Alles, was Recht ist
Anmerkungen zur Debatte um Provenienz und Rückgabe aus der Perspektive der Sozial- und Kulturanthropologie
In der Debatte um kolonialen Provenienzen und die Restitution von Objekten aus ehemals kolonisierten Ländern in deutschen Museen ist immer ein Elefant im Raum. Der Elefant ist das Recht – die Frage, wann es sich z.B. um einen „Unrechtskontext“ handelt, wann dieser justiziabel ist oder sein sollte und wann ein Museumsobjekt folglich zurückgegeben werden muss. Vielerorts wird das Fehlen rechtlicher Instrumente beklagt, um Rückgaben auf juristisch soliden Boden zu stellen. Die einen vollziehen deshalb juristische Winkelzüge, die anderen lassen politische Gremien entscheiden, wieder andere plädieren für eine „Washingtoner Erklärung“ für die Kolonialzeit oder wollen durch „Third World Approaches to International Law“ eine Veränderung der gängigen Rechtspraxis erreichen. Viel geschrieben wird deshalb über koloniale Rechtsordnungen, über die Entwicklung des Völkerrechts, hard law und soft law, über deutsches öffentliches und privates Recht, früher und heute.[1]
Aus dem Blickwinkel der Sozial- und Kulturanthropologie jedoch fällt eine ganz andere Leerstelle in der Debatte auf: Kaum jemand fragt danach – geschweige denn untersucht genauer – welche Rechtsvorstellungen und welches Rechtsempfinden beispielsweise 1884, 1904 oder 1915 in den vom Deutschen Reich kolonisierten Gesellschaften geherrscht haben?[2] Vor dem Hintergrund welcher Normen und Rechtssysteme schenkten, tauschten, handelten oder überließen etwa afrikanische Akteure Dinge des Alltags oder des Kultus an Europäer? Vor dem Hintergrund welchen Rechts- und Gerechtigkeitsempfindens sahen Einheimische Dinge als gestohlen, erpresst oder geraubt an, wünschten und forderten sie zurück oder gaben sie für verloren? Welche Art von Reziprozität, Wiedergutmachung und auch Bestrafung, etwa für das Wegnehmen von Dingen, hielten sie für angemessen?
Aufgeworfen worden sind solche Fragen bisher fast nur für den historischen Kontext der kolonialen Landnahme. So ist etwa über ‚traditionelles’ Landrecht im 19. Jahrhundert gearbeitet worden und über Überrumpelung, Nötigung und Betrug bei Landkäufen. Bekannt ist der „Meilenschwindel“ des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz beim Vertragsabschluss mit Nama-Kaptein Joseph Fredericks: Während Fredericks bei der Bemessung des Landes von einer englischen Meile ausging, ging Lüderitz von einer viel größeren deutschen Meile aus. Dabei verfolgten lokale Akteure in Vertragsverhandlungen mit Vertretern des Deutschen Reiches natürlich auch ihre eigenen politischen Interessen. Und sie leisteten Widerstand gegen Enteignung und Vertreibung, wie das Beispiel des Duala-Königs Rudolf Duala Manga Bell in Kamerun zeigt, der Petitionen an den Deutschen Reichstag schrieb, um sich zur Wehr zu setzen.[3]
Aber wie sah es bei den „Mobilien“ aus? Afrikanische Völkerrechtler wie Emmanuel Bello, Yolande Diallo und Adamou Ndam Njoya haben über die Frage gearbeitet, wie mit dem Besitz des Gegners in kriegerischen Auseinandersetzungen im prä- und frühkolonialen Afrika verfahren wurde.[4] Der im Mai diesen Jahres publizierte Leitfaden-Entwurf des Deutschen Museumsbundes führt eine 1907 vom Deutschen Reichstag in Auftrag gegebene Erhebung über das einheimische Recht in den deutschen Kolonien an, in der lokale Eigentumsvorstellungen behandelt werden.[5] Die Autor_innen der entsprechenden Passage im Leitfaden folgern, „dass in der Regel davon ausgegangen werden kann, dass Europäer sehr wohl wussten, wenn sie unberechtigt beispielsweise unverkäufliche heilige Objekte von Einheimischen ‚erwarben’.“[6]
Aus dem Kontext der Entwendung menschlicher Überreste wissen wir sehr gut, dass die Kolonisierten immer wieder, und teils äußerst vehement, Einspruch gegen Diebstahl und Entwendung einlegten. Wiederum ein Beispiel aus dem damaligen „Deutsch-Südwestafrika“: Die Tochter von Jacobus Hendrick, dessen Skelett der deutsche Forschungsreisende Waldemar Belck 1884 aus einem Grab am unteren Kuiseb raubte, stellte Belck in der Küstenstadt Walvis Bay zur Rede – der Forscher überließ ihr daraufhin einen von drei entwendeten Schädeln.[7] Ein Kolonialbeamter aus Windhoek hielt es 1908 für unmöglich, von den Insassen der Gefangenenlager das Einverständnis zur Obduktion und Präparation von Leichen ihrer Angehörigen zu erhalten – zu groß sei ihr diesbezüglicher „Unwille“.[8] Für den australischen Kontext hat der Historiker Paul Turnbull in seinem neuesten Buch zahlreiche Formen des Einspruchs von Seiten indigener Australier gegen den Raub menschlicher Gebeine durch Wissenschaftler zusammengetragen.[9] Sie alle können als frühe Restitutionsforderungen verstanden werden, weshalb sich die mancherorts geäußerte Vermutung, Rückgabeforderungen würden sich allein jüngeren politischen Entwicklungen verdanken, getrost verwerfen lässt. Wobei: Der Beginn der Rückgabedebatte ist ohnehin spätestens vor knapp 50 Jahren zu verorten, als Politiker und Kulturfunktionäre aus den dekolonisierten Staaten – allen voran der Unesco-Generaldirektor Amadou Mahtar M’bow – in der Unesco selbst auf Regelungen zur Rückgabe von Kulturgut drängten. Thomas Fitschen hat anschaulich beschrieben, wie der Unesco dieser Gegenstand jedoch durch den „hinhaltenden Widerstand“ der Staaten des globalen Nordens in den folgenden Jahrzehnten schlicht „abhanden kam“.[10] Es sind soft laws wie UNDRIP (United Nations of Declaration of the Rights of Indigenous Peoples), die noch am ehesten versuchen, die Rechtsgewohnheiten indigener Gesellschaften zu berücksichtigen.
Es ist also bemerkenswert, dass immer, wenn auf die Frage der Legalität zum Zeitpunkt des Erwerbs von Objekten verwiesen wird, nur auf die eigenen historisch gewachsenen Rechtssysteme geschaut und selten nach den historischen Rechtssystemen der ‚Anderen’ gefragt wird. Es scheint, als würden deren Rechtsvorstellungen noch immer dem Feld der Mythologie oder Religion zugeordnet. Sollten wir nicht aus der Debatte um ‚außereuropäische Kunst’ gelernt haben, dass wir es auch dort mit künstlerischen und ästhetischen Praktiken und Diskursen zu tun haben, wo der Begriff ‚Kunst’ selbst vielleicht gar nicht etabliert war oder ist? Auch Rechte und Normen sollten nicht kodifiziert sein müssen, um als solche ernst genommen zu werden.
In der Debatte um ethnografische Sammlungen wurde lange Zeit von source communities gesprochen, ein Begriff, der in den letzten Jahren glücklicherweise durch den weniger technisch klingenden Terminus Herkunftsgesellschaften ersetzt worden ist.[11] Im jüngsten Ausstellungskatalog des Völkerkundemuseums der Universität Zürich spricht man von „Urhebergesellschaften“[12] – ein bedenkenswerter Versuch, den Herkunftsgesellschaften zumindest auf sprachlich-symbolischer Ebene im Nachhinein auch Urheberrechte einzuräumen.
In einer seiner Ausstellungen gibt das Museum einen weiteren denkwürdigen Anstoß zum Perspektivwechsel – in umgekehrter Richtung. Es geht um den österreichischen Forschungsreisenden und Sammler Heinrich Harrer, der bei seiner Tour durch das Amazonasgebiet 1966 unzählige Diebstähle erlitt und beklagte. Die Kuratorinnen der Ausstellung lesen die Diebstähle der Einheimischen aber anders als Harrer: „Für die lokalen, egalitär organisierten Gruppen diente das Umverteilen von Besitz der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. […] Fremde, die sich – bewusst oder unbewusst – bei Handel und Tausch nicht an die Gepflogenheiten […] hielten, wurden ‚gezähmt’.“[13]
Die Frage von Besitz, Eigentum und cultural property ist in der Ethnologie vielfach behandelt worden. Dabei sind die Begrenztheiten des Eigentumsbegriffs aufgezeigt worden, wie er sich aus den römischen und später europäisch-nationalstaatlichen Rechtsordnungen entwickelt hat. Dinge sind nicht überall entweder das Eigentum eines Individuums oder eines Kollektivs. Manchmal bündeln sich in einem Ding die unterschiedlichsten Ansprüche auf Miteigentümerschaft, wie die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin schreibt: „Rechte an Mustern und Motiven, Rechte, ein solches Ding anzufertigen oder anfertigen zu lassen, sowie Rechte des Aufbewahrens […], des Zeigens und des Sehens (bzw. des Ausschlusses einer bestimmten Öffentlichkeit), des Berührens und das Recht der Weitergabe und des (Ver-)Erbens, der Veräußerung oder gar des Zerstörens.“[14] Diese vielfältigen Dimensionen von Rechten an demselben Ding seien mit einem kapitalistischen Eigentumsbegriff wie dem unseren nicht zu fassen.
Natürlich ist es unglaublich schwierig, ‚Rechtsethnologie’ historisch zu betreiben und lokale Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen für die Kolonialzeit und davor zu rekonstruieren. Umso mehr als diese durch die koloniale Rechtspraxis unterdrückt und überformt wurden. Dazu noch machten sich lokale Akteure die im kolonialen Staat bzw. im Deutschen Reich zur Verfügung stehenden Rechtsmittel sogar zunutze, um Beschwerde einzulegen und eigene Ansprüche zu artikulieren. Deswegen kann es auch nicht darum gehen, die Debatte um das koloniale Erbe europäischer Museen zu einem Streit unter Rechtsgelehrten, gleich welcher Herkunft, zu machen. Aber es ist an der Zeit, dass wir unseren Blick auf Rechtsgrundlagen und Rechtspraktiken endlich historisieren, dezentrieren und damit dekolonisieren.
Larissa Förster ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage, Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet über Museen und Kolonialismus mit besonderem Fokus auf Fragen der Provenienz, Rückgabe, Restitution und Repatriierung. Sie ist Mitherausgeberin des Tagungsbandes „Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit. Positionen in der aktuellen Debatte“ (bitte Titel mit Link hinterlegen: https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/19768), Mitglied der Arbeitsgruppe des Deutschen Museumsbundes zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten und Mitherausgeberin des Blogs „Wie weiter mit Humboldts Erbe?“.
Der Text ist eine geänderte, in erster Linie um Quellen und Referenzen erweiterte Fassung des Gastkommentars, der am 24.11. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist:
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Alexander von Humboldt Stiftung als Teil der Alexander von Humboldt-Professur für Sharon Macdonald finanziert. Sie wurden am Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH) am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt.
––––
[1] Vgl. hierzu folgende höchst instruktiven Beiträge: Kaleck, Wolfgang, 2018, Das Recht der Mächtigen. Die kolonialen Wurzeln des Völkerrechts. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 8: 115–120; Schönberger, Sophie, 2016, Restitution of ethnological objects: legal obligation or moral dilemma? In: Museumskunde 81/1: 45–48; Dies., 2018, Ein politisches Projekt: In: Sueddeutsche Zeitung, 21.6.; Thielecke, Carola; Geißdorf, Michael, 2018, Sammlungen aus kolonialen Kontexten: Rechtliche Aspekte. In: Deutscher Museumsbund (Hg.): Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Berlin: 65–74.
[2] Eine Ausnahme bildet hier: Deren, Richard, 2018, Zwischen Recht und Politik. Die Rechts- und Eigentumsverhältnisse an Kulturgütern der Kolonialzeit nach deutschem Zivilrecht und Völkerrecht. In: Völkerrechtsblog, 28.9.2018, doi: 10.17176/20180928-103227-0.
[3] Vgl. Austen, Ralph A.; Derrick, Jonathan, 1999, Middlemen of the Cameroons Rivers: The Duala and their Hinterland, c. 1600–c.1960. Cambridge University Press.
[4] Vgl. Ndam Njoya, Adamou, 1988, The African Concept, In: UNESCO (ed.): International Developments of Humanitarian Law. Genf, S.5ff.; Jaguttis, Malte, o.J., Colonialism and its Objects. Remarks on the Framework of Restitution and Repatration under International Public Law. In: Articifial Facts. A Trans-National Exhibition and Research Project: http://artificialfacts.de/colonialism-and-its-objects-remarks-on-the-framework-for-repatriation-and-restitution-under-public-international-law1/.
[5] Schultz-Ewerth, Erich; Adam, Leonhard (Hg.) 1930, Das Eingeborenenrecht. Stuttgart. Vgl. zur Diskussion von afrikanischen Eigentumsrechten auf Seiten von Kolonialbeamten im damaligen Deutsch-Ostafrika: Stoecker, Holger, 2017, Auf dem Hügel der Schreckensechsen. In: FAZ: 18.10., und ausführlicher: Ders., 2018, Koloniales Kronland und Ausfuhrverbot. Wie die Fossilienfunde für die deutsche Wissenschaft gesichert wurden. In: Heumann, Ina; Stoecker, Holger; Tamborini, Marco; Vennen, Mareike (Hg.): Dinosaurierfragmente. Zur Geschichte der Tendaguru-Expedition und ihrer Objekte, 1906-2018. Göttingen, S. 53.
[6] Deutscher Museumsbund, 2018, Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, 1. Fassung. Berlin, S. 69, abzurufen unter: https://www.museumsbund.de/publikationen/leitfaden-zum-umgang-mit-sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten/. Siehe auch den Aufruf zur Kommentierung des Leitfaden-Entwurfs zwecks Überarbeitung weiter unten in diesem Blog.
[7] Förster, Larissa; Henrichsen, Dag; Stoecker, Holger; #Eichab, Hans, 2018, Re-individualising human remains from Namibia: colonialism, grave robbery and intellectual history. In: Human Remains & Violence 4/2: 45–66.
[8] National Archive of Namibia, ZBU 2027, SSAWW.II.d.8 Eingeborenenangelegenheiten Herero Alte Akte Generalia. Letter of the State Secretary of the Reichs-Kolonialamt to the Gouvernor of Windhoek, 31.7.1908.
[9] Turnbull, Paul, 2017, Science, Museums and Collecting the Indigenous Dead in Colonial Australia. Cham, insbesondere Kapitel 11.
[10] Fitschen, Thomas, 2004, 30 Jahre Rückführung von Kulturgut. Wie der Generalversammlung ihr Gegenstand abhanden kam. In: Vereinte Nationen 2: 46–51. Vgl. auch Paczensky, Gert von; Ganslmeyer, Herbert, 1984, Nofretete will nach Hause. Europa – Schatzhaus der ‚Dritten Welt’. München, S. 17.
[11] Zur Kritik am Begriff source community vgl. Macdonald, Sharon; Lidchi, Henrietta; Oswald, Margareta von, 2017, Special Section: Engaging anthropological legacies. Introduction. In: Material Worlds: Advances in Research, Nr. 5, S.–107, hier S. 99.
[12] Flitsch, Mareile; Powroznik, Maike; Wernsdörfer, Martina (Hg.), 2018, Begegnung – Spur – Karte. Das ethnografische Erbe von Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter. Stuttgart.
[13] Ausstellungstafel aus „Begegnung – Spur – Karte. Die Expeditions-Sammlungen von Heinrich Harrer“, gesehen am 28.9.2018.
[14] Hauser-Schäublin, Brigitta, 2018, Ethnologische Provenienzforschung – warum heute? In: Förster, Larissa; Edenheiser, Iris; Fründt, Sarah; Hartmann, Heike (Hg.): Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit. Positionen in der aktuellen Debatte. Open-Access-Publikation der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin, S. 327–334, hier S.331, abzurufen unter: http://dx.doi.org/10.18452/19029