Beziehungen kollaborativ kuratieren – Von verflochtenen Objekten zu verflochtenen Subjekten
Kommentar zur Ausstellung The Dead as far as [ ] can remember im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, 9.1.2018 – 19.1.2019
Restitution ist kein Projekt, das mit der Rückgabe von Objekten endet, sondern ein Anfangspunkt in der Auseinandersetzung mit kolonialen und postkolonialen Beziehungen zwischen „Bewahrer“- und „Herkunftsgesellschaften“ kolonialer Objekte. In der Ausstellung The Dead as far as [ ] can remember werden nicht in erster Linie Objekte kuratiert. Es geht vielmehr um historische und soziale Beziehungen zwischen Objekten und Subjekten, Dingen und Personen, sowie darum, unterschiedliche Interessen und Zugänge zu materiellen Kulturen anzuerkennen. Im Zentrum stehen das „Wissen über und die Kontroversen um koloniale Gewalt, antikolonialen Widerstand, menschliche Überreste und Objekte aus den ehemaligen Kolonien in Museen und Sammlungen“ (so der Untertitel). Der Leerraum zwischen den Klammern im Haupttitel deutet bereits an, was die Ausstellung beabsichtigt: Es geht darum, in der Auseinandersetzung mit der Geschichte kolonialer Gewalt viele verschiedene Perspektiven und Stimmen zu berücksichtigen. Vier verschiedene Ausstellungsteile werden hier zu vier Kapiteln eines noch lang nicht abgeschlossenen Buches. Sie sind in einzelnen Räumen um einen ehemaligen Seziersaal angeordnet, das 1790 erbaute Tieranatomische Theater. Jeder der vier Räume wurde von verschiedenen Gruppen zusammen mit dem Kurator der Ausstellung konzipiert. Die Ausstellung präsentiert ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten der Kollaboration mit Künstler*innen, politischen Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und weiteren Akteur*innen globalisierender Zivilgesellschaften. Sie thematisiert aber vor allem auch deren Beziehungen untereinander und zeigt dadurch, wie Kollaborationen zu einem konstitutiven Bestandteil einer hierarchiebewussteren und „verflochtenen“ Wissensproduktion im Museum werden können.
Das Tieranatomische Theater (TA T) gehört zum Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität und liegt versteckt auf einem Grundstück in unmittelbarer Nähe zur Charité. Als ältestes noch erhaltenes akademisches Lehrgebäude Berlins steht es unter Denkmalschutz und ruft spezifische historische Assoziationen hervor: „Wenn man in diese Gemäuer reinkommt, denkt man, hier ist ein Kurator, der atmet Humboldt ein und aus,“ so beschreibt Felix Sattler, seit 2013 Kurator des TA T, die Atmosphäre in einem Gespräch mit uns. Die Realität ist aber eine andere: „Mein Werdegang ist untypisch für einen Kurator in einem universitären Ausstellungshaus, das sich größtenteils mit wissenschaftlichen Themen auseinandersetzt, da ich gar kein Wissenschaftler bin, sondern bildender Künstler.“ Nach dem Studium in Weimar beschäftigte sich Sattler in seiner Arbeit als künstlerischer Mitarbeiter vor allem mit künstlerischen Positionen des Kuratierens und mit methodischen Zugängen aus der Bildenden Kunst und der damit häufig einhergehenden Institutionenkritik. „Daraufhin habe ich versucht, das TA T als eine Art kuratorisches Labor zu profilieren, in dem eine kuratorische Ausstellungsforschung stattfindet, die der Frage nachgeht, wie wir aus der disziplinären Praxis heraus, die dann in der Anwendung transdisziplinär wird, Impulse für Museen geben könnten, wie sie später möglicherweise sein könnten, nicht sollten.“ Die Freiheit zu experimentieren wird dadurch bestärkt, dass das TA T keine Sammlungen besitzt, die Sattler verantworten muss. Impulse für neue Narrative geben daher weniger die Objekte selbst als Beobachtungen über ihre soziale, politische und geschichtliche Verflochtenheit. Sattler sieht Künstler*innen als geeignete Partner*innen, da sie die „gewisse institutionelle Bürde“ nicht tragen müssen und freier in den Inszenierungen agieren können.
Konradin Kunze von der Theatergruppe Flinn Works nahm, angeregt durch das Projekt Schädel X – Postkoloniale Lecture Performance, mit Felix Sattler Kontakt auf. Das TA T erschien ihm aufgrund der Nähe zur Charité ein geeigneter Ort zu sein, um das Thema Human Remains aufzugreifen. Im Ausstellungsteil Mangi Meli Remains erzählt das tansanisch-deutsche Künstler*innenteam die Geschichte des Chief Mangi Meli. Dieser hatte in Old Moshi in Tansania Widerstand gegen die deutschen Kolonialherren geleistet und wurde deswegen im Jahr 1900 hingerichtet. Sein Kopf wurde anschließend vermutlich zu anthropometrischen Zwecken in die wissenschaftlichen Zentren des Deutschen Kaiserreichs entführt – wobei die symbolische Bedeutung des Schädels eines Widerstandskämpfers als koloniale Siegestrophäe wohl kaum zu leugnen ist. Wohin genau, ist unbekannt. Melis Nachfahren suchen bis heute in den europäischen Archiven und Museumsdepots, bisher ohne Erfolg. Auch sie waren an der Konzeption der Ausstellung beteiligt.
In der Mitte des Ausstellungsraumes steht eine Tonschale, in der in Melis Heimat die Häupter der Toten bestattet werden. Erst auf Knopfdruck wird die Stille im Raum beendet und eine Stimme ertönt. Sie begleitet uns – wählbar in Deutsch, Englisch oder Swahili – durch einen Animationsfilm, der auf der Basis einer Performance von Flinn Works entstanden ist und in der Schale projiziert wird. Im Hintergrund hängt das Porträt des Chief der Chagga, der uns mit selbstbewusstem, kämpferischen Blick anschaut. Der Raum ist als mobile Ausstellung angelegt, die von Berlin über Dar Es Salaam nach Old Moshi (Tansania) reisen und dort an den antikolonialen Widerstand Melis erinnern wird. Der transnationale, transkulturelle, kollaborative Kontext der Ausstellungselemente wird hier sehr deutlich betont. Vor allem aber erzählt der Raum eine so persönliche wie politische Familiengeschichte, die im Kontext kolonialer Macht und Unterwerfung begann und die ehemaligen Kolonisierten und Kolonisatoren bis heute in konflikthaften Beziehungen verbindet.
Nicht weniger eindrucksvoll machen in dieser Ausstellung auch politische und kulturelle Initiativen unterschiedliche Stimmen hörbar. Das Potenzial steckt in ihrer politischen Positionierung, die die Institution Museum oftmals alleine nicht leisten kann oder auch gar nicht leisten möchte, sowie in der Expertise, die die Initiativen beizutragen haben. Es gehe vor allem darum, so Sattler, Transparenz darüber zu schaffen, wer welches Wissen beizutragen habe. Durch Kurator*innen könne immer nur ein Bruchteil der möglichen Informationen über ein Thema vermittelt werden. Christian Kopp, Historiker und Vorstandsmitglied der Initiative Berlin Postkolonial, hat zusammen mit seinem Kollegen Mnyaka Sururu Mboro den Ausstellungsteil Breaking the Silence I – Der Zorn des Mdachi bin Sharifu erarbeitet. Er warnt davor, Aktivist*innen als Aushängeschild zu nutzen, als temporäres und externes Label, das zur Aufwertung einer Ausstellung dienen soll. Zu oft erfolge die Partizipation der Initiativen durch Kommentare, die lediglich im Nachhinein die „wissenschaftlichen“ Informationen ergänzen. Berlin Postkolonial, wie auch Sattler, fordern einen früheren Einbezug postkolonialer und zivilgesellschaftlicher Initiativen in den kuratorischen Prozess von Ausstellungen und mehr kreative Freiräume in den Projektstrukturen.
In Breaking the Silence unterstützt Berlin Postkolonial die Ausstellung in dem prozesshaften Vorhaben, die gewaltvollen, perfiden und langlebigen Mythen von der Loyalität der Kolonisierten zum Deutschen Kaiserreich in den Blick zu nehmen. In der Mitte des Raumes stehen zwei Tische, auf ihnen sind jeweils vier Fotografien aus dem Besitz des ehemaligen Plantagenbesitzers Karl Vieweg ausgestellt. Jede Fotografie wird durch einen Text ergänzt, der gewollt subjektiv den kolonialen Blick thematisiert und die Erniedrigungen aufzeigt, die auf den Bildern zu erahnen sind. Sie stehen im Kontrast zum ebenfalls hier ausgelegten Buch des Sohnes Viewegs, das die Taten seines Vaters glorifiziert. Der widerständische Aspekt wird jedoch durch die Porträtierung des Aktivisten Mdachi Bin Sharifu bestärkt, der es sich im Spätsommer 1919 zur Aufgabe machte, erfahrene Erniedrigungen und den fortlaufenden Kolonialrassismus in seinen Reden über Unsere kolonialen Vergangenheit in den Fokus zu stellen. Die Stille, die er damit brach, greift Berlin Postkolonial auf und macht es sich zur Aufgabe, den Menschen, die damals nicht gehört werden sollten, nun endlich Gehör zu verschaffen. Die Emotionalität dieser Stimmen ist auch für die Besucher*innen zu verspüren: Zorn und Frustration, die bereits im Titel anklingen, werden greifbar. Berlin Postkolonial fordert, die fortbestehenden Kolonialmythen endlich auf staatlich-institutioneller Ebene aufzuarbeiten und dieses Jahrhundertprojekt nicht länger unter prekären, hierarchischen Bedingungen an die Zivilgesellschaft und die „Betroffenen“ zu delegieren.
Auch die Aushandlungsprozesse zwischen „professionellen”, „wissenschaftlichen” Standpunkten und „nicht-wissenschaftlichen” Positionen eröffnen neue Perspektiven auf kollaboratives Kuratieren. Die Meinung anderer Beteiligter nicht zu korrigieren, sondern auch Meinungsverschiedenheiten und streitbare Punkte stehenzulassen, ist eine Repräsentationsstrategie, die explizit die Frage adressiert: Wer entscheidet, was als relevantes Wissen zählt? „Eine Schwarze Frau, die den Kanon zwar nicht von vorne bis hinten gelesen hat, dafür aber tagtäglich Erfahrungen auf der Straße macht, hat genauso etwas zum Thema zu sagen,” so Sattler. Dabei gehe es nicht darum, dass das Gefühlte und Gesagte wissenschaftlich verwertbar und vergleichbar werde, sondern darum, dass sich ein Individuum außerhalb „objektiver Wahrheiten” artikuliert.
Der dritte Raum Just Listen – Stimmen zu Erinnerungspolitik und Deutscher Kolonialgeschichte wurde von Studierenden der FU Berlin in Zusammenarbeit mit Berlin Postkolonial erarbeitet. In filmisch dokumentierten Interviews werden verschiedene Fragen zum Humboldt Forum, zum Umgang mit Human Remains und zu deren Restituierung gestellt. Die Interviewten sprechen sowohl vor aktivistischen und wissenschaftlichen als auch persönlichen Hintergründen. Da sie mindestens lebensgroß und auf Augenhöhe abgebildet sind, entsteht aufgrund der Unmittelbarkeit ein intimer Raum zwischen den Sprechenden und den Besucher*innen. Repräsentieren und Darstellen im Museum kann der Gefahr anheimfallen, zu vergessen, dass hinter den Dingen Subjekte stehen. Es wird deutlich, dass Kollaborationen zwischenmenschliche Beziehungen sind und vom Dialog leben. Manchmal muss man einfach zuhören, denn wann geht es schon noch und wann ging es jemals an öffentlichen Orten wie dem Museum um Fragen, die nur eine Person alleine zu beantworten vermag? Die drei Bildschirme, auf denen die Antworten der Interviewten zu hören und zu sehen sind, sind so im Raum verteilt, dass man sich bewegen muss, will man dem Dialog folgen – eine schöne Metapher für die geistige Beweglichkeit, der es bedarf, um andere Blickweisen zu erkennen. Auf jeden Beitrag folgt ein kurzer Moment der Stille, der zum Innehalten einlädt.
Ein übergreifendes Element der Ausstellung sind sowohl Gegensatz als auch Korrespondenz zwischen Stille und Dialog. Die Repräsentationen spielen mit einem stetigen Wechsel zwischen aktivem Kommentieren einerseits und kommentarloser Darstellung andererseits. Bezüglich der vielen Bedeutungsebenen für Besucher*innen ist besonders die Konzeption des vierten Ausstellungsraums Dead Images aufschlussreich. Der Fotograf Tal Adler zeigt in Interviews die Positionen von Museumsmacher*innen, Aktivist*innen oder First Nations Angehörigen zu Human Remains und lässt diese – unkommentiert – für sich sprechen. In dieser parallel abgespielten, vielstimmigen Installation scheint Adler bewusst auf eine explizit formulierte, vordergründige Deutung und damit, im übertragenen Sinn, auf den Bildungsauftrag der Institution Museum zu verzichten. Stattdessen verlagert er die Aufgabe der kritischen Reflektion an die Besucher*innen.
In The Dead as far as [ ] can remember werden Beziehungen kuratiert. Die Möglichkeit und Entscheidung, ohne direkten ‚Objektbezug‘ zu arbeiten und stattdessen Subjekte, die in Beziehung zu diesen stehen, in den Mittelpunkt zu rücken, schafft eine vollkommen neue Perspektive. Gerade in der Restitutions-Debatte kann dies ein befreiender Akt sein. Diese Form des Kuratierens verschiebt die Perspektive vom Materialismus und Wert der Objekte auf Relationen unterschiedlicher Ebenen. “Wir haben eine lange Geschichte, Authentizität mit Originalität gleichzusetzen. Diese Verknüpfung von immateriellen Zuschreibungen und materiellem Vorhandensein von Dingen ist sowieso etwas sehr Westliches, vielleicht auch etwas sehr Merkwürdiges, aber Mächtiges“, so Sattler. „Bei uns sind Sachen oft viel wertvoller, wenn sie in ein Museum kommen und in anderen communities sind die Objekte überhaupt nicht mehr wertvoll, sobald sie in ein Museum kommen, denn dann sind sie ja tot oder werden teilweise entwertet.“ Wieso also nicht etwas viel ‚Wertvolleres‘ in den Fokus rücken? Nämlich Menschen und deren Beziehungen – Künstler*innen, Aktivist*innen, Personen, die Diskriminierung erfahren und Involvierte, [ ]. In den kreativen und konzeptionellen Räumen können alle Beteiligten gleichermaßen in Dialog miteinander treten. Natürlich ist ein solcher Dialog häufig auch herausfordernd, man muss sich fragen, wie man mit den eigenen Überzeugungen umgeht, Andersartigkeit respektieren und nach gemeinsamen Lösungen suchen. Die Ausstellung ist für uns in ihrer Vielschichtigkeit und Multiperspektivität ein gelungenes Beispiel für diese Suche.
Jan Heidtmann, Clara Röhrig und Jana Schäfer sind Masterstudierende am Institut für Kulturwissenschaften und Ethnologie der Universität Bremen. Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Exkursion mit Michi Knecht in das Deutsche Hygiene Museum Dresden und nach Berlin. Dort fanden Gespräche mit Susanne Wernsing (DHM), Friedrich von Bose (Humboldt Lab), Larissa Förster (CARMAH) und Felix Sattler (TA T) statt.