im Ohr und ihre Bedeutung im Kopf hat. Die altnordisch anmutenden Nachdichtungen scheinen mir im übrigen kein schlechter Griff zu sein, um den gehobenen, erhabenen Ton des Originals – die Wanderungen der Totem-Ahnen sind ja heroische Taten – für moderne (und gebildete) Leser spürbar zu machen.
2.
Viele Jahre ist Theo Strehlow auf dem Rücken von Kamelen unter der brennenden Sonne Zentralaustraliens über die Traumpfade der Aborigines gezogen, von Tjurunga-Speicher zu Tjurunga-Speicher, überwiegend an völlig entlegenen Orten im Outback, um Verse und ihre Erläuterungen zu notieren; und viele Jahre hat er darauf verwendet, sein voluminöses und doch knapp, konzis gehaltenes Buch zu schreiben. Um zu erfahren, weshalb er sich diesen Exerzitien unterzogen hat, müsste man vermutlich sein ganzes gebrochenes und zerrissenes Leben kennen. Er selbst allerdings hat sein Ziel am Schluß von Songs of central Australia so einfach wie verblüffend erklärt. Ihn hatte die moderne australische Landschaftsdichtung seiner Zeit gestört, weil sie sich nicht von ihren englischen Vorbildern lösen konnte und daher der australischen Landschaft in keiner Weise angemessen war. Um auf die Natur des Landes einzugehen, bedurfte es einer Intimität, wie die weißen Siedler sie sich in ihrer kurzen Zeit nicht aneignen konnten, wohl aber die Aborigines in ihrer 50 000-jährigen Geschichte. Deswegen mußten ihre Lieder, die das physische Terrain mit Leben und Sinn erfüllten, die Basis einer Geschichte werden, in der Siedler und Aborigines eine gemeinsame, verbindende Literatur der Zukunft zu schaffen hatten. Tatsächlich ist T.G.H. Strehlows Material, das ja auch die Dreamings und damit die Rechtsansprüche der totemischen Clans genau lokalisiert, in den land claims, den juristischen Prozessen um das Recht von Aborigines am Grund und Boden, in den letzten 50 Jahren eminent wichtig geworden. Nicht so die Lieder. Wenn es überhaupt jemandem gelungen ist, eine moderne Literatur auf der Basis der Traumpfade zu schaffen, so ist es T.G.H. Strehlow selbst, und zwar mit seinem wunderbaren Buch Journey to Horshoe Bend von 1969, einem Klassiker der australischen Literatur.
Ich habe eine Nacht auf dem Flughafen von Port Darwin verbracht, die australische Landschaft aber nur aus dem Flugzeug gesehen. Was mich dazu bewegt hat, der Dichtung der Aborigines 1967 meine erste Veröffentlichung zu widmen und seither von Zeit zu Zeit neue Übersetzungen zu lesen, ist mir ein Mysterium. Ich kann nur sagen, weshalb sich das monatelange Exerzitium der Lektüre von Songs of central Australia für mich gelohnt hat. Der Gewinn an ethnographischem Wissen ist beträchtlich, hätte aber auch in einem längeren Aufsatz Platz gefunden. Nein, es war die Vergegenwärtigung eines vollständig unbekannten Kontinents, eine Präsenz, die sich Vers um Vers einstellt und mir den Horizont der Moderne eng erscheinen läßt, ineins mit der Schönheit und Intensität der Lieder.
Der Zugang zu diesen Liedern ist schwer, sogar sehr schwer. Dennoch steht für mich außer Frage, daß sie in den zukünftigen, universalen Kanon der Weltliteratur gehören. Nur ist das Medium der kommentierten Anthologie wenig geeignet, sie zur Geltung zu bringen. Das ist nicht nur Strehlows Versäumnis. Denn er hat die Orte und die Rituale, zu denen die Lieder gesungen wurden, photographiert und gefilmt, die Lieder mit Tonaufnahmen dokumentiert. Wenn man dieses Material zu Filmen montiert, in denen die Übersetzungen als Untertitel erscheinen, wäre der Zugang zu den Liedern als Komponenten einer performativen Kunst angemessener und leicht. Das aber wird in absehbarer Zeit kaum geschehen, denn die Aborigines haben nicht nur ihre land claims durchgesetzt, sondern auch das Recht auf ihr geistiges Eigentum. Strehlows Material wird im Strehlow Center in Alice Springs verwahrt und bewacht, zugänglich nur für die eingeweihten Männer der totemischen Clans. Insofern gehören die Lieder nicht zur Weltliteratur, sie sind vielmehr strikt lokal. Daß sie mit Mühe in einem gedruckten Buch – und sei’s in Wuppertal – zugänglich sind, war unvermeidbar. Doch zur Weltliteratur können – und sollen – sie erst werden, wenn ihre rechtmäßigen Eigentümer sie dazu freigeben.
Ich meine damit keineswegs die Aufwertung einer oralen, einfachen, gar primitiven Dichtung zur Weltliteratur, sondern die Erkenntnis, daß es sich beim Vortrag dieser Lieder um die performative Kunst einer Hochkultur handelt. Diese These ist für eine andere Region Australiens zuerst 1959 von W.E.H. Stanner in Durmugam: A Nangiomeri formuliert, aber wenig beachtet worden. Gemeint ist damit nicht etwa der archäologische Begriff, nach dem Hochkulturen durch Zentralinstanzen, Städte und Schrift gekennzeichnet sind, sondern der soziologische, der eine spezielle Kultur der wenigen meint, die ein lebenslanges Lernen absolvieren, durch das sie sich von der Basiskultur absetzen, ob es sich dabei um Eliten handelt oder nur um Initiierte, die wie bei den Aranda ein praktisch nicht verwertbares Wissen erwerben oder sich eine Kunst aneignen, die Natur und Mensch zu einem geheimnisvollen Gleichnis macht.