Was für ein Wirbel
Erster Teil: Splitter und Balken
Über das Humboldtforum ist alles gesagt. Und es ist schon vor zehn Jahren gesagt worden. Die Diskussion bewegt sich seit langer Zeit im Kreise. In diesem Jahr haben die Feuilletons die Regie übernommen, ohne daß dabei neue Gesichtspunkte zur Sprache gekommen wären. Das einzig Neue ist der deutliche Sog nach unten, der in den beiden Beiträgen von Viola König und Bernhard Streck zur Diskussion kommt. Die Ethnologie ist von der Leitungsebene eines ethnologischen Museums oder einer permanenten ethnologischen Ausstellung ausgeschlossen worden, ohne Diskussion und ohne Gründe; und das Gebäude wird von einem fünf Meter hohen Kreuz gekrönt, das als Zeichen der Toleranz verstanden werden soll, damit die heidnischen Überlieferungen ihren Ort im Abendland finden können. Das eine klingt wie die Bestrafung eines wissenschaftlichen Fachs durch dessen Unmündigkeitserklärung; das andere wie eine Satire: Wer das Kreuz nicht will, ist eben nicht tolerant genug.
Aber diese Einschätzung wäre eine Beruhigung. Es ist – machen wir uns nichts vor – schlimmer. Als das neue Leitungsgremium eingesetzt wurde, wurden Ethnologinnen und Ethnologen nicht bewußt ausgegrenzt, sondern sie wurden links liegen gelassen, weil man sich von höherer Seite gar nicht vorstellen konnte, was sie zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben beitragen könnten. Zu allem Überfluß hat sich die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde gerade umbenannt, und das im ungünstigsten Moment. Wenn die Ethnologen in Zukunft Deutungskompetenz für ihre ethnographischen Sammlungen beanspruchen, wird ihnen die Nomenklatur der Sozial- und vor allem der Kulturanthropologie noch gehörig in die Quere kommen. Kulturanthropologen sind wir doch eigentlich alle, werden die Kulturwissenschaftler sagen. Die Ethnologen, ach ja, sie heißen nicht mehr Ethnologen. Für Anthropologie, sind da nicht die Philosophen zuständig?
Und als es um das Kreuz ging, geschah alles, ohne an die Exponate im Inneren überhaupt zu denken. Es geschah sogar bei ausführlicher Würdigung des Gottesgnadentums und der preußischen Sicht der Dinge, als Schlag ins Gesicht der deutschen Demokratie:
Das Humboldt-Forum soll ja ein Museum der außereuropäischen Kulturen sein. Die Kritiker, unter anderem im rot-rot-grünen Senat der Stadt, sagen: Wie kann es sein, dass chinesische Höhlenmalereien unter dem christlichen Zeichen stehen? Können Sie diese Stimmen verstehen?
Parzinger: Ja, verstehen kann ich das natürlich schon. Zum anderen muss man davon wegkommen, dass diesem Kreuz alles untergeordnet werden soll. Es gab die Diskussion ja schon mal, sie ist aber inzwischen etwas abgeebbt, weil die Entscheidungen getroffen worden waren, was das Schloss überhaupt betrifft. Im Grunde ist das ein bisschen eine Stellvertreterdiskussion. Man kann auch sagen, die Fassade, der Preußenadler, all die andere Symbolik, die zwar nicht christlich, aber preußisch ist – was hat das mit dem Inhalt des Humboldt-Forums zu tun? Auch hier soll das keine Unterordnung sein, sondern man hat gesagt, man baut das Schloss teilweise wieder auf als Bekenntnis zur deutschen, preußischen Geschichte und macht im Inneren aber mit dem Humboldt-Forum eine Institution, die letztlich ein anderes, ein weltoffenes Deutschland zeigen will.
Wir sind eine Gesellschaft, die immer multikultureller, multireligiöser und multiethnischer wird, und das soll im Inneren zum Ausdruck kommen. Das wird zwangsläufig die Symbolik von der Kuppel bis hin zu anderen Details der Fassade relativieren. ….
Sie haben betont, dass die Rekonstruktion des Schlosses, zumindest der Westfassade mit dieser barocken Gestalt, durchaus eine Reminiszenz an den Preußenkönig ist. Und der wiederum hatte die Kuppel mit dem Kreuz erst nachträglich, 150 Jahre nachdem das Schloss sehr gut ohne Kreuz ausgekommen ist, darauf setzen lassen, und zwar wurde die Kuppel mit dem Kreuz erst nach Rückschlagung der Märzrevolution als Zeichen der siegreichen Reaktion 1854 eingeweiht. Steht also das Kreuz nicht ganz konkret für die Einheit von Kirche und Militär in Preußen?
Parzinger: Dieser Zusammenhang ist schon ganz richtig. Das Schloss hat die meiste Zeit seines Bestehens, jedenfalls das Barockschloss, ohne Kuppel existiert. Die Kuppel war in der Tat – und das ist auch jetzt noch einmal auch durch entsprechende Beiträge in den Medien bewusst geworden – eine Reaktion auf die Märzrevolution, wo man am Ende dem damaligen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. sogar die Kaiserkrone angeboten hatte. Er hat das abgelehnt, denn von diesem aufrührerischen Plebs lässt er sich nicht die Kaiserkrone überreichen. Viele Begeisterte von dieser Idee der nationalen Einheit waren damals entsetzt, dass er das einfach so ablehnt und dass diese frühen Versuche einer Einigung Deutschlands so kläglich scheiterten. Er hat dann – sicher auch als Reaktion auf diese Revolution – die Kuppel mit der Kapelle darunter draufsetzen lassen, um das Gottes Gnadentum der Königsherrschaft noch einmal zu symbolisieren.
Gespräch mit Natascha Freundel (NDR, 23.6.2017)
An dieser Darstellung ist der Inhalt der Argumentation ebenso bemerkenswert wie ihre Form. Schließlich wurde hier kein Original restauriert, sondern eine Restauration simuliert. Muß man den Affront des Königs gegen die deutsche Demokratie dann noch einmal wiederholen? Warum eigentlich? Als „Bekenntnis zur preußischen, deutschen Geschichte“, die uns, die Nachfahren der gescheiterten Demokratie von 1848, zu Feinden erklärt hat? Mit welcher Begründung? Die Fassade soll gerade nicht mit dem Inhalt übereinstimmen, denn „ein anderes, ein weltoffenes Deutschland“ soll nur drinnen sichtbar sein. Dieses Bekenntnis ist von einem Offenbarungseid schwer zu unterscheiden. Wenn Fassade und Inhalt so weit auseinanderklaffen, kann allem Anschein nach alles Weitere noch weiter auseinanderklaffen, weil es durch den Nachweis seiner Zusammenhanglosigkeit ebenso gut begründet werden kann wie durch seinen Zusammenhang.
Was macht man in einem solchen Fall? Die Würfel sind gefallen, das Spiel ist verloren. Der Rest ist Schadensbegrenzung. Bevor man ein neues Spiel anfängt und über eine Gegenoffensive nachdenkt, sollte man erst einmal analysieren, wie diese doppelte Brüskierung der Ethnologie und das Bekenntnis des Herrn Parzinger entstanden sind. Ich bin kein Ethnologe, habe das Fach nur als Nebenfach und später dessen Geschichte studiert, dafür etwas ausführlicher und mit Freude am historischen Detail. Was das Humboldtforum angeht, war ich mit den Diskussionen der Gründungsphase vertraut und sehe jetzt den Niedergang des institutionellen Konzepts ohne grosse Überraschung. Denn in der Entstehung des Humboldtforums wurden bekanntlich zwei verschiedene Entwicklungen mit einander kombiniert: eine staatlich geduldete und schließlich offensiv geförderte private Initiative zur Wiederherstellung des Preußischen Stadtschlosses, und eine vom Bundestag beschlossene Ansiedlung der ethnologischen Sammlungen im Zentrum Berlins. Beide befanden sich von vorneherein in Schieflage, aber das eine erschien wie eine einmalige Chance, und das andere wurde uns als Geschenk verkauft.
Es handelt sich um ein Lehrstück der Strömungslehre, in drei Akten. Die erste Strömung ist idealistisch und populistisch, sie besteht aus Marketing, Sponsoring und Propaganda, aus Steinen und Statuen, die man kaufen kann, aus Nostalgie und Nationalismus. Sie hat keine Zweifel an ihrer Mission, denn der Palast der Republik ist bereits verschwunden und muß substituiert werden. Die unliebsame Geschichte wird zur Wunschmaschine. Hier wird nicht argumentiert, sondern aus dem Bauch heraus agiert, mit Liebe und Haß und Geld. Überall in der Provinz wurden solche schönen Schlösser bereits simuliert, warum nicht bei uns in Berlin? Am Ende einigt man sich wie überall in der Provinz auf die Pot’jomkinsche Fassade. Unser Dorf soll das schönste Schloss haben. Innen drin muß etwas Vernünftiges stecken, also am besten ein Kaufhaus mit wechselnden Angeboten oder ein ebenso variables Kulturangebot, bitte. Am Ende werden wir genau das bekommen: Ein variables Kulturangebot mit entsprechend vielen Eröffnungen, Häppchen und Reden über den bedeutsamen preußischen Ort in der Welt.
Die zweite Strömung bildet der vom Bundestag erteilte Auftrag an die ethnologischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in ein Museum im Zentrum zu ziehen, mit Zusatzaufträgen an eine Universität. Hier wird die ganze Zeit diskutiert und argumentiert, denn die Mission der ethnologischen Museen befindet sich in einer langanhaltenden Gundlagenkrise. Und zwar in einer Krise, die sich nach innen richtet, aber jeden zum Experten macht. Selbstgeißelung ergänzt sich durch Hilfe zur Selbstgeißelung. Diese Strömung ist extrem reflexiv, bereits nach mehreren Gesprächsrunden dreht sie sich im Kreise, sie wirbelt. Alle selbstkritischen Argumente, die von der Ethnologie im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, werden Jahrzehnte später als gesunkenes Kulturgut von außen aufgegriffen, um sie in Zweifel zu ziehen. Nach Jahrzehnten der Stärkung durch Selbstkritik und Selbsthistorisierung zeigt sich eine überraschende Immunschwäche, die allem Anschein nach mit dem Ende des Kalten Kriegs eingesetzt hat. Aber auch die zentrale Schaltstelle zwischen der ethnologischen Selbstkritik und den Ethnologieklischees von heute, die „Writing Culture“-Debatte, bestand bereits aus gesunkenem Kulturgut.
Man kann den Unterschied leicht benennen, wenn man Roy Wagner mit James Clifford vergleicht. In seiner „Invention of Culture“ schreibt Roy Wagner 1972, jedes Kind müsse die vorgefundenen Konventionen in jeder Kultur noch einmal kooperativ neu erfinden, und so gehe es auch dem Ethnologen, der dort zu Gast sei. Darum erscheinen Ethnographen in ihrer Fremde den Eingeborenen wie Kinder, wie Primitive oder gar wie Geisteskranke. Dieser Vergleich legitimiert die Ethnologie, denn ihre „invention of culture“ ist so alt wie die Welt und so alltäglich wie Kultur und Konvention. Auch die ethnologischen Museen sind nicht so einzigartig wie wir vielleicht denken. Andere Kulturen haben ihren „Cargo Cult“, wir haben einen „Culture Cult“, schreibt Wagner. Diese ethnologische Reflexion zielt auf eine „reziproke“ oder „symmetrische“ Anthropologie; sie verweist darauf, daß alle Vergleiche hinken und wir uns zwischen den Kulturen im Unbewußten, im Schwer-Übersetzbaren und im Nicht-Repräsentierbaren treffen. Zehn Jahre später schreibt James Clifford über „ethnographische Autorität“. Der Ethnologe erscheint als eigenmächtiger Autor, der seine Autorität nach ihrem möglichen Verlust im Feld durch den Verweis auf seine einmaligen Erfahrungen im Feld rigoros ausgestaltet. Cliffords Darstellung ist neutral, wird aber von der nächsten Generation als Delegitimation verstanden: Die Autorität, die der Ethnologe im Feld erwirbt, hat er den Eingeborenen weggenommen.
Clifford weigerte sich, selbst ins Feld zu gehen. Er wollte offensichtlich seine harterworbene autorschaftliche Autorität nicht verlieren. In der Folge wurde diese Weigerung moralisch aufgeladen: Es ist in Ordnung, zu beschreiben, wie die ethnographische Autorität der Vergangenheit zustande gekommen ist, aber es ist nicht in Ordnung, sie zu teilen oder fortzusetzen. Wir sind schließlich keine Kolonialisten mehr. Seitdem vertraut die Ethnologie, anders als die Soziologie, ihren eigenen Klassikern nicht mehr; sie importiert ihre theoretischen Herausforderungen zunehmend aus anderen Fächern; und sie entwickelt den Wunsch, endlich vom Exotismus der Vergangenheit und vom Exotismus der Gegenwart befreit zu sein. Die Lektionen Roy Wagners, die James Clifford gelernt hatte und die den Reiz seiner Darstellung ausmachten, sind vergessen. Keine wechselseitige „invention of culture“, sondern nur noch eine einseitige „writing culture“ soll die Ethnologie geprägt haben.
Als wäre das überhaupt möglich gewesen.
Und als wäre das die Methodik, der Sinn oder das Ergebnis der Ethnologie gewesen – statt aller anderen und tatsächlich eindeutig-methodisch-einseitig formulierten Fachtraditionen, insbesondere der historischen und philologischen, aber auch der weitaus meisten sozialwissenschaftlichen. Ausgerechnet die dialogischste aller Humanwissenschaften, die als einzige bis heute ungebrochen dem mitteleuropäischen Paradigma der Überschneidung von Forschungssubjekt und Forschungssujet folgt, die aus diesem Paradigma ihre Methodik begründete und sich, anders als ihre mitteleuropäische Verwandte, die Psychoanalyse, als Universitätsfach etablieren konnte, die letzte verbliebene moderne Rechtfertigung des Abenteuers und der Unterlegenheit des Forschers gegenüber seinen Gesprächspartnern wurde zum Paradebeispiel der einseitigen wissenschaftlichen Ordnungs- und Klassifizierungsmacht erklärt. Da biegen sich die Balken, bis sie splittern.
Das gesunkene Kulturgut der „Writing Culture“ gehört mittlerweile zum Unterrichtsstoff der Sozial- und Kulturanthropologie und der Kulturwissenschaften. Alle anderen haben gut zugehört. Exotismus war Diebstahl, und die ethnologischen Sammlungen basieren auf Exotismus und Diebstahl. Die Ethnologie wird delegitimiert, man braucht ihr nur unter die Nase zu reiben, was sie selbst über ihre vergangenen Verfehlungen zu sagen hatte. Was in der Selbstkritik der Ethnologie dazu diente, noch radikalere Aushebelungen bestehender Einseitigkeiten auszudenken, damit die Ordnungsschemata und Klassifizierungen der Eingeboren berücksichtigt werden können, wurde in der Rezeption durch die Kunstszenen und Kulturwissenschaften zum Beweis für die Erbsünde der Ethnologie. Ethnologie, zum Teil auch Ethnographie wird zu einem Schimpfwort. Aber keineswegs, um eigene methodische Einseitigkeiten durch einen Dialog mit den Eingeborenen – egal welcher Provenienz – aufzubrechen, sondern um den eigenen Monolog besser abzuschotten. Die Kritik der Repräsentation genügt sich selbst.
Dritter Akt: Die erste und die zweite Strömung prallen aufeinander. Das Stadtschloß gewinnt, denn es diskutiert nicht. Die Ethnologie gerät in einen Strudel, dem sie nicht mehr entkommen kann, je stärker sie sich gegen ihn stemmt. Da es nur um die Restauration der Fassade geht, entsteht auf dieser Seite kein Diskurs, sondern Affirmation. Allen Leuten, die in das Gebäude einziehen müssen, erscheint es jeden Tag schöner, was bleibt ihnen auch anderes übrig. Je länger das ethnologische Museum diskutiert wird, desto mehr kritische Masse erhält seine Kritisierbarkeit, und zwar noch ohne jede praktische Umsetzung. All das scheint unproblematisch, aber nach zehn Jahren haben sich die Machtverhältnisse durch pure Ermüdung endgültig verschoben. Das ethnologische Museum existiert nicht mehr, und das Stadtschloss erhält sein Kreuz. Vom vormaligen ethnologischen Museum bleiben nur noch Häppchen, sprich: variable Module.
Warum? Hülle und Inhalt schienen doch so schön getrennt und gut definiert zu sein. Aber die Ethnologie hätte gewarnt sein müssen. „Dadurch, daß ein Wesen die Hülle eines anderen anlegt, verliert es seine bisherige Wesenheit und wird tatsächlich das andere Wesen, lebt und handelt wie dieses. Träger der Wesenheit ist demnach die Hülle, die äußere Gestalt. Die Form ist also identisch dem Wesen.“ So schrieb Fritz Krause 1931 in seinem Aufsatz über „Maske und Ahnenfigur: Das Motiv der Hülle und das Prinzip der Form“. Es gibt Kulturen, für die gilt: „Die Masken sind danach das Mittel, durch das sich ein Wesen in das andere, dessen Form in der Maske gegeben ist, so verwandelt, daß es dieses andere Wesen wirklich ist nach Eigenschaften, Fähigkeiten und Wirksamkeit. … Die Form der Maske ist also der Träger der Wesenheit. Wenn demnach ein Teilnehmer solche Maske anlegt, verwandelt er sich in das betreffende Wesen.“ Wie Bernhard Streck im Anschluß an Krause ausgeführt hat, ist in der Moderne vor allem ein militärischer Habitus dazu angetan, den Kostümwechsel auf Kommando zu trainieren und den Maskenwechsel zu genießen. „Das Mehr-Sehen und Mehr-Können setzt Brutalität und Kriminalität frei.“ (Bernhard Streck, Leo Frobenius, Frankfurt/M. 2014, S. 207)
Daß die Hülle das Wesen bestimmt und ihren Träger zur Verwandlung zwingt, klingt absurd. Aber diese Absurdität ist eingetreten, und sie hat ihre eigene Logik, vielleicht sogar Dialektik. Wenn man Hülle und Inhalt so extrem trennt wie das am Ausgangspunkt des Humboldtforums stand, ergibt sich zwangsläufig die Forderung, daß es einen Inhalt geben muß, zumindest einen, der in der Hülle erscheint. Wenn schon nicht Preußens Glanz und Gloria, dann soll doch „die Geschichte des Ortes“ repräsentiert werden. Die Ethnologie hingegen, der scheinbare Inhalt, soll sich in der Fassade nicht zeigen. Dann soll sie aber bitte schön auch etwas Immaterielles zur Hülle beitragen, also zum Ort, der den Palast der Republik und die siegreiche Dynastie der Hohenzollern beerbt. Die Sammlungen sind schließlich Preußischer Kulturbesitz, und damit ist das preußische „Haus“ der Besitzer. Schließlich sind beide für einander Hülle und Inhalt: Das Simulakrum eines Preußenschlosses soll die ganze Welt durch ihre ethnologischen Sammlungen beinhalten; und die Ethnologie, pardon, die außereuropäischen Sammlungen sollen ein Nationalmuseum bestücken oder ein Nationalmuseum ergeben. Diese beiderseitige Vertauschung wurde nirgendwo beschlossen, sie ergab sich von selbst und bestimmt mittlerweile alle Gespräche der Zeitungen mit dem Triumvirat der Gründungsdirektoren. Sie bestimmt den Maelstrom der Publizistik in diesem Jahr und voraussichtlich bis zur Eröffnung.
Das Schloss hüllt die Sammlungen ein, und die Sammlungen sollen ihren undefinierten nationalen Geist freigeben, den Preußischen Kulturbesitz. Die beiden Strömungen umhüllen einander und bleiben in Bewegung, sie wirbeln und erzeugen einen Abgrund, der am Ende auch die Gründungsdirektoren verschlingen wird, die aber vielleicht klug genug sein werden, vorher den Absprung zu wagen, McGregor ohnehin.
Horst Bredekamp ließ vor kurzem die Katze aus dem Sack:
„Die Kardinalfrage lautet, ob das deutsche Selbstbewusstsein allein auf Schuld und Scham aufgebaut werden könne oder ob es statthaft oder gar notwendig sei, allen jenen Bestrebungen, die im Nationalsozialismus und dessen Vorläufern vernichtet wurden, genau aus diesem Grund einen gebührenden Raum einzunehmen. Hierin liegt keine Entlastung von Schuld, sondern deren Präzisierung, denn sie nimmt zusätzlich all das in den Blickkreis, was getilgt und pervertiert wurde. Ein solcher Gedächtnisraum käme nicht triumphierend daher, sondern bezöge sich auf etwas, das verloren ginge, umso stärker aber erinnert werden sollte.
Die derzeitigen Kontroversen beziehen ihre extremen und immer wieder auch unnötig verletzenden Argumentationsweisen aus dem Umstand, dass sich die Legitimierung Deutschlands und Europas in der Welt nicht ohne ein gewandeltes Verständnis von Geschichte ereignen kann. In dieses Feuer ist das Humboldt Forum geraten, und das ist der Grund, warum es bisweilen wie ein Schadenfetisch behandelt wird. Aber selbst das ist eine Konsequenz seiner Bestimmung.
Die genannte Traditionslinie, aus der heraus Johann Gottfried Herder den Kulturrelativismus philosophisch zu begründen vermochte, fand seine Entsprechung in Wilhelm von Humboldts Konzept der Weltsprachen wie auch Alexander von Humboldts Begriff des Kosmos. Dieses Vorvergangene aufzurufen, um Zukunft denken zu können, geschieht offensichtlich nicht ohne Konflikte, und dies betraf bereits die Genannten selbst.“ (ZEIT vom 31.8.2017)
Es geht um das deutsche Selbstbewusstsein, mit einigen eigenartigen stilistischen Konjunktiven. Die Rolle der Ethnologie bleibt schwammig. Klar wird nur die Absicht ihrer Funktionalisierung. Natürlich geschieht diese patriotische Besinnung mit den besten Absichten und vor allem mit der Absicht, das Beste aus den ethnologischen Sammlungen zu machen. Sie wird sogar „Kulturrelativismus“ genannt. Aber es geht um „die Legitimierung Deutschlands und Europas in der Welt“. Wie kulturrelativistisch kann eine solche Legitimierung sein? Am nicht-deutschen Wesen der Welt soll das deutsche Selbstbewußtsein genesen?
Melde gehorsamst, ein solches Wesen gibt es nicht.
Vom nicht-deutschen Nicht-Wesen der Welt läßt sich sehr viel lernen, aber DAS DEUTSCHE SELBSTBEWUSSTSEIN bleibt dabei ein Rorschachtest, den man genausogut oder noch sehr viel besser an den Flecken einer abblätternden Wand ablesen kann. Da läßt es sich an fünf Fingern abzählen, daß die ehrenwerte liberale patriotische Position Bredekamps nur noch eine Option unter mehreren sein wird. Wenn es im Humboldtforum um „die Legitimierung Deutschlands und Europas in der Welt geht“, sind politische Interventionen unausweichlich. Und sie bestimmen längst das Spiel, Kreuz und Lenkungsgremium eingeschlossen. Kann ein ethnologisches Museum das aushalten? Kann es überhaupt die Aufgabe eines ethnologischen Museums sein, bei so viel Selbstzweifeln „die Legitimierung Deutschlands in der Welt“ voranzutreiben?
Die Schlußfolgerung ist klar: Es wird, wie von der Bundeskanzlerin höchstpersönlich verkündet, auf keinen Fall „nur ein Völkerkundemuseum“ im Humboldtforum geben. Dieser Satz ist als ein Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen: Wenn jedes Völkerkundemuseum „nur ein Völkerkundemuseum“ ist, wird etwas anderes als „nur ein Völkerkundemuseum“ in der Konsequenz alles sein, nur das nicht, was ein Völkerkundemuseum „nur ein Völkerkundemuseum“ werden läßt. Weder in den Teilen noch im Ganzen. Alles, nur das „nur“ nicht. Alles, nur das nicht. Das sagt unsere Bundeskanzlerin, indem sie die Schlußfolgerung den hierfür Zuständigen überläßt. Die letzte Ausschreibung für Kunst am Bau sagt klipp und klar:
Das Humboldt Forum im Berliner Schloss wird zu einem der größten und modernsten Kulturhäuser Europas. Das Haus wird die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz präsentieren, in einer Dauerausstellung die Geschichte des Ortes erläutern, Forschung und Lehre der Humboldt-Universität mit der Öffentlichkeit zusammenbringen und Berlin mit seiner Verflechtung in die Welt erklären.
Ein Kunst-am-Bau-Projekt in der zentralen Treppenhalle, die als vertikale und horizontale Verteilerzone die verschiedenen Museen und Veranstaltungsbereiche erschließt, soll diese neuen kulturellen Botschaften des Hauses vermitteln insbesondere im Hinblick auf das Thema dieses Wettbewerbs – das Humboldt Forum als „kosmopolitischer Ort“, als „Ort der Welt“. Ziel ist die Schaffung einer angemessenen Kunst am Bau in diesem Sinne.
Ich kenne keine Völkerkundemuseen mehr, ich kenne nur noch außereuropäische Sammlungen und kosmopolitische Orte. Aber dieser kosmopolitische Ort soll, bitte schön, zugleich ein patriotischer Gedenkort sein. Das Humboldtforum ist dafür glänzend ungeeignet, schließlich ist es als Substitution eines echten Ortes und als Simulakrum entstanden. Das Gebäude ist neu und erinnert, von innen gesehen, an gar nichts, außer an all die anderen Kaufhaus-Schlösser in der Provinz. Also müssen die ethnologischen Sammlungen für das Unmögliche herhalten: das, was mit einiger Sicherheit nicht deutsch war, soll Deutschland definieren, Deutschland und Europa in der Welt.
Kein Wunder, daß dieses Jahr der Kolonialismus der Sammlung auf rasante Weise in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussionen gerückt ist. Weil die Definition des Humboldtforums schon um die patriotische Selbstbesinnung am zentralen Erinnerungsort der Hauptstadt des Landes kreist, kann die Sammlung nur noch das repräsentieren, was an ihr und der deutschen Ethnologie deutsch-national gewesen ist, und das war der Kolonialismus. Diese Identifizierung geht so weit und wird mitunter mit einem solchen Duktus vorgebracht, als sei einzig und allein die Ethnologie eine Kolonialwissenschaft gewesen, und als sei die Ethnologie einzig und allein das gewesen: eine willfährige Kolonialwissenschaft. Beides ist offensichtlich falsch, wie jeder nachlesen kann, der die Ethnologiegeschichte und auch die deutsche mit ihren vielen trickreichen Protagonisten, Texten und Objekten studiert. Eine kunsthistorische Provenienzforscherin verstieg sich sogar zu der Aussage, an allen ethnographischen Objekten klebe Blut. Das klingt nach einem ungewollten Nachklang des tiefempfundenen Ekels vor ethnologischen Sammlungen mit ihren potentiell blutüberströmten Objekten. Frühere Generationen haben in den ethnologischen Sammlungen ebenfalls die Werkzeuge ungestümer Gewalttaten vermutet. Diese Vermutung wirkt unter veränderten Vorzeichen fort. Für einen kurzen Moment in diesem Sommer schien es so, als würden die deutschen Zeitungen die bedingungslose Restitution und Auflösung der ethnologischen Sammlungen befürworten, bis sich Ethnolog_innen meldeten und darauf hinwiesen, daß es bei den weitaus meisten Objekten weder das gesicherte „Zurück“ einer Restitution noch eine gesicherte Provenienz gebe, dafür prominente Fälle einer unblutigen Provenienz und eine ganze Reihe von äußerst problematischen Restitutionsforderungen. Das Lenkungsgremium wirkte in diesem Moment besonders kopflos. Kein Wunder, es hatte sich ja im Laufe der Jahre seiner ethnologischen Kompetenz entledigt. Der Kopflosigkeit folgten allerdings keine weiteren Taten, die Ethnologie bleibt von der Entscheidungsebene ausgeschlossen und wird in den öffentlichen Medien von Nicht-Ethnologen auseinandergenommen. Auch der Nagelfetisch auf dem Dach bleibt uns erhalten. Was für ein Wirbel.
Anmerkung der Redaktion: Der zweite Teil erscheint am kommenden Dienstag, den 24.10.2017.
Erhard Schüttpelz ist Professor für Medientheorie an der Universität Siegen und Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“. Er habilitierte 2003 an der Universität Konstanz über „Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Ethnologie und Weltliteratur (1870-1960)“ und promovierte 1994 mit einer sprachtheoretischen Dissertation über „Figuren der Rede. Zur Theorie der rhetorischen Figur“. Wie für einige andere seiner Generation erwies sich die deutsche Medienwissenschaft als der beste Ort, um die Grenzen von Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften und Ingenieurswissenschaften weiter auszuloten und einige dieser Grenzen durch Forschungsprojekte in gemeinsame Schwellenräume zu verwandeln. Dies geschah u.a. durch Forschungen über „Trancemedien und Neue Medien“ und das DFG-Graduiertenkolleg „Locating Media“ in Siegen, sowie durch langanhaltende Diskussionszusammenhänge zwischen Medienwissenschaft, Ethnologie, Literaturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie.