23/02/21

Das Universum des Grindcore

Wenn ich an Erhard Schüttpelz denke, habe ich in erster Linie sein extrem schnelles Denken vor Augen und Ohren. Mit einer gewissen Kompromisslosigkeit wendet er sich den vermeintlich abseitigen Kulturformen unserer global vernetzten Welt zu, – um das Universelle darin freizulegen. Schnell, kompromisslos und abseitig ist auch ein globales musikalisches Genre, welches nicht nur die Klangästhetik auf drastische Weise an ihre Grenzen führt. „Grindcore“ ist eine seit Ende der 1980er Jahre präsente Gewaltform, zumeist praktiziert mit E-Bass, E-Gitarre, einem Schlagzeug, das seinem Namen alle Ehre macht und merkwürdig gegrunzten bzw. gekreischten Vokalen, die sehr entfernt an Gesang erinnern. Auch meine Wenigkeit weiß und wusste die mit diesen Klängen verbundenen Sozialitäten und Sentimentalitäten zu genießen und möchte nach einem kurzen historiografischen Abriss drei Formen des Grindcore an den Jubilar übergeben.

Mit der Geschichte des Grindcore ist es wie mit dem Punk. Es gab zwar im Verlaufe der 1970er Jahre die ersten wesentlichen Punk-Bands in den Vereinigten Staaten, eine echte „Szene“ vernetzter Konzertveranstalter, Labels und Bands findet sich dagegen eher wenig später in England. Entsprechend funktioniert die metallische Abart des Hardcore-Punk als Grindcore in der ersten Hälfte der 80er Jahre mit amerikanischen Bands: SIEGE aus Massachusetts nahmen sich bereits seit ihrer Gründung 1981 vor, die schnellste Band der Welt zu werden, während es den US-Kollegen von REPULSION gelang, heutzutage als die erste „echte“ Grindcoreband apostrophiert zu werden. Beide Bands veröffentlichten in dieser Phase Demoaufnahmen auf Cassette, die im Falle von REPULSION daraus erwachsene LP namens „Horrified“ erschien 1989. Zu dieser Zeit war in England plus Festland-Europa die Kunst des ultraschnell gespielten und gelebten Hardcore-Punk bereits weit verbreitet und ausdifferenziert. „Earache“, „Peaceville“ oder „Manic Ears“ hießen die prägenden Labels in England, die Vernetzung um bestimmte Punk-Clubs wurde durch Tape-Trading und Briefkontakte schnell überregional und international. Prägend war das antikapitalistische „Do-it-yourself“-Prinzip in Produktion und Distribution. Die Grindcore-Historiografie benennt die Anfang 1987 aufgenommene erste Seite der LP „Scum“ von NAPALM DEATH aus Birmingham quasi als Gründungsdokument dieser Szene, ebenso ließen sich aber auch die englischen HERESY und SORE THROAT sowie LÄRM (aus denen später die wegweisenden SEEIN RED hervorgingen) aus den Niederlanden als Vertreter einer weitverzweigten Szene bezeichnen, die das alte Schock-Moment des Punk mit der Tugend der Geschwindigkeit erneuern wollte. Auch die zeitgemäßen Metal-Formen hatten sich z.B. mit SLAYER und METALLICA bereits einer enormen Intensität befleißigt. In diesem Zusammentreffen von Hardcore-Punk und Thrash-/Speed-Metal entstand eine breite Bewegung, die sich um 1990 immer mehr als Grindcore ausbuchstabierte und zu einer Art Zwillingsgeburt mit dem Deathmetal avancierte. Der Metal hatte die breitere Fanbasis als der Punk und arbeitete in  kommerzielleren Strukturen, so wurden denn aus den politisch engagierten Punkbands NAPALM DEATH oder auch den wegweisenden EXTREME NOISE TERROR um 1990 Metalbands, die Punks warfen ihnen nicht ganz unberechtigt „Ausverkauf“ vor. So hörte ich selbst auch auf, die vermeintlich kommerzielleren Grindcore- oder DeathMetal-Bands zu hören und bekam die geradezu ulkigen Ausdifferenzierungen dieser Szene gar nicht mehr so genau mit. Im Verlaufe der 1990er Jahre gründeten sich weltweit eine Vielzahl von Abarten dieses extrem schnell gespielten Metal-Hardcore-Stils. Beispielsweise wurden die englischen CARCASS zu Gründungsvätern des GoreGrind, ästhetisch setzte man hier auf derb gegrunzte Vocals und Leichenteile auf dem Cover. Musikalisch differenzierte sich auch aufgrund immer besserer Aufnahmestudiotechnik ein brachiales Universum derber Sounds heraus, welches einerseits Richtung Jazz tendieren konnte, andererseits in vielfältigen Überschneidungen zwischen Grindcore und Deathmetal nicht geringe Zahlen von Hörer*innen weltweit fanden. Während eine Band wie CANNIBAL CORPSE oder NAPALM DEATH mit extremem Metal auch kommerziell sehr erfolgreich werden konnte, hörten diejenigen, die das (politische) Punk-Element in alldem vermissten, weiterhin ‚kleine’ Bands, die musikalisch jedoch ebenso brutal zu Werke gingen wie die Metal-Protagonisten. Die Geschwindigkeitshelden des DIY-Punk hießen beispielsweise DROPDEAD oder ASSÜCK (beide USA). Aus meiner damaligen Wahrnehmung wurde Geschwindigkeit zu Beginn der 1990er Jahre zu einem ‚normalen’ Standard des Hardcore-Punk. Man gewöhnte sich schlicht daran, dass gewisse Bands so schnell spielten, dass sie meist nur Auftritte von ca. 20 Minuten schafften, weil der Schlagzeuger einfach nicht mehr konnte. Die großen Grindcore-Schlagzeuger im Metal trainierten wahrscheinlich extra in der Muckibude, um ein normal langes Set durchzuhalten. Letztlich bleibt eine bis heute aktive Szene mit Zentren in Europa, USA und Südostasien, die skurrile Rekorde wie die kürzeste jemals erschienene Schallplatte (Napalm Death/Electro Hippies-Split EP von 1989 auf „Earache“) hervorgebracht hat. Bemerkenswert ebenso Bands, die eher eine Art Gesamtkunstwerk darstellen wie die sich selbst als „animalgrind“ bezeichnende Hamburger Band ATTACK OF THE MAD AXEMEN, deren Texte sich mit Ökologie und Tierrechten beschäftigen. Sie treten live in Tierkostümen auf, der Schlagzeuger als Schnecke.

Grindcore als globales Kulturphänomen ist bis heute wenig bekannt, obwohl es nachhaltig ästhetische und aisthetische Grenzbereiche erkundet und in seiner kommerziellen wie subkulturellen Standardisierung universell funktioniert.

 

Lesespaß:

Kevin C. Dunn: Global Punk. Resistance and Rebellion in Everyday Life. New York 2016.

Ian Glasper: Trapped in a Scene – UK Hardcore 1985–1989. London 2009.

Rosemary Overell: Affective Intensities in Extreme Music Scenes: Cases from Australia and Japan. Basingstoke 2014.

Andreas Salmhofer: Grindcore – eine „extreme“ Mutation des Heavy Metals? In: Rolf F. Nohr, Herbert Schwaab (Hrsg.): Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt. Münster 2011, 207-224.

 

Lieber Erhard, alles Tolle, Schöne und Gute zum Geburtstag! Nun die eigentlichen Geschenke:

  1. Es beginnt musikalisch ganz harmlos mit einem Song der von mir überaus geschätzten seit 1984 aktiven englischen Band DEVIATED INSTINCT, deren Debutalbum von 1988 den schönen Titel „Rock’n’Roll Conformity“ trägt. Ausgesucht habe ich den poetischen Song „Through the Looking Glass“, der recht verträglichen mid-tempo Metalpunk spielt und nur im Mittelteil die Grindcoregeschwindigkeit andeutet. DEVIATED INSTINCT würden sich gegen die Bezeichnung Grindcore wehren (sie nennen es „Stenchcore“), aber dieses Album hatte einige Grindcore-Elemente, danach wechselten sie in einen sehr langsamen Stil: https://www.youtube.com/watch?v=LHqEO-ESOwU
  2. Eine gänzlich andere Szene zeigt dieses recht aktuelle Video aus Kuala Lumpur/Malaysia. Die Geschwindigkeit und Intensität ähnelt dem Grindcore und wird von der amerikanischen Band INFEST gespielt, die seit 1986 in gewissen Abständen bis heute aktiv ist. Ihr Genre trägt die ziemlich bescheuerte Bezeichnung „Power Violence“ und bringt die malayische Jugend auf sehr erheiternde Weise in Bewegung. https://www.bilibili.com/video/BV1HJ411s7XK?from=search&seid=1581612431017643660
  3. Da schließlich der selbstgebackene Geburtstagskuchen auch immer am besten schmeckt, hier zum Schluss noch ein von mir selbst mitverbrochenes Stück Grindcore. Eine 2004 aufgelöste Hardcoreband aus Mülheim/Ruhr covert die englische Grindcore-Legende HERESY, wir hören das Stück „Genocide“ – nach diesem Song benannten sich ganze Bands.

Herzliche Grüße
Gregor