Das vergiftete Museum
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Die Edda/ M. Mauss
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Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, hat sich in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Januar Emmanuel Macrons Vorschlag zu eigen gemacht: Artefakte, die in kolonialem Kontext nach Europa gekommen sind, am Ort ihrer Herkunft auszustellen.Der Preußische Staatsbesitz mit seinem Preußischen Schloss, diesem Vintage-Sarg, der zwar nicht die ganze Welt enthält, wie es Hegel vorschwebte, so doch immerhin das Verhältnis der Preußendeutschen zur ganzen Welt, sieht sich im Schatten Frankreichs in die Pflicht genommen, international groß aufzuspielen. Denn freilich bedarf es neben den politisch legitimierten gigantischen Forschungsgeldern, damit Provenienzen rekonstruiert, Handschriften entschlüsselt, Transparenz gegenüber Mittelgebern und Souverän verbürgt werden kann (Digitalisierung), vor allem internationaler Rahmenbedingungen der Ausstellungen, die dann vor Ort mit dem – am besten vom Restituenten identifizierten – richtigen Empfänger der Ausstellungsobjekte (der auch das richtige Haus und den richtigen Umgang mit den Objekten zu gewährleisten hat) den Rücklauf regeln. Ob es sich um juristisch verbindliche Rückgaben oder Ausleihen handelt, scheint für Parzinger erst einmal sekundär (und lässt tief blicken). Am Beispiel der Plastiken des Königshauses von Benin weist Parzinger auf, dass man ja erst einmal darüber nachdenken muss, wer denn nun etwas zurückbekomme. Und ja, am besten sollten ganz viele darüber nachdenken, ganz Europa, denn dort lagern schließlich verstreut die Objekte. Man könnte fürchten, dass daraus ein europäischer Erziehungsauftrag resultiert, in dem Fall gegenüber den Nigerianern, die zuerst einmal zu Geduld und Verständnis für die deutsche Mischung aus Barbarei und Pedanterie aufgerufen werden. Die Museen müssen gebaut und betrieben werden, dabei wünscht man dem Staat Nigeria viel Spaß. Aber – und diese Hoffnung scheint durch den Vorschlag – irgendwie könnte am Museum auch eine zerrissene Nation genesen bzw. eine „imagined community“ zusammenfinden. Als ob die Rückgabe diejenigen, denen es zurückgegeben wird, allererst herstellte. Das sind, neben den musealen Beziehungen, in die sich Deutschland gegenüber dem Rest der Welt einfinden will, doch schöne Aussichten.
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Neben dem Geist der Gabe, der zur Rückgabe drängt, bleibt auch der Geist des Aufbewahrers am Objekt haften. Etwas also, das dem Objekt, zumindest in Parzingerscher Sicht, nicht zugehörte, sondern ihm im Laufe der Geschichte nolens volens zugehörig gemacht worden ist. Und das ist neben dem Friedensgeist der europäischen Demokratie vielleicht auch die europäische Institution, die sich Museum nennt, die auf ihre Verwandtschaft mit königlichen Wunderkammern ebenso verweist wie auf die idealistische Hoffnung, der erst noch herzustellenden Nation Bildungserlebnisse verschaffen zu können. Museen als Orte von Kleingeistigkeit und Erhabenem, von Gekrümel und Gedächtnis, eine sehr europäische Errungenschaft, an deren Universalität (und damit prinzipielle Unschuld) Herr Parzinger aber mehr zu glauben scheint als Herr Macron, der ja eher Museen als Franchising-Einrichtungen in die ganze Welt zu exportieren trachtet (der Louvre steht bereits in Abu Dhabi). Anhand der Museen, die man ihnen angeblich schenken, auf die man sie aber besser noch verpflichten will (mit internationalen Abkommen, der üblichen UNESCO-Gängelung etc.) spielt man die alte Kolonialisierung nach.
Um es klar zu sagen: Die Gabe ist ebenso vergiftet wie der Ort, dem sie gegeben werden soll, den sie gewissermaßen mit sich führt und aus dem man sie nicht mehr entlassen kann. Es sei denn, die Leute dürften mit den Dingen endlich anfangen, was sie wollen, was sie denken, was man vorher mit ihnen getan habe etc. Dazu würde aber gehören, dass die Nigerianer, die heutigen Einwohner Guatemalas, die Inuit, sich möglicherweise dem Imperativ der Kunstautonomie versagten. Dieser Imperativ war es unter anderem, womit der Raub selbst nachträglich legitimiert worden war, der Vergleich der Plastiken Benins mit der Kunst der Renaissance steht dafür. Wenn eine Disziplin nicht unschuldig ist, dann die Kunstgeschichte, und womöglich wissen dies ihre Priester auch: Insgeheim hoffen sie, die sich die Oberhoheit über die ethnologischen Archive und Sammlungen gesichert haben, dass im Zuge der Rückgabe das Böse aus der Kunstgeschichte selbst exorziert werde. Aber ebenso ist es möglich, dass sie ihr blaues Wunder erleben, wenn die vereinten Artefakte die für sie eigens gebauten Museen zum Einsturz bringen. (Das ist ja der letzte Traum der Kunstgeschichte, ihre Rettung als Reinigung durch das Fremde in ihr.
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Dieser Austreibungssehnsucht als postkolonialer Grundsituation habe ich in den letzten Jahren verstärkt in italienischen Museumsdiskussionen beiwohnen können. Das aus der Sammlung Cesare Lombrosos, des Gründers der Kriminalanthropologie, hervorgegangene universitätseigene Museum in Turin stand bis 2017 kurz vor der Schließung. Es ist ein vorbildliches Museum in dem Sinn, dass es Lombrosos Sammlung (samt dem Skelett des Gründers) als Herzstück unbehelligt im Zentrum belässt und in mehreren Räumen vor- bzw. nachbereitet. Diese Sammlung enthält unter anderem mehrere Schädel – also Objekte, die laut Parzinger „anthropologische Sammlungen“ auszeichnen – , teils aus kultischen Kontexten (Friedhöfe der „armen Seelen im Fegefeuer“), teils aus normalen Gräbern entwendet. Und zwar allesamt aus dem italienischen Süden, den internen Kolonien des 1861 gegründeten Nationalstaats, in dem Lombroso als Feldarzt während der Strafexpeditionen gegen kalabresische Briganten wirkte. Vornehmlich an deren Häuptern wollte Lombroso den Zusammenhang von delinquentem Verhalten und physischen Auffälligkeiten darstellen – Verbrechen, Unterentwicklung und angeborene Krankheit schien ihm der Teufelskreis des Südens zu sein, den aufzubrechen sein Anliegen war. Dass mehrere kalabresische Gemeinden hundert Jahre später die Rückgabe der Schädel ihrer früheren Einwohner und schließlich die Schließung des Museums fordern würden, war dabei abzusehen. Die Unhaltbarkeit von Lombrosos phrenologischen Mutmaßungen, der Rassismus seiner Nachfolger gegenüber den „meridionali“ (Süditalienern), die lange und häufig beschämende Erfahrung ebendieser Migranten in der Industriestadt Turin verwandelten diese Forderung in eine Gelegenheit für die Stadt, die Schuld gegenüber dem Süden ebenso sehr einzugestehen wie den Beitrag zur Hebung seines sozialen Niveaus – die Rückgabe der Schädel geriet zur Geste der Versöhnung, wodurch schließlich die Wissenschaftler das Museum retten konnten. Andererseits bewirkte die Aktualisierung Lombrosos und seiner Taten durch die kalabresischen Gemeinden seine Historisierung nach innen – das Museum wurde umso mehr Museum, je mehr Schädel aus ihm fortgeräumt wurden. Gleichwohl bleibt die Zahl unidentifizierter Schädel hoch, so dass die Vitrinen weiterhin gut gefüllt sind. Der Teufel ist ausgetrieben, es lebe der Teufel!
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Mit Blick auf Lombroso, Macron und Parzinger darf man sich die Grundsatzfrage nicht versagen: Worauf gründet der scheinbar selbstevidente Anspruch der Rückgabe historischer Artefakte und Objekte an eine ethnische, staatliche oder kulturell ausgewiesene Gemeinschaft? Im Fall der Schädel kann man immerhin einräumen, es gehe darum, die irrlichternden Toten zu befrieden, Konflikte in Schach zu halten, Erinnerung zu konsolidieren, jemand in seiner Erde zu bestatten, dort, wo ihn Nachkommen bei sich haben wollen. Wo immer auf der Welt dies möglich ist, ist dies ein legitimes Projekt, viel zu viele sind fern der Heimat verscharrt. Und wie verhält es sich mit Kulturgütern – natürlich sind auch Schädel, zu denen gebetet wird, Kulturgüter, aber um den Common Sense der Kunsthistoriker nicht zu stören, müssen wir vereinfachen – mit Plastiken und Bildern? Der Louvre ist bekanntlich eine einzige Raubkunstsammlung, und wo es nicht explizit Napoleons Kriegszüge waren, haben sich die neuen Eigner das Machtgefälle, die fehlende Infrastruktur, die geringere Bildung der anderen zunutze gemacht. „Strictly consensual“ dürfte hier kaum etwas gewesen sein. Rückgabe unter europäischen Nachbarn gilt heutzutage als überflüssig und unhistorisch zugleich; dafür erfolgt sie gegenüber Nationen, von denen man sich deutlich unterscheidet oder die nach Jahren der Gegnerschaft als gleichwertig anerkannt werden sollen (z.B. Russland). Europa anerkennt eben nur, wer sich durch Kultur (und dazu gehört ein Museum) ausweist.
Kampflos muss die Rückgabe nicht erfolgen, auch nicht ohne Gewissenskonflikte (beispielsweise Kafkas „Prozess“-Manuskript, vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erworben, auf das zugleich Israel Anspruch erhob, wo es Max Brod als Eigner und israelischer Staatsbürger aufbewahrte). Dabei hat sich die Haltung durchgesetzt, dass, wenn sich rechtmäßige Besitzer nicht mehr individualgenealogisch herausfinden lassen, der Anspruch des Kollektivs bzw. seines heutigen Rechtsnachfolgers (oder im Falle Israels seines moralischen Nachfolgers) an dessen Stelle tritt. Die Rückübereignung rückt entsprechend den Urheber des rückübereigneten Objekts in seine Herkunft ein, verordnet ihm eine kulturelle und ethnische Identität, die gegenüber der an Irrungen und Wirrungen reichen Geschichte als höherwertig angesehen wird. In gewisser Weise führt sich der Westen hier ad absurdum: An Schulen und Universitäten bringt man den jungen Leuten bei, Kultur (und Geschlecht) als „konstruiert“ aufzufassen, aber bei Restitutionsfragen verfallen Politik, Wissenschaft und Museumsleute in einen essentialistischen Primitivismus.
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Bei allem Rückgabepathos, so sehr es die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft unterstreicht, ergeben sich mithin eine Reihe kognitiver Dissonanzen oder zumindest Ungereimtheiten. Vielleicht sollte man sie nicht glatt bügeln, sondern sie als Teil unserer Weise der Weltverstrickung zu verstehen lernen, als unseren Wunsch nach Unschuld und Reinheit auch, der jedes Mal teuer erkauft worden ist (Blut wird durch Blut gereinigt, das Kreuz auf der Berliner Schlossreplika weiß es). Womöglich sollte man aber lernen, die eigene Geschichte auszuhalten, das heißt, sie als seinen unveräußerlichen Teil aufzufassen. Dann könnte deutlich werden, dass man zwar nichts zurückgeben, aber durchaus einiges weitergeben kann.
Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz demonstriert gerade das Gegenteil, indem er für die Auflösung wissenschaftlicher Archive (dies sind die Sammlungen als ethnologische) bzw. für die Entflechtung des Kunstbegriffs (anhand der nach Herkunftsregionen zu verteilenden Artefakte) plädiert. Das ist zum einen politisch arbiträr, zum anderen geschichtsvergessen, indem es u.a. die Verflechtungsgeschichte der Kunst negiert. Die Wissenschaft, die man mit dieser Politik betreibt, wird nur schlechte Wissenschaft sein, und die Politik, der diese Wissenschaft zur Seite springt, nur schlechte Politik.
Ulrich van Loyen, geboren 1978, ist nach Stationen in München, Köln, Urbino und L’Aquila Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Siegener Lehrstuhl für Medientheorie. Seine germanistische Promotion erschien als Buch 2010 („Exil und Verwandlung. Franz Baermann Steiner. Zur Biografie eines deutschen Dichters und jüdischen Ethnologen“), seine sozialanthropologische 2018 („Neapels Unterwelt. Über die Möglichkeit einer Stadt“).