„zurückGESCHAUT“ und die Praxis des Blickens
Eine Rezension zur Dauerausstellung im Berliner Museum Treptow
Mitten im Handgemenge um Humboldts Erbschaften eröffnete im Oktober 2017 im Berliner Randbezirk Treptow eine Dauerausstellung mit dem unaufgeregten Titel „zurückGESCHAUT“. Das Heimatmuseum widmet sich der Ersten Deutschen Kolonialausstellung, die 1896 auf dem Gelände des Treptower Parks in Berlin stattfand und blickt insbesondere zurück auf die Geschichten der Ausstellungsteilnehmer_innen aus Afrika und Ozeanien. Diese Rezension nimmt den Titel der Ausstellung zum Anlass, um dem Umgang mit Blicken und den Praktiken des Blickens in dieser Ausstellung nachzuspüren.
Ausgangspunkt der Ausstellung ist die Erste Deutsche Kolonialausstellung, die als Teil der großen Berliner Gewerbeausstellung von 1896 im Treptower Park stattfand. Vom 1. Mai bis 15. Oktober 1896 sahen mehr als zwei Millionen Besucherinnen und Besucher auf dem 900.000 Quadratmeter großen Gelände die propagandistisch angelegte Leistungsschau. Einem sogenannten wissenschaftlich-kommerziellen Teil, der hauptsächlich die Überlegenheit des Deutschen Kaiserreichs inszenierte, wurde ein „ethnologischer Ausstellungsteil“ gegenübergestellt: aufwendige Aufbauten inmitten des Parks sollten die Schaulust der weißen Bevölkerung am vermeintlich Primitiven befriedigen. Teil dieser Inszenierung waren 106 Kinder, Frauen und Männer, die die deutsche Reichsregierung für die Zeit der Berliner Gewerbeausstellung aus verschiedenen kolonisierten Gebieten unter fragwürdigen Umständen engagiert hatte bzw. – um die zeitgenössischen Begriffe des Ausstellungskatalogs von 1896 aufzugreifen – „anwerben“ ließ.
Rund 120 Jahre später nimmt nun das Berliner Heimatmuseum in Treptow in Kooperation mit der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) und Berlin Postkolonial e.V. seine Lokalgeschichte zum Anlass, um daran die deutsche Kolonialgeschichte mit Schwerpunkt auf diese 106 Geschichten Schwarzer Menschen und People of Color aufzugreifen. Gleich zu Beginn der Ausstellung wird diese Perspektiveinnahme sichtbar gemacht. So etwa verweist der Eröffnungstext auf die Geschichte von Kwassi Bruce, dem jüngsten Teilnehmer der Ersten Deutschen Kolonialausstellung. 1893 in der damaligen Deutschen Kolonie Togo geboren, reist er als Dreijähriger mit seinen Eltern als Teil einer größeren Gruppe zur Berliner Kolonialausstellung und wächst anschließend bei weißen Adoptiveltern auf, arbeitet u.a. als Berufsmusiker mit seiner eigenen Kompagnie durch das Deutsche Kaiserreich, später Nazi-Deutschland tourend[1]. Die lange und verwobene Geschichte Schwarzer und of Color Präsenzen in Deutschland steht so schon zu Beginn der Ausstellung im Fokus der Lokalgeschichte.
Dem beengten Flur des Treptower Heimatmuseums folgend werden zunächst die zeitgenössischen Debatten zu kolonialen Bestrebungen im Deutschen Kaiserreich näher erläutert: Die kaufmännischen Interessenverbände als Initiatoren der Gewerbeausstellung werden angeführt, sowie ihr Engagement in der kolonialen Sache erläutert. Die Beteiligung der Berliner Mission (I) an der Ausstellung von 1896 thematisiert zugleich den noch existierenden Aufruf „Geht hin und lehret alle Heiden“ über dem Eingang des Berliner Missionswerks im Berliner Bezirk Friedrichshain. Diese unaufdringlichen Verweise auf ungebrochene Kontinuitäten im Berliner Alltag sind es, die „zurückGESCHAUT“ zu einem beachtenswerten Beitrag für die Erinnerungsdebatten rund um den deutschen Kolonialismus machen.
Die gegenüberliegende Seite des Raumes greift nun den „ethnologischen Ausstellungsteil“ von 1896 auf und geht auf die kolonial-rassistischen Darstellungen der Ersten Deutschen Kolonialausstellung ein. Spätestens hier wird der zurückhaltende Titel „zurückGESCHAUT“ manifest: Das Kurator_innenteam problematisiert den zeitgenössischen Umgang mit kolonialrassistischem Bildmaterial hier explizit im Ausstellungstext, um dabei anzuführen, dass die Mitarbeit von Schwarzen Menschen bei der Ausstellungserarbeitung zentral war. Das Zeigen von kolonialrassistischem Bildmaterial wird zwar nicht in Gänze umgangen: es folgt die Abbildung eines Gruppenfotos der Kolonialausstellung, dass Schwarze Teilnehmer_innen sowie weiße Kolonisatoren, angeordnet entsprechend rassistischer Vorstellungen von Gesellschaft zeigt. Doch das historische Bildmaterial wird durch Begründungen gerahmt. Der Ausstellungstext beschreibt das Bild ausführlich, lenkt den Blick, weist auf das Arrangement der Menschen hin – die weißen Männer an der Spitze des Gruppenfotos, vor ihnen pyramidenförmig aufgestellt Schwarze Männer, Frauen und Kinder – und legt damit den Konstruktionscharakter offen. In dieser verantwortungsbewussten Haltung für den Umgang mit historischem Bildmaterial einerseits und andererseits für die abgebildeten Subjekte der Bilder, eröffnet sich im Folgenden der erste Vertiefungsraum, der zugleich das Herzstück der Ausstellung ist.
Steckbriefe der Ausstellungsteilnehmer_innen von 1896. © Anujah Fernando
106 Steckbriefe, aufgezogen auf Pressspanplatten, teils mit Porträtaufnahmen in schwarz-weiß, teils unbebildert, blicken Besucher_innen von den Wänden an. In mitten des Raumes: ein Holzkasten mit einem wuchtigen Katalog. Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896. Amtlicher Bericht über die Erste Deutsche Kolonial-Ausstellung. Darin ebenfalls befindlich ein Opernglas. Es ist der Versuch die Biografien der damaligen Ausstellungsteilnehmer_innen darzustellen. Der Versuch, ihre Geschichten vor 1896 und danach zu rekonstruieren. Vor den jeweiligen Steckbriefen befinden sich Kästen, die erste Rechercheergebnisse der Lebensgeschichten beinhalten. Martha Kamatoto beispielsweise reiste nach ihrer Beteiligung an der Schau zurück ins Hereroland, wo bei Plünderungen während des Völkermords 1904-1908 ein Gruppenfoto gefunden wurde, das sie 1896 in Berlin zeigt. Diese Fotografie wurde wieder zurück nach Deutschland gebracht und zeigt – worauf der Ausstellungstext hinweist – die verwobene namibisch-deutsche Geschichte, den Weg von der Kolonialausstellung in Treptow hin in den kolonialen Genozid. Eine weitere Geschichte ist die des Kameruners Kwelle Ndumbe/Bismarck Bell, der als Teilnehmer der Kolonialausstellung in Berlin ein Opernglas erwarb, um in dem Setting des Treptowers Parks auf die Ausstellungsbesucher_innen von 1986 zurückzuschauen. Diese zwei Geschichten zeigen in ihrer Unterschiedlichkeit die Bandbreite an Geschichten der Kinder, Männer und Frauen aus Afrika und Ozeanien; einige Steckbriefe sind ohne Fotografien, weisen nur auf den Namen der Personen, ihren Herkunftskontext hin. Indem sämtliche 106 Teilnehmer_innen im Raum angeführt werden, die Ausstellungsbesucher_innen von den vorhandenen Porträtaufnahmen sowie den Leerstellen von allen vier Wänden des Raumes umgeben werden, wird die Praxis des Blickens in dieser Inszenierung nochmals problematisiert.
Der hier provozierte verantwortliche Blick, wie ihn Irit Rogoff für die Museumsarbeit forderte[2], wird im letzten Raum nochmals weiterentwickelt und aktualisiert: dem Raum mit gegenwärtigen Positionen Schwarzer Menschen und People of Color in Deutschland. Auch hier sind Fotografien zentral. Sie bilden Beispiele ab für die gegenwärtigeren Proteste und sozialen Bewegungen in Deutschland lebender Schwarzer Menschen und People of Color: Straßenumbenennungsaktionen, die Kampagne Völkermord verjährt nicht sowie das Protestbündnis No Humboldt 21 werden beispielhaft gezeigt. Die Frage nach der heutigen Anerkennung und Erinnerung Schwarzer Geschichte im öffentlichen Raum greift insbesondere der Denkmalsentwurf Schrein der vergessenen Seelen des in Berlin lebenden Schwarzen britischen Künstlers Satch Hoyt auf. In der Mitte des Ausstellungsraums gezeigt, fordert diese künstlerische Arbeit, die eben nur als Modell vorhanden ist, einen Ort des öffentlichen Erinnerns für Schwarze Geschichten ein.
Schrein der vergessenen Seelen. Denkmalsentwurf von Satch Hoyt sowie Fotografien von Protesten Schwarzer Menschen in Berlin. © Anujah Fernando
„zurückGESCHAUT“ gelingt es sprachlich und visuell sensibel, die Geschichten der Ausstellungsteilnehmer_innen von 1896 in den Fokus zu rücken, ohne dabei in den Duktus einer Betroffenheitsausstellung zu verfallen. Insbesondere überzeugt die Ausstellung, indem sie mit den Leerstellen der Geschichten bewusst umgeht und ihnen Raum gibt. Das häufig im Kontext von Ausstellungen zur Kolonialgeschichte bemängelte Fehlen von Quellen aus Sicht von Kolonisierten, wird hier zum Teil ausgestellt und zugleich werden Besucher_innen dazu aufgefordert, sich auf die Suche nach eben den unerzählten Geschichten zu begeben. Obwohl diese Ausstellung in einem kleinen Heimatmuseum realisiert wurde, die finanziellen Mittel ersichtlich knapp gewesen sein müssen und es an hochpoliertem Ausstellungsdesign mangelt, überzeugt die Ausstellung und animiert, sich mit der eigenen Praxis des Blickens auseinanderzusetzen.
Anujah Fernando promoviert derzeit zu Transformationsprozessen in ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum im Rahmen der Verbundinitiative Worlds of Contradiction der Uni Bremen. Zuvor studierte sie Soziologie und Kulturphilosophie sowie Kulturanalysen in Leipzig und Oldenburg. Ihre Abschlussarbeit (Publikation in Vorbereitung) schrieb sie zu Repräsentationen Schwarzer und of Colour Positionen in der Sonderausstellung Deutsche Kolonialgeschichte. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart des Deutschen Historischen Museums (2016/17). Nach der Mitarbeit an der Ausstellung Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit an der Kunsthalle Bremen, ist sie derzeit am Haus der Kulturen der Welt in Berlin beschäftigt.
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[1] Vgl. Brändle, Rea (2007). Nayo Bruce: Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa. Zürich: Chronos Verlag.
[2] Vgl. Rogoff, Irit (1993): ‚Der unverantwortliche Blick. Kritische Anmerkungen zur Kunstgeschichte‘, In: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst – und Kulturwissenschaften. (21,4) pp. 41-49.