23/02/21

Medientheorie?

Er ist auch Steely-Dan-Fan? Zum erst Mal seit Anfang meines Studiums begann ich darüber nachzudenken, ob Erhard Schüttpelz nicht doch ganz in Ordnung ist, viel mehr noch, ob ich mich nicht die ganze Zeit über gründlich in ihm geirrt hatte. Es stellte sich nämlich an diesem Abend im Weidenauer „Gartenhaus“ heraus, dass er meine Lieblingsband, die ich Jahre, also wirklich viele Jahre derart intensiv und häufig gehört hatte, dass ich wirklich jede Ghost-Note auswendig mitzischen konnte, womöglich noch besser kannte als ich selbst.

Auf meiner Promotionsparty ein paar Jahre später verwickelte er dann auch meinen Bandkollegen und besten Kumpel Lennart, mit dem ich Steely Dan zu Schulzeiten entdeckt hatte, in ein Gespräch oder sagen wir besser: in ein Interview, bei dem Erhard irgendwann immer nur noch sagte: Frag mich noch was! Einen noch! Lennart musste dann einen Steely-Dan-Song nennen, von dem Erhard dann die unbekannte Bedeutung entschlüsseln durfte. Lennart, damals Aerodynamik-Doktorand an der RWTH, heute Vulkanausbruchforscher am Caltech, war komplett begeistert, was für ein „Irrer“ mein Doktorvater ist.

Dieses radikale Interesse für die Sache habe ich erst spät schätzen gelernt, denn als ich 2005 an die Universität Siegen kam, um Medienwissenschaft zu studieren, war der Studiengang in Aufruhr und Erhard war die Ursache dafür. Dieser Diplom-Studiengang mit Namen „Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung“ (M-PEB), der damals einiges auf sich hielt – erster und natürlich für immer bester deutschsprachiger Studiengang in Medienwissenschaft – hatte eine starke studentische Community, die sich allerdings von den anderen studentischen Communities der Uni Siegen unterschied. Während an dieser Universität mit Gesamthochschultradition eher eine egalitäre Kultur vorherrschte, verstand sich M-PEB als elitär: Hoher numerus clausus, eine große Gruppe von Absolvent:innen, die Karriere in der Medienbranche gemacht hatten und dann waren da noch diese zwei Sonderforschungsbereiche und das Institut für Medienforschung sowie eine teure Techikausstattung, auf die man sehr stolz war. Unsere Seminarräume waren die mit Beamer und dicken Lautsprechern, unsere Seminare die, die einem „Karrierewege“ eröffneten; mit Werbe- und Mediaagenturen, einem FAZ-Herausgeber, RTL- und ZDF-Redakteur:innen und so weiter.

Foto: Mechtild Paßmann

Allerdings wurden nun die Professuren für Medientheorie und Mediengeschichte neu besetzt und all unsere so hoch geschätzten Dozenten, die klügsten Männer weit und breit, waren nicht berücksichtigt worden. Die Rufe ergingen an eine Expertin für visuelle Anthropologie und einen anderen der – ja was war er? Ethnologe vielleicht? Zu unserer Karriere-Medienwissenschaft passten die beiden Ethnos so ganz und gar nicht. Die eine interressierte sich für Verbrecherfotografie, der andere für Geisterbeschwörung und Hexerei; die Kommissionen, die uns diese beiden neuen eingebrockt hatten, mussten verrückt sein, und sie wären sicher das Ende der Medienwissenschaft wie wir Studis sie uns gewünscht hatten – das gleich zu Anfang des Studiums.

Wir hatten damals einen studentischen Vertreter, der auch Tutor war und „schwarze Listen“ führte, auf denen Studis standen, die zu unzuverlässig waren. Dieser junge Mann hatte wirklich alles gegeben, um Erhards Berufung zu verhindern. Er war auch Hilfskraft bei einem weißbärtigen Privatdozenten, der sich ebenfalls auf diese (oder beide?) Professur(en) beworben hatte. Das Vorsingen musste seinetwegen in einen großen Hörsaal verlegt werden, weil die Siegener Studis so heiß darauf waren, dass dieser schlauste aller Denker unsere Medienwissenschaft beschützte; doch es kam, wie es kommen musste, der weißbärtige Zauberer wurde von einem Hexenmeister besiegt, und der sollte nun die Zukunft der Medienwissenschaft sein. Ersterer stellte dann auch für sein SFB-Teilprojekt eine ganze Gruppe neuer Hilfskräfte ein unter denen auch ich war. Wir liefen mit ihm über die Flure, wurden von den anderen Studis beobachtet und „Dumbledores Army“ genannt (und ich war natürlich Harry Potter).

Ich besuchte die Lehrveranstaltungen der Neuen, und einige Themen waren auch ganz interessant, wie die Sache mit der „Pfadabhängigkeit“ technologischer Entwicklung, die man bei Schüttpelz lernte, aber das blieb immer bei den Fällen, die auch irgendwie Einzelfälle sein konnten. Ich hatte kurz vorher bei Kittler die Formulierung der „bloßen Mediengeschichte“ gelesen, der man als Medientheoretiker nicht verfallen dürfe, damit mussten Typen wie Schüttpelz gemeint sein, denn ständig verbohrte er sich in Fälle wie den der MP3, die mir als Zweit- und Drittsemester wie interessante Trivia erschienen waren, aber eben nicht als Medientheorie, doch historisch waren sie interessant, und so ging ich nach der Veranstaltung zu ihm, so wie ich fast immer nach der Veranstaltung zu den Lehrenden ging, die ich irgendwie doch interessant fand, und sagte ihm, halb mit der Absicht die Detailtreue zu würdigen und halb um ihn zu kränken, das sei alles sehr interessante Mediengeschichte, aber er habe doch nun die Professur für Medientheorie.

Ich erinnere mich nicht an seine Reaktion, nur daran, dass wir sein Verhalten stets als smarten Schachzug interpretierten. Auf den Siegener WG-Parties unterhielten wir uns manchmal ganz zum Schluss im letzten verbliebenen Grüppchen über unsere Professor:innen, vor allem auch, weil Schüttpelz mittlerweile seine eigene Truppe aufzubauen schien, unter anderem mit Nadine Taha und Frederic Ponten, die mir zugegebenermaßen doch klüger erschienen als die Karriere-Großmäuler aus meiner Army. Worauf wir uns dann am Ende bei allem Dissens darüber, was Medientheorie sei, einigen konnten, war, dass Schüttpelz halt ein gerissener Hund ist, der, egal was passiert, immer alle angrinst, und zwar durchaus freundlich. So schaffe er es auch, immer mehr seiner Leute in die Medienwissenschaft zu schleusen.

Deren Veranstaltungen mied ich den größten Teil meines Studiums. Meinen Stundenplan baute ich so zurecht, dass ich so viele Veranstaltungen wie möglich bei meinem Arbeitgeber und den radikalen Konstruktivisten aus dem Institut für Medienforschung absolvieren konnte. Es gab dort einen evolutionsbiologisch inspirierten Kultursoziologen, über den man sagte, er habe Niklas Luhmann auf die Idee der Autopoiesis gebracht wofür der ihn aber nie zitiert habe, und als Luhmann gestorben sei, hätten alle erzählt, er sei nach Bielefeld gefahren und habe ihn abgeknallt. Während mein weißbärtiger Vorgesetzter den ganzen Schüttpelz-Kosmos für kompletten Unfug hielt („Ethnologie und Enid Blyton – wo ist der Unterschied?“) hatte der Kultursoziologe dafür letztlich doch einiges übrig, sagte dann aber so etwas wie: „Wenn man mit der Ethnografie fertig ist, muss halt die organisierte Forschung losgehen“ (manche behaupten, er habe gesagt: „…muss halt die richtige Forschung losgehen“, aber das erinnere ich nicht).

Bis kurz vor meinem Diplom kam ich also ganz gut ohne die Schüttpelz-Posse aus. In unserem SFB-Projekt rissen wir ständig Witze über sie, wie sie alle auf einmal „aber der Erhard“ sagten, „aber der Erhard meint“, „wie der Erhard sagt“ und so weiter, und am lustigsten fanden wir, wie sie auch seine Körpersprache annahmen. Manche Gesten konnte man im Sommersemester bei Erhard beobachten und dann im Wintersemester verfolgen, wie sie sich langsam ausbreiteten.

Eine dieser Gesten war etwa der „Enthüllungsrührer“. Wenn ein gestandener Medientheoretiker aus, sagen wir Berlin, Bochum oder Weimar einen Vortrag hielt, zeigte Erhard danach auf, räusperte sich ostentativ lang, grinste halb zugewandt, halb trollig, rückte die Brille mit vier Fingern gleichzeitig zurecht und sagte dann zu einem Vortrag über Mobiltelefonie oder Kinogeschichte so etwas wie „[räusper] [räusper] ähm, ist es nicht vielmehr… genau… ANDERSRUM?“, dann folgte einer Erklärung wie: „wenn man sich die Geschichte der Hexerei anschaut, und das alles so durchgeht, eins nach dem anderen, ist ja ganz klar, dass…“ – und dann kam die Pointe, mit der er den Vortrag auf den Kopf zu stellen meinte.

Während dieser Evidenzsignalverben wie „anschaut“, „durchgeht“, „minutiös aufreiht“ und so weiter, winkelte er sein Handgelenk um etwa 60° an, legte den Daumen mit dem Nagel nach oben ans Zeigefingergelenk und begann zu rühren, fast so, als ob er zwischen Daumen und Zeigefinger einen ganz kleinen Kochlöffel oder Schneebesen hielt, den er gerade aus dem Kessel gehoben hatte, um damit durch die Luft zu rühren. Jedenfalls war das das Zeichen, dass er nun alle geflasht zu haben glaubte, und in den Gesichtern seiner Posse schien dann ein Grinsen auf, als wollten sie wieder sagen „der Erhard“. Der Enthüllungsrührer verbreitete sich in dieser Gruppe und wir hatten wieder Spaß in den Backen.

Bald wurde dieser Sonderforschungsbereich dann allerdings begangen. Mir hatte schon vorher einer der schlimmsten Schüttpelz-Freunde eine SHK-Stelle in seinem Projekt angeboten – ein Juniorprofessor, genau genommen war es der, über den man sagte, er habe ihn damals berufen und meinen Chef in der Kommission abgesägt. Letzterer erhöhte als Reaktion meine Stundenzahl auf das Maximum „damit da Ruhe ist“; die Ruhe hielt aber nicht lang, denn wirklich abgesägt wurde am Ende der gesamte SFB. Unser Projekt kam dabei gar nicht gut weg und mein Chef noch weniger gut (ich verzichte auf Details).

Ganz anders bei „dem Erhard“ & Friends: Unter den wenigen „exzellenten“ Projekten waren das des Juniorprofessors und Erhards und so musste ich aus Mangel an Alternativen auf das Angebot zurückkommen und fragen, ob nicht doch ein paar Hilfskraftstunden für mich drin seien. Inhaltlich blieb ich allerdings weiter auf Abstand, schrieb eine Diplomarbeit über einen „Begriff bei“ drei großen Theoretikern und begann eine medientheoretische Dissertation. Bald hatte die Schüttpelz-Crew dann aber ein Graduiertenkolleg und von Dumbledores Zauberlehrlingen war nicht mehr viel übrig. In diesem Kolleg waren zwei Sechsmonatsstipendien frei, eines davon blieb für mich übrig. Weil das Stipendium immer wieder verlängert werden musste, hatte ich kaum eine andere Wahl, als den Ethnos immer wieder neue Angebote zu machen und mich immer mehr auf sie einzulassen. Das alles fühlte sich wie Verrat an, wie ein Ausverkauf meiner Ideale für 1103€ im Monat.

Dann allerdings, an einem Abend im Weidenauer „Gartenhaus“ hörte ich, wie Erhard über Steely Dan sprach. Zum ersten Mal nahm ich wirklich ernst, was er sagte, begann danach seine Texte zu lesen und die, für die er sich interessierte. Ich weiß nicht mehr, was in welcher Reihenfolge geschah, jedenfalls schrieben wir Mails über Songtexte, kamen ins Gespräch über meine Dissertation und vor allem über mein damaliges Hobby, das noch nicht sehr verbreitete „Twittern“, über das Erhard alles wissen wollte. Dieses analytische Interesse für die Praktiken überzeugte mich, mein Thema zu ändern und auf eine Twitter-Ethnografie umzuschwenken. Wir bauten meine Arbeit um zu etwas ganz anderem; etwas, das vielleicht mehr Enid Blyton ist als das, worüber sich die klugen Männer zu Beginn meines Studiums belustigt hatten. Angeblich habe ich eine zeitlang sogar meine Brille mit vier Fingern zurechtgerückt und mich ostentativ geräuspert, bevor ich was Schlaues zu sagen dachte.

Aber ob das alles, was er nach Siegen und in die Medienwissenschaft gebracht hat, nun „Medientheorie“ ist? Ich habe ihn darauf Jahre später einmal angesprochen, weil ich einen Bachelor-Kurs in Medientheorie geben musste und mich mit ihm darüber absprechen wollte, welche Inhalte in diesem Modul in jedem Fall nötig seien. Er sagte nur: „Haha, Bachelor, ja Medientheorie, das ist was für Bachelor.“