Die Sprechstunde
In den letzten Jahren habe ich Fritz immer dann besucht, wenn ich in Berlin war. Mein Bruder wohnt ein paar Strassen weiter, und es war nur ein kurzer Weg bis zu seiner Klingel, einmal geradeaus von der Konstanzer Strasse bis zur Sächsischen, immer in banger Erwartung, ob er da sein würde und wann die Pforte meinen summenden Kopf durch ein beruhigendes Gegensummen erwiderte. So auch diesmal, und dafür gleich an zwei Tagen hintereinander. Am Samstag begrüsste er mich nach einigen hoffnungslosen Extrasekunden frisch im Morgenmantel mit dem Satz: „Ach, Du bist das, Erhard! Das macht sonst niemand, hier vorbeizukommen ohne sich vorher zu melden.“ Wir einigten uns, dass es dann ja ganz leicht wäre mich zu erkennen und ich daher doch angemeldet sei, und schon befanden wir uns in einer Fortsetzung der Gesprächsthemen, die so alt waren wie unsere Bekanntschaft und unser freundschaftlicher Austausch der wertvollsten Rohstoffe, die wir zu verschenken haben: die Unterscheidung des Echten vom Unechten, die Markierung dessen, was sich zu wissen lohnt, erleichtert durch klassische Textstellen und die richtigen Literaturangaben. Wir stritten uns über Schamanismus: Gab es ihn auch in höfischen Kulturen, und wie erklärt man überhaupt seine erratische Verteilung in Eurasien? Ich hatte wieder einmal eine radikale Position und empfahl ihm eine geologische Abbildung am Ende der Mythologica zum Vergleich. Er holte sich das Buch und legte es aufgeklappt auf den Tisch, um sich die Sache bis morgen zu überlegen. Ich war erleichtert, daß es ihm gut ging und wir uns wie zuvor spekulativ und desillusionierend durch die ganze Welt bewegten, ein wenig klapprig geworden und nicht nur er, aber in gewissem Sinne so alterslos wie die Freude auf einen schönen Tag an der frischen Luft. Vielleicht erschien es mir so, weil wir uns schon in einem beiderseitigen „mittleren Alter“ kennengelernt hatten, an einem besonders schönen Morgen im Januar 1996 in Hamburg an der HfBK, und zwar in seiner regulären Sprechstunde, nachdem ich mir zuerst seine Vorlesung über chinesische Landschaftsmalerei angehört hatte und anschliessend bei klirrender Kälte auf dem gleissenden Eis des Kuhmühlenteichs hin- und hergestapft war, im hellsten Sonnenschein und mit immer längeren Schattenspielen. Mein Name sagte ihm nichts, aber seine Augen leuchteten auf, als ich Thomas Hauschild erwähnte, der mir zwischen den Jahren erzählt hatte, Fritz Kramer sei an der HfBK gelandet, an einem Ort, der mir nach vielen Jahren in der Kölner Kunstszene durch verschiedene Besuche „bei der Büttnerklasse“ und „im Heubachseminar“ schon vertraut war, vermutlich sogar etwas vertrauter als ihm, denn damals musste ich mich mit Händen und Füssen dagegen wehren, mit den Künstlern in einem Übermass von Feiern und Kunstaktionen zu versacken, und den Einladungen zu widerstehen, die mich endgültig aus meiner nur noch auf dem Papier existierenden Universitätslaufbahn hinauskatapultiert hätten. Fritz hingegen, das spürte ich bei seiner Vorlesung, fremdelte an dieser Institution. Er war eben eher ein Denker als ein Künstler, und weniger ein Reisender als ein Papst. Aber ich glaube, seine Abwehr reichte noch tiefer; sie sträubte sich edagegen, daß eine gekonnte Oberflächlichkeit mehr wert sein sollte als gründliches Nachdenken, und dass die Arbeit an persönlichen Visionen und Obsessionen sich in Form von Mode-Accessoires und Allotria verkleiden musste, um nicht instantan ausgemustert zu werden. Vielleicht war es sogar der alte Sozialist, der eine Kunst ablehnte, die mehr und mehr zum Spielzeug des Finanzkapitals wurde – aber das ist pure Vermutung, denn so hat er nie mit mir gesprochen. Mehr als einmal erschien er mit der Lampe in der Hand bei hellem Tageslicht, um an der HfBK einen Künstler und seine Personalunion mit einem Menschen zu suchen; und am meisten hatten die Künstler von ihm, wenn er nicht über Kunst sprach, sondern etwa über die Gemeinsamkeit von Fluchteuphorie und Urlaubsgefühlen, von Kriegstraumatisierungen und Maskenwesen, oder über die mimetisch-taktile Aneignung der vier Elemente am Strand (Sonne, Sand, Luft, Wasser). Ich konnte seine Vorbehalte gegen die Welt, in die es ihn und mich verschlagen hatte, gut verstehen, und daher spielte sie in unseren späteren Gesprächen so gut wie keine Rolle, und auch in diesem Erstgespräch nicht. Nachdem wir über unseren gemeinsamen Bekannnten Thomas gesprochen hatten, stockte das Gespräch und ebenso unverblümt wie unvermittelt kam die Frage: „Und was wollen Sie von mir?“ Darauf war ich vorbereitet. Ich befand mich „zwischen Diss. und Habil.“ und wollte wissen, welchen Weg ich einschlagen sollte. Ich hatte mich jahrelang auf eine Arbeit zur Geschichte der Rhetorik in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts vorbereitet. Meine Dissertation zur Sprachtheorie der rhetorischen Figuren hatte mich zwischenzeitlich in ein Gebirge verschlagen, das irgendwo zwischen Linguistik (S), Literaturtheorie (O), Sprachphilosophie (N) und Poststrukturalismus (W) lag, in einem Niemandsland, wo einige Hirten mit ihren Herden kurz zum Grasen vorbei kamen, aber nur, um sich anschliessend in alle vier Himmelsrichtungen zu zerstreuen und sich (und erst recht mich) den Rest des Jahres gründlich zu ignorieren. Ich musste noch einmal ganz von vorne anfangen und die Person, die sich im Gebirge verstiegen hatte, ihrem Schicksal überlassen. Nach der Promotion war ich nach N.Y. gegangen, an die Columbia University, und das erste Buch, das ich im Laufe der in N.Y. unvermeidlichen Infektionen und Fieberträume las, war Shamanism, Colonialism and the Wild Manvon Michael Taussig. Ich hatte den Autor kennengelernt, war bei ihm in Seminaren und Vorlesungen und auf Parties, und auf diesem Wege kam mir Der Rote Fes in den Sinn, den ich in der englischen Übersetzung als The Red Fez wieder und wieder studierte, bis ich auch den verwickelten Anfang des Buches besser verstanden hatte. Danach gründete ich eine Lesegruppe, mit der ich Marcel Mauss, Le Don, Wort für Wort übersetzte, bis aus dem Urwald ein Garten geworden war und aus dem Garten ein neuer terminologischer Urwald entstand; und versenkte mich zum Ausgleich Bild für Bild in Les Maîtres Fous, den Film von Jean Rouch, der Verkehrte Welten mit dem roten Fes verband. Jetzt war ich nach gründlicher Kramerlektüre in seiner Sprechstunde gelandet, und meine Frage war:
„Sie haben doch diesen Aufsatz über passiones geschrieben…. und Sie gehen da auch auf Lévy-Bruhl ein…. die Fremderfahrung und ihre Umkehrung oder ihre Begegnung mit einer fremden Fremderfahrung… wenn man das so nennen kann…“
„Ja, das waren damals meine Forschungsinteressen, jetzt habe ich anderes vor. Ich möchte gerne drei Bücher zur Ästhetik schreiben, eines zur Landschaftsästhetik als erstes.“
So ungefähr wird sich der Dialog abgespielt haben, mit diesen Worten und daher garantiert nicht mit genau diesen Worten. Es kann auch gut sein, daß er damals nur von einem Landschaftsästhetik-Buch sprach, das so gut wie fertig sei; und daß es später einmal zwischenzeitlich drei wurden: Landschaften, Bilder, die Künste im Vergleich.
„Wenn ich noch einmal nachfragen darf…die passiones sind ‚Bilder von passiones‚. Was für Bilder sind das, und warum bezieht sich das auf Lévy-Bruhl?“
Er wurde langsam unwirsch, und ich hatte das deutliche Gefühl, die Sprechstunde sei gleich zu Ende und würde mit einer Enttäuschung enden.
„Wissen Sie, das war damals schon schwierig genug, diesen Aufsatz unterzubringen bei René König. König fühlte sich seit seiner Jugend für Durkheim und Lévy-Bruhl und damit auch für die Ethnologie zuständig. Deshalb hatte er uns für diese Ausgabe seiner Zeitschrift eingeladen, den Oppitz, Hans-Peter Duerr und mich. Aber es war eine Soziologie-Zeitschrift – und dann noch mit dieser fatalen Abkürzung! – und so kam es, daß ich gar nicht das geschrieben habe, was ich eigentlich schreiben wollte. Eigentlich wollte ich das genauer charakterisieren, was Lévy-Bruhl an den Wllden so faszinierte, eine gewisse metaphysische Unerschrockenheit….. ihn faszinierte an den Wilden das, was man Chuzpe nennt. Wissen Sie, was Chuzpe ist?“
– „Nein. Ist es so etwas wie …“ Ich zögerte, musste den Satz aber auch nicht beenden.
„Ein jüdischer Freund von mir, der genug Chuzpe oder mehr als genug davon hatte, hat mir das mal so erklärt: Wenn Du bei einem Nachbarn durchs Schlüsselloch pinkelst, ist das nur Frechheit. Wenn Du stattdessen klingelst und fragst, wie weit Du gekommen bist, dann ist das Chuzpe.“
In diesem Moment war mein Schicksal besiegelt. Die Reise hatte sich gelohnt. Wieder einmal würde ich den Weg wählen, der ins Abseits führte. Ich würde den ethnologischen passiones folgen, „no matter how hopeless, no matter how far“. Die Sprechstunde war beendet. Wir machten uns beide auf den Weg. Fritz Kramer schloss die Tür seines Büros ab und wirkte auf einmal heiter und gelöst. Und so erschien er mir auch bei unserem letzten Treffen: als hätte sich nichts verändert, oder als hätte sich genau das nicht verändert. Diesmal war er nicht im Morgenmantel, sondern angezogen und rasiert, mit Tee und Gebäck auf dem Tisch. Gestern hatten wir uns gestritten, heute liess es Fritz gar nicht erst dazu kommen. Wir sprachen über japanische und chinesische Romane, die Anthropologie der Kooperation, über die Alte und die Neue Welt, und gemeinsame Bekannte. Er betonte, daß er zwar nicht mehr an etwas Grösserem arbeite, aber noch bei drei Dingen Hilfestellung leistete: einer neuen deutschen Übersetzung von Malinowskis Diary in the strict sense of the term , diesmal allerdings aus dem Polnischen und unter Berücksichtigung der Sprachmischung; bei einer fortlaufenden Edition der Briefe von Jacob Taubes, bei der Personenidentifizierung und einigen obskuren Tatbeständen der 70er Jahre, in denen Taubes sein Nachbar war (im Bücherregal standen mehrere Bände der neuen Henrich-Ausgabe, die er mit Freude studierte); und schließlich ein Problemfall, nämlich den Nachlass von Leni Riefenstahl betreffend, aus dem eine Nuba-Foto-Ausstellung vorbereitet würde, und das sei natürlich ein Riesenproblem für die vorgesehene Kuratorin, weil es einerseits die Nuba gäbe, und die fänden die Bilder nicht alle gut, aber einige davon ganz grossartig, und andererseits bleibe Riefenstahl ganz sicher alles das: NS, Rassistin, und mit ihren Tele-Objektiv-Aufnahmen Ethologin und nicht Ethnologin. Er holte ein Buch von Nuba-Exilianten, das im Eigenverlag in England erschienen war und auf dem Cover das Foto der zwei Ringer zeigte, das für Riefenstahl der Auslöser gewesen war, die Nubaberge aufzusuchen. Was sollte man jetzt mit den Riefenstahl-Bildern machen? Wir gerieten in eine Flachserei: zweimal die selbe Ausstellung in Berlin, an zwei verschiedenen Orten, aber exakt die selben Bilder und derselbe Aufbau, einmal mit Bildunterschriften zu Riefenstahl und ihrem Exotismus, und am anderen Ort zu den Nuba und möglichst auch von den Nuba kommentiert. Bildertest, Ethnologietext, „I’ll teach you differences.“ Vielleicht wären auch nur die Eingangsräume gleich, und danach käme die Divergenz. Aber solche Ausstellungen finden schon lange nicht mehr statt, man wäre ja gleich zweimal im falschen Film. Zwischenzeitlich schaute er auf charakteristische Weise in die Ferne und dachte nach. Als ich mich von Fritz verabschiedete, merkte ich, wie milde er gestimmt war, obwohl auch diesmal so apodiktische Sätze den Raum durchquert hatten wie: „Die Ethnologie existiert nicht mehr.“ und: „Eine Kramerschule hat es nie gegeben.“ Aber diesmal sagte er zum Abschied etwas, was er noch nie gesagt hatte und was ich weder seiner Altersmilde noch seinem hochentwickelten Sinn für Ironie zuschreiben will. Er sagte: „Danke, Erhard, ich habe wieder viel gelernt.“ Draussen wartete ein Taxi auf mich, genau wie am Vortag, und im letzten Moment merkte ich an seiner Körperhaltung, dass er nicht umarmt werden wollte, und tatsächlich schien er mir in diesem Augenblick zu fragil für eine Umarmung. Ich gab ihm daher auch nicht die Hand, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Bis zum nächsten Mal, Erhard. Er war der einzige, mit dem man über alle Menschen auf der Welt in allen ihren Belangen reden konnte, und wenn er diese Belange besprach, hatte das immer Hand und Fuß, Sinn und Verstand. Sein Grundgestus war ernüchternd, aber durch die Desillusionierung waren ihm menschliche Illusionen und ihre Gebrechlichkeiten geläufig geworden und bildeten ein undurchdringliches Muster, dem seine Neugier auf weitere Details nicht widerstehen konnte. Durch das Vorbild seiner Klarheit und die Prägnanz seines Wissens hat er vielen, ja ich glaube sehr vielen Leuten nicht nur geholfen, sondern auch Glück gebracht. Ich zähle mich dazu. Danke, Fritz.
(Berlin am 6.1. 2023 / Köln, eine Woche später.)
Dieser Text erscheint gleichzeitig in Paideuma 69 (2023).