25/06/21

„Ist die Corona-Zeit eine Episode oder eine echte gesellschaftliche Transition zu einer veränderten Realität?“

Berlin, 19. März – 30. Juni 2020

Ich bin eine 48-jährige Frau und lebe mit meiner Familie – meinem Mann und unserem 15-jährigen Sohn – in Wilmersdorf im Zentrum von Berlin. Da ich eine seltene maligne, systemische Tumorerkrankung habe und chronisch krank bin, bin ich schon vor den Museen- und Schulschließungen und den späteren Kontaktbeschränkungen, die von der deutschen Bundesregierung wegen der Corona-Pandemie ab dem 16. März ausgesprochen wurden, ab dem 8. März 2020 (also eine Woche früher) in eine freiwillige Quarantäne gegangen.

Von Berufs wegen bin ich Ethnologin und habe in dieser Funktion in den letzten fünf Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin gearbeitet und meine Doktorarbeit abgeschlossen. Außerdem bin ich Bildende Künstlerin mit einem eigenen Atelier in einem Atelierhaus des Berufsverbandes Bildender Künstler Berlin. Zum Zeitpunkt, als die Pandemie ausbrach, befand ich mich gerade in einer Zeit der beruflichen Neuorientierung und habe mich für verschiedenen Stellen beworben.

Ich bin Umbandistin, d.h. Mitglied einer im deutschsprachigen Europa relativ neuen, afrobrasilianischen Religion. Ende letzten Jahres bin ich aus einer spirituellen Umbanda-Gemeinschaft, die auch einen Ableger in Berlin hat (Ilê Axé Oxum Abalô / Terra Sagrada), ausgetreten und in eine neue Umbanda-Gemeinschaft mit Sitz in Köln (Casa St. Michael, Haus des reinen Wassers) eingetreten.

 

19. März 2020

Ich begreife es nicht. Wie kann eine Bedrohung, die in den Medien unablässig groß diskutiert wird, im Alltag so gelassen aufgenommen werden? Lesen andere keine Zeitung und informieren sich nicht oder sind sie taumelnd schicksalsoffen? Wer soll sie beschützen, wenn nicht sie selbst? Diese hippen Leute hier in Berlin glauben doch weder an Göttinnen oder Gott oder Geister, die sie retten könnten. Und soweit ich es weiß, zumindest war es in dem Terreiro[1] von Dona Zilda (in São Paulo / Brasilien, worüber ich 2002 meine Magisterarbeit geschrieben habe) so, geht keiner vom Povo de Santo[2] davon aus, dass die hiesige weltliche Welt durch die Religion abgeschafft wird, sondern vielmehr in einer Mit-Welt ergänzt und insofern in Dialoge geht, aber nicht für alles verantwortbar gemacht werden kann. Aber hier in Berlin, wo 70% der Bevölkerung atheistisch oder agnostisch sind, müssten doch alle davon ausgehen, völlig selbst für sich und die Mitmenschen verantwortlich zu sein, oder?

Eigentlich lebe ich viel eher in meiner akademischen Welt als in den Tagesnachrichten, doch das hat sich nun schlagartig geändert.

Ich lese den Tagesspiegel, eine täglich erscheinende und immer wieder aktualisierende regionale Zeitung, über eine App auf meinem Handy. Ab und an sehe ich mir auch die Tagesschau im Fernsehen oder über eine App auf meinem Handy an.

Auch ich bin ganz plötzlich aus meinem gestressten Leben geworfen worden. Ich hatte erwartet, dass, nachdem ich kurz vorher noch ad hoc zwei Vorstellungsgespräche in Museen – dem Deutschen Historischen Museum (Bewerbung um eine ausgeschriebene Stelle einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin zur Vorbereitung und Durchführung der Ausstellung „Die sogenannten ͵Gottbegnadeten΄ in der Bundesrepublik. Künstler des Nationalsozialismus in den 1950er und 1960er Jahren“) und dem Futurium (Bewerbung um eine ausgeschriebene Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Strategie und Inhalt) – hinter mich gebracht hatte, die theologische Tanztagung in Bayern („Dance with God or the Devil? Interreligious and Intercultural Debates about Dance and Religion(s)”. International interdisciplinary Conference. Neuendettelsau: Augustana. Theologische Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern mit einem eigenen Vortrag über „Beyond the Gaps of Archives. Transfer and Transformation of Knowledge in ritual Dance in Afro-Brazilian Religions”) wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden würde, aber nur ich war bereits in Panik und es gab keinerlei Anzeichen dazu. Scheinbar waren die anderen gelassen… oder schien es mir nur so? Also reiste ich bahnfahrend durchs Land bis ins heimelige Neuendettelsau, begab mich für den ganzen Tag unter Menschen, frühstückte schon morgens mit vielen an einem langen Tisch, diskutierte und hörte bei Vorträgen zu, tanzte mit allen Anwesenden während des Rahmenprogramms, unternahm einen Ausflug nach Nürnberg und sah dort die Derwische tanzen. Ich war mehr mit meinem Stress und der allmählichen Entspannung – weil alle so nett und interessant warnen – beschäftigt als mit meiner Sorge um eine schlimme Zeit. Gut, dachte ich, lass Dich besser ablenken. Nur weil es unsichtbar ist, sollte es Dich nicht beherrschen. Zu Hause stürzte ich mich in ein weiteres Projekt („Vielschichtigkeit. Künstlerische Forschung / Raum, Installation, Malerei“. Berlin: Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Impact-Förderung), das Leben rannte und rannte und ich gab mir Mühe, mitzuhalten, schaffte es zeitlich und nervlich auch.

Dann wurde meine Welt enger und kleiner, auf die Wohnung beschränkt. Die Türen gingen zu.

Ich frage mich gerade, was ich in den letzten Tagen getan habe… Offensichtlich bin ich nicht ins Home-Office gegangen. So hätte es sein sollen. Stattdessen habe ich aufgeräumt, Wäsche gewaschen, gekocht… und sonst eigentlich nur Nachrichten gelesen. Und ich habe den Eindruck, dass ich mich erst mit dem Schreiben an diesen Zeilen davon abhalten kann, weiter immer wieder neue Nachrichten aus aller Welt über die Pandemie zu lesen.

Blumen in einer Vase, Foto: ISdS.

Heute bin ich nach einer Woche Zuhause-Sein das erste Mal vor die Tür gegangen und fing an zu weinen. Mich hat es an meine Krankheiten erinnert, an meine jahrelangen Chemotherapien und vielen Operationen, die schon Jahre her sind. Wie viele Jahre? 2007 bis 2013, also sind es schon sieben Jahre her.

In Italien werden die Leichen mit Lastwagen aus den Risikogebieten gefahren, weil die Region mit der Einäscherung der vielen Toten überfordert ist. Und hier in Berlin schlendern die Leute im Sonnenschein herum. Diese skurrile Situation erinnert mich an damals, als alles schön und fröhlich aussah, aber der Tod immer mit mir umarmt spazieren ging. In dieser Zeit war ich viel unerschrockener, bin viel unter Menschen gegangen, schließlich gab es keine Ansteckung, die Krankheit tobte nur in meinem eigenen Körper, U-Bahn fahrend, singend. Das mache ich jetzt nicht. Aber vielleicht ist es einfach nur der Anfang von allem, das Singen kommt später?

 

Vielleicht ist es einfach nur der Anfang von allem, das Singen kommt später?

 

 

20.3.2020

Ich habe den Eindruck, als könnte ich monatelang in Quarantäne gehen, ohne mich auch nur annähernd zu langweilen. Abgesehen davon, dass ich nun Hausfrau und Lehrerin in einem bin, immer noch genug Wäsche zum Waschen habe, koche, aufräume und nun auch den Sexualunterricht in Ethik der achten Klasse hautnah mitverfolgen kann. Warum ich nicht weiß, was Pansexualität sei…? Au weia! Wo es doch so naheliegt, schließlich leben wir in einer Pandemie-Zeit. Der Unterricht meines Sohnes findet nun hier auf dem Familiensofa statt.

Ich rufe meine Eltern in der Uckermark an, an denen zwar nicht die Nachrichten, aber sonst alles, was Corona angeht, bislang vorbeigegangen ist. Sie sind fröhlich, besuchen ihre Nachbar*innen und wollen eigentlich, dass wir bald wie immer das brasilianische Osteressen kochen; kompliziert sei nur, dass die Läden so gut wie leergekauft sind… Aber früher, in den Nachkriegszeiten, habe es das auch nicht gegeben, nicht einmal Klopapier, sondern nur ein Plumpsklo am anderen Ende des Hofs.

Mir ist Ostern irgendwie entgangen. Heute ist wohl Freitag, oder? Mir entgleitet schon die Zeit…

Per WhatsApp erfahre ich, dass das Paar, das sich vor einigen Wochen gerade frisch getrennt und die gemeinsame Wohnung aufgegeben hat, nun in der Quarantäne durch Zufall doch wieder zueinander gefunden hat und heiraten will! Nur müssen sie gerade noch darauf warten, dass alles vorübergeht; die geschlossenen Läden und Länder, Standesämter und Restaurants.

Ich habe noch ein Peer Review zu schreiben, einen Artikel für eine Fachzeitschrift zu überarbeiten (gemeinsam mit Marcello Múscari: “Spirits beyond Meaning. Transference of historical experience in Umbanda in German-speaking Europe”) und mich auf meine Disputation (Trauma als Wissensarchiv. Postkoloniale Erinnerungspraxis in der Sakralen Globalisierung am Beispiel der zeitgenössischen Umbanda im deutschsprachigen Europa. Berlin: Humboldt Universität) vorzubereiten – wofür zwar die Thesen eh schon feststehen, weil sie in der Arbeit entwickelt worden sind – aber doch meine 500 geschriebenen Seiten in nur zwanzig Minuten verteidigt werden sollen… Die Verteidigung wird wohl auch auf dem Familiensofa vor grüner Wand im Video-Stream stattfinden. Grün, weil unsere Wand gerade frisch gestrichen wurde; vorher war sie satt gelb.

Und das habe ich noch nicht annähernd geschafft, obwohl ich in Quarantäne lebe – aber eben erst seit fast zwei Wochen. Und ich merke, dass ich emotional einfach noch nicht bereit bin, diese Arbeit abzugeben und mit Elan zu verteidigen. Mich erschreckt nicht die Aufgabe an sich, sondern eher, dass mir die Zeit davonlaufen könnte und diese innere, versteckte Welt unserer kleinen Wohnung sich wieder ins Quirlige öffnet. Obwohl ich sonst gerne draußen bin, Freund*innen treffe, schwimmen gehe, Konzerte höre, im Grimm-Zentrum lese.

In Italien sind heute an einem einzigen Tag 600 Menschen an Corona gestorben. Und gleichzeitig bekomme ich Links zu YouTube-Kanälen (vgl. Wodarg 1.4.2020) zugesendet, in denen erläutert wird, dass wir eigentlich nur alle dazu gebracht werden sollen, uns zu impfen und alles Panik sei. Aber deshalb eine ganze Wirtschaft den Bach runtergehen lassen? Kurios, dem kann ich nicht folgen.

Ich denke, dass es ums Unsichtbare geht. Dass wir es trotz allem erkennen sollen. Das Schöne und das Bedrohliche, das Leben wie den Tod. Deshalb musste ich gestern weinen, als ich auf die Straße ging. Weil ich nicht gewillt bin, den Tod anzuerkennen. Ich lebe mit einer unsichtbaren Behinderung (seit ich zwei Jahre alt bin, bin ich beidseitig hochgradig schwerhörig) und zwei unsichtbaren Krankheiten, erfahre die unsichtbaren Parallelwelten eines beseelten Aruandas[3], aber den doch scheinbar so unsichtbaren Tod will ich nicht anerkennen. Und doch tue ich es, sonst würde auch ich so sorglos durch die Sonne laufen wie einige andere. Aber es ist nicht Angst und sind auch keine negativen Gefühle, die ich damit nähre, wie mir andere WhatsApp-Nachrichten unterstellen, nein.

„You attract into your life a reflection of what you think. But you also attract into your life what you judge. If you think people are dishonest, you attract dishonest people. If you are focused on a sickness or disease, you attract more. If you focus on poverty or lack, you gain nothing more than an empty bank account. Everything you hold in your conscious thought becomes your cage and your reality. See abundance, see honesty in all embrace good.” (Weitergeleitetes WhatsApp-Post)

Für mich macht das Bild mehr Sinn, dass der Tod umarmt wird. Von mir? Eher nicht… Vielleicht ist es anders herum. Und gerade deswegen, wegen dieser Umarmung des Todes, bin ich frei. Früher fühlte sich das, im Angesicht meiner tödlichen Krankheit, widerständig an, eine sture Gewissheit zeigte sich, dass ich trotz allem leben will. Jetzt weiß ich es nicht. Emotional nehme ich es an, aber es scheint mich nicht persönlich zu treffen; ich stehe auf der Seite des Lebens. Stur! Vertrauend.

 

Ich fühle mich wie innerlich erstarrt und an meine Chemotherapie-Zeiten zurückerinnert, als das Schöne und das Schreckliche so nahe beieinander waren.

 

 

 

21.3.2020

Ich fühle mich wie innerlich erstarrt und an meine Chemotherapie-Zeiten zurückerinnert, als das Schöne und das Schreckliche so nahe beieinander waren. Entweder bin ich überaus aktiv oder lasse mich hängen; aber gerade schaffe ich es vom Sofa in die Küche und zum Wäscheaufhängen auf den Dachboden, ansonsten ziehen die Tage an mir vorbei.

Als ich heute gegen acht Uhr abends gefragt wurde, ob ich einen Text vom Deutschen ins Brasilianische Portugiesisch für einen Aufruf einer gemeinsamen Meditation übersetzen könne, hat es mich gefreut und es sogleich umgesetzt. Dann habe ich auch an der Meditation teilgenommen und mich gegen die negativen Kräfte gestellt. „Ich glaube nicht daran“, sagt meine rationale Sozialisierung, aber es hat trotzdem funktioniert. Ich wurde durch ein großes, starkes Licht durchleuchtet, das über den Scheitel meines Kopfs in meinen Körper ging und an meinen Händen wieder austrat und sich verstreute. Mein ganzer Körper war davon ergriffen. Ich finde das absurd. Was hat Pluto damit zu tun?

Freitags-Meditation anstelle der Freitags-Giras bis Ostern Casa St. Michael in Köln, https://www.facebook.com/events/216187392888541/?event_time_id=216187419555205, Abruf am 1.4.2020.

Liebe Filhos, liebe Menschen! Aufgrund der weltweiten Gesundheitssituation wird die wöchentliche Freitags-Gira in eine Freitags-Meditation umgewandelt, an der jeder von zu Hause aus teilnehmen kann. Es werden auch Affirmationen und Botschaften der Wesen gegeben. Bleibt bitte gesund und kümmert Euch verantwortungsbewusst um Euch, Eure Lieben und Eure Mitmenschen. Bleibt in Freude und Liebe, wir freuen uns darauf, Euch wiederzusehen, sobald die Situation sich entspannt hat und wir wieder Giras feiern dürfen.

Hallo ihr Lieben, hier die Anleitung zur Meditation für heute Abend 20 Uhr.

  1. Verwende deine eigene Technik, um dich in einen entspannten Bewusstseinszustand zu bringen.
  2. Bringe deine Absicht zum Ausdruck, diese Meditation als Werkzeug zu benutzen, um die Veränderung und die Transformation für unseren Planeten in Gang zu setzen, jede Krankheit, jeden Zustand von Ungleichgewicht durch die Kraft von Pluto in die richtig Zeitlinie zu schwingen, um unser Universum, unseren Planeten und uns Menschen – sichtbar wie unsichtbar – zu unterstützen.
  3. Lass den türkisenen Strahl des Lichtes von Pluto sich in Verbindung setzten mit allen Galaxien. Lass das Licht durch alle Lichtwesen und durch alle Menschen hindurch gehen, bis zu Mittelpunkt unseres Planeten, um die Bewegung von „bewahren was gut ist“ und „das zu transformieren, was zur Veränderung bereit ist“ in Gang zu setzen.
  4. Stell dir vor, wie alle Viren umgewandelt werden. Wie alle infizierten Gebiete gereinigt werden. Wie das blaue Licht durch alles durchgeht und alles auf eine positivere Zeitlinie bringt. Wie die Ängste und Panik transformiert werden und die alte Linie von Krankheit und Kriegsgeschichte zerfällt.
  5. Stell dir vor, wie wir Alle und das große Ganze sich in gleichem Maße verbinden und sich in eine positive Linie schwingen, wo wir uns selbst überwinden. Wo wir Verantwortung für uns und für das große Ganze übernehmen. Wo wir bereit sind, Wandlungsfähigkeit zuzulassen und das „Stirb und Werde“-Prinzip als Gottgeben hingenommen wird.

Überflute den Planeten mit Liebe und Vertrauen für diese große Veränderung ins neue Zeitalter. LASS DIE ERDE STRAHLEN IN WEISSEM, BLAUEN UND TÜRKISEN LICHT. Dass es sich in jeden Winkel unseres Da-Seins ausdehnt. Das wir und unsere Zellen mit Freude und Glückseligkeit überflutet sind um Gesund zu sein. Axé

Ich habe nachgefragt, aber es noch nicht erfahren… und dennoch funktioniert es, meine Vorstellungskraft ist spontan, stark und überwältigend.

Ich bemerke gerade, dass mich meine humanistische und rationale Prägung einholt. Wie kann eine Pandemie als Fake-News angesehen werden und mal eben die ganze Wirtschaft ins Wanken gebracht werden? Und wie, gleichzeitig und eigentlich als gegensätzliche Position gedacht, gibt es Meditationen zur Eindämmung dieses Virus? Es ist beides die Leugnung eines schrecklichen Zustands. Ich finde, dass wir zu Hause bleiben sollten, damit der Kelch an uns vorbeigeht. Es ist ein Trauma als Wissensarchiv, wie ich es im Titel meiner Doktorarbeit zum Ausdruck gebracht habe. Ich meine damit eben nicht die Leugnung des Leids, sondern dessen Bewusstwerdung – ohne dass ich meine, dass es neu durchlebt werden sollte, bestimmt nicht. Ich habe es schon so oft ausformuliert und es stimmt, aber ich bin noch nicht dahin gekommen, es wirklich emotional anzunehmen und im Brustton der Überzeugung sagen zu können. Ich glaube, dass wir nur MIT unserem Bewusstsein des Traumas, der Zerstörung, der Gewalt ein neues Leben aufbauen und visualisieren können – aber die Wortwahl klingt zu pathetisch… Obwohl, die Theolog*innen auf der kürzlich vergangenen Tanztagung haben auch so geklungen wie ich. Hm…

Statt die Zeit für Aufgeschobenes zu nutzen, zu schreiben und argumentieren, erstarre ich tagsüber innerlich. Ich tue praktisch ganz viel, so ist es nicht. Der Balkon sieht toll aus, alle Balkonkästen stehen wieder an Ort und Stelle, ich habe die Pflanzen aus dem Winterschlaf geholt und frisch gegossen, morgen werde ich aussähen… Die Wollwäsche des Winters ist gewaschen, die Familie gesättigt. Vielleicht fehlt mir die räumliche Abgrenzung als Mutter, die volle Bibliothek, damit ich mich auf meine Texte konzentrieren kann. Immerhin habe ich heute den ersten Abschnitt eines Textes für ein Buch formuliert. Dann ist mir kalt geworden, weil ich nur gefrühstückt hatte und zwar meinem Sohn zu essen gegeben, aber selbst nichts gegessen hatte.

Nun sitze ich noch immer neben der grünen Wand mit dem Blick nach draußen, wo es nun dunkel von der anbrechenden Nacht ist. Fast 800 Menschen sind heute in Italien an Corona gestorben, an einem einzigen Tag.

 

Jetzt sind wir wirklich global verbunden, alle zusammen ohne Ausnahme. Welch Ironie!

 

 

Meine grüne Wand zu Hause, Foto: ISdS.

 

22.3.2020

Ich kann mich nicht erinnern, dass das Wort Solidarität oder der Schutz gefährdeter Personengruppen, also alter und chronisch kranker Menschen, in den Medien oder sonst im öffentlichen Raum in den letzten Jahren irgendwie ein Thema gewesen ist… und auf einmal schon. Das ist schon merkwürdig. Sonst ist es doch eher ein Kampf um Rechte auf Inklusion gewesen; ein Kampf für die Unsichtbarkeit.

Ich selbst habe bei den verschiedenen Ämtern (Agentur für Arbeit, Deutsche Rentenversicherung, Krankenkasse, Integrationsamt) von 2014 bis 2019 um gute Hörgeräte (die die Krankenkassen nur anteilig bezahlen) und eine FM-Anlage, eine über einen Streamer mit meinen Hörgeräten gekoppelte Art Mikrophon, gekämpft und auch eine Petition beim Berliner Abgeordnetenhaus und dem Deutschen Bundestag eingereicht, was mir alles nichts genutzt hat. Die Agentur für Arbeit hat meinem Widerspruch zwar stattgegeben und bestätigt, dass ich ein Anrecht auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt habe, aber dieser Anspruch wurde nicht umgesetzt. Eine private Stiftung, die sich „Arbeit für Behinderte“ nennt, hat mir letztendlich die Geräte bezahlt. Ich wurde also wieder einmal nicht als gleichwertige Bürgerin behandelt, sondern als andersartig und „behindert“ benannt und ausgegrenzt und meiner Meinung nach weiterhin diskriminiert.

Ich weiß, was viele andere jetzt sagen würden, wenn sie meine Worte lesen: Dass ich dankbar sein sollte. Ich bin aber gar nicht undankbar, sondern ärgere mich über Diskriminierung und Ungerechtigkeit.

Mir wurde des Öfteren der Spruch an den Kopf geworfen: „Sieh doch selbst, wie Du mit Dir  (und Deinem behinderten und chronisch kranken Körper) klarkommst!“ Und nun ist die Unsichtbarkeit Thema Nummer eins auf unserer Erde. Jetzt sind wir wirklich global verbunden, alle zusammen ohne Ausnahme. Welch Ironie! Wieso konnte es nicht durch Klugheit oder Sensibilität passieren, sondern aufgrund unserer Vernachlässigungen und Unfähigkeiten?

Bulgursalat mit Radieschen, Linsensalat mit roter Bete, Tzaziki, Foto: ISdS.

Heute gab es zu den im Ofen gebackenen Hühnerbeinchen mit Kartoffeln einen Bulgur Salat mit Kräutern, Radieschen und Ras-el-Hanout, Tzaziki, einen Feldsalat mit zart geschnittenen frischen Champignons und ein Linsensalat mit roter Bete. Da wir sowieso nicht mehr rausgehen, setzten wir uns in die Sonne auf den Balkon. Heute ist ja eh Sonntag, aber auch sonst sind die Tage nicht mehr so getacktet; auch meine innere Uhr verschiebt sich wieder mehr in die Nacht, wie es früher immer war und seit der Geburt meines Sohnes, also vor fünfzehn Jahren, geändert hat und ich zu einer Tagperson geworden bin.

In Brasilien strömen die Pentekostal*innen – die diese rechtsradikale Regierung von Bolsonaro möglich gemacht haben – in die Kirchen, um sich gegenseitig mit Corona anzustecken, weil sie meinen, dass nur der Glaube sie retten kann… Mir fehlen wirklich die Worte dafür. Es tut mir geradezu körperlich weh.

In den Social Media habe ich heute gelesen: „Wir genesen nicht aus Klugheit, sondern aufgrund eines Traumas, aber egal.“ (Paolo Rumiz 20.3.2020). Wenn wir denn wirklich genesen… Ich frage mich, ob die Welt nach dieser Krise nicht einfach so weitermacht wie vorher. Natürlich wünsche ich es mir nicht, aber ich habe da so meine Zweifel…

 

Wir sind die einzigen in meinem Bekanntschafts- und Freundeskreis, die bislang tatsächlich zu Hause geblieben sind, aber seit heute sind sie wohl doch und erst durch den staatlichen Zwang nicht rausgegangen.

 

 

23.3.2020

Ich habe heute etwas getan, was ich sonst nie mache. Ich muss gestehen, dass ich es etwas anstrengend finde, aber sonst im Alltag geht es einfach gar nicht, weil es mir wirklich viel zu viel wird, weil ich mich schon über alle Maßen an die hörende Welt anpasse. Da ich gerade neue Hörgeräte ausborge, die ich wegen der einfallenden Corona-Pandemie nicht wieder bei meiner Akustikerin zurückgeben konnte, nutze ich sie nicht nur zum Telefonieren, sondern auch, um Podcasts und YouTube-Videos und auf anderen Kanälen erzählte Nachrichten und Gedanken zu hören. Zu allem möglichen, zu Corona (von Christian Drosten der Charité, vgl. Martini / Hennig 2020), dem Untergang oder der Erneuerung der Welt (Eckhart Tolle bei „Flow! Summit. Spiritualität, wie sie zu dir passt. Urban. Modern. Individuell. Das ist dein Weg zu dir, ohne starre Muster“. https://www.flowsummit.net/, Abruf am 1.4.2020), von Religionswissenschaftler*innen, Mein Grundeinkommen (als Chance in der Corona-Krise, vgl. Bohmeyer 17.3.2020) und Umbandist*innen (wie sie in Brasilien mit der Corona-Krise umgehen, vgl. Feitosa-Santana 13.3.2020). Sie werden mir direkt vom Handy auf meine Hörgeräte gekoppelt. Wahnsinn! Ich habe mein Leben lang Telefone gehasst und gemieden und alle zugesendeten Video-Botschaften und Audio-Nachrichten einfach ignoriert. Währenddessen räume ich die Wohnung auf, gehe meine alten Ethnologie-Mitschriften von meinem Studium durch, sortiere alte Ikea-Kataloge aus… Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass ich ohne diese hörende Berieselung in meinem Leben etwas verpasst hätte, aber es ist schon bemerkenswert, dass ich mich überhaupt auf diese hörende Welt einlasse.

Ich glaube, dass ich mir ab morgen wirklich einen Plan machen sollte, was ich an einem Tag gemacht haben wollte, da ich einfach so vor mich hinlebe und nun, wo es abends wird, frage, was ich überhaupt getan habe… Mir ist kalt und ich bin müde, aber bin eigentlich nur vom Wohnzimmer in die Küche und ab und an mal ins Schlafzimmer gelaufen und saß sonst lange auf dem Sofa herum – Wovon soll ich müde sein?? Wahrscheinlich habe ich vergessen zu essen, fällt mir gerade ein…

Wir sind die einzigen in meinem Bekanntschafts- und Freundeskreis, die bislang tatsächlich zu Hause geblieben sind, aber seit heute sind sie wohl doch und erst durch den staatlichen Zwang nicht rausgegangen. Sicherlich denken sie, dass wir etwas blöde sind… Ariu[4] meinte, dass ihn die anderen in seiner Klasse wahrscheinlich auslachen würden, würde es jetzt nicht tatsächlich noch ernster werden – und dass dies wahrscheinlich der Anfang von allem sei. Er ist immer sensibel und bewundernswert, schwimmt nie mit dem Strom. Er ist ja mit einer kranken und behinderten Mutter aufgewachsen, für ihn ist das die Normalität.

 

Eigentlich finde ich diesen Rückzug angenehm, endlich habe ich einfach mal Zeit und werde nicht gehetzt; wenn auch für einen fürchterlichen Grund.

 

 

Vor ein paar Tagen wollte er mit seinen Freunden rausgehen, die sich trotz Schulschließung wohl alle noch so getroffen haben und irgendwie Corona-Ferien aus dieser Situation gemacht haben. Da hat mich dann doch die Panik ergriffen und ich sagte ihm, dass das nicht ginge, weil es mein Leben riskieren könnte, da ich ja eine sehr seltene Autoimmunerkrankung habe. Genau kann ich dieses Risiko gar nicht einschätzen, da meine Krankheit eben so selten ist, aber immerhin musste ich schon durchgängig drei Jahre Chemotherapien nehmen; also vermute ich einfach mal selbst, dass Vorsicht geboten ist. Er war cool und lachte, meinte „Wenn das so ist, dann bleibe ich eben zu Hause“ und legte eine neue Runde Tanz ein. Dafür zieht er die Vorhänge zu, macht die Tür zu und hört Musik. Das macht er so gefühlte fünf bis sieben Mal am Tag. Wo ich selbst doch gerade von einer theologischen Tanztagung zurückgekommen bin und die ganzen Tage gar nicht getanzt habe.

Eigentlich finde ich diesen Rückzug angenehm, endlich habe ich einfach mal Zeit und werde nicht gehetzt; wenn auch für einen fürchterlichen Grund. Aber wieso dieser Rückzug von anderen als so dramatisch angesehen wird, kann ich nicht nachvollziehen, da ich auch für die Fertigstellung meiner Doktorarbeit für ein ganzes Jahr schreibend abgetaucht bin. Ich war natürlich sportlich unterwegs, in Bibliotheken und Theater, aber im Sommer habe ich Jamiro und Ariu einfach an die Ostsee geschickt, um in Ruhe schreiben zu können.

Stattdessen habe ich heute meinen Vertrag im Fitness-Center gekündigt, auf den ich mich gefreut und den ich eigentlich gerade verlängern wollte, da ich mich momentan viel beworben und auch zu einigen Vorstellungsgesprächen eingeladen worden bin und eigentlich auch das Geld dafür hätte haben können. Da fällt mir ein, eigentlich wollte ich gerade ins Leben aufbrechen und nach meiner Doktorarbeit mal eine richtig gute Stelle mit einer angemessenen Bezahlung haben, nachdem ich durchgängig immer und ständig idealistisch gewesen bin. Und nun juckt es mich gerade gar nicht so sehr, hier zu Hause zu sein…

Blick in den Himmel, Foto: ISdS.

Ich habe aufgehört, so viel Nachrichten zu lesen, weil mich das schrecklich traurig macht. Und auch hilflos. Ich kann nicht rausgehen und anderen helfen, weil ich dann mein Leben mehr als andere riskiere, aber ich brauche auch keine extra Hilfe von anderen, weil ich meine Familie habe. Ich darf einfach nur da sein.

Heute gab es bei uns – jetzt schon etwas zu späterer Abendstunde geschrieben und als Nachtrag zum vorher Geschriebenem – Vollkornspaghetti mit Kartoffel, Speck, Knoblauch und Olivenöl, dazu ein Feldsalat mit frischen, fein geschnittenen Champignons und Kürbiskernöl (Parmesan gab es nicht mehr zu kaufen, macht nix). In den Tagebüchern meiner Kindheit muss ich zu meinem Vergnügen lesen, dass ich ständig aufgeschrieben habe, was jeder in der Familie jeden Tag gegessen hat, was in Urlaubszeiten ja durchaus unterschiedlich sein kann, weil wir viel essen gegangen sind. Das lässt mich schmunzeln.

Mein Mann erzählt mir, dass die Straßen leer und Aldi fast leer sind, was die Einkaufenden wie die Ware angeht. Ich bin ja nicht mehr draußen, gehe nur ab und an auf den Balkon und gieße unsere Pflanzen.

 

Ich wünsche mir, dass sich diese alte Welt auflöst und eine neue Welt entsteht.

 

 

24.3.2020

Ich wünsche mir, dass sich diese alte Welt auflöst und eine neue Welt entsteht.

Ich habe endlich wieder den alten eigenen Raum, in dem ich leben kann. Ich hatte ihn, als ich als Jugendliche mit meinen Eltern lebte, weil sie meine geschlossene Tür respektierten und eh mit sich selbst beschäftigt waren. Aber immer, wenn ich rauskam, war sie da, meine Mutter; ich konnte ihr alles erzählen und sie gab mir immer praktische Antworten auf meine philosophischen und poetischen Fragen. Noch heute wird mir mein Mangel an Bodenhaftung bemängelt, den ich doch schon immer hatte. Sobald ich mal Bodenständigkeit erlangen sollte, wäre es eine Neuigkeit für mich. Ich empfinde sie nur, wenn ich nahe von Flüssen, Seen oder dem Meer bin; dann ist mir alles egal und ich lebe ausschließlich im Moment. Aber momentan gilt mein Blick dem Himmel, weil wir ganz oben wohnen und eigentlich den Blick auf die städtische Autobahn haben – aber da wir eben weit oben wohnen, gucken wir gewissermaßen auf die Autobahn hinab und eigentlich in den Himmel. Ich weiß, das ist wieder mein romantischer und gar nicht so bodenständiger Blick… aber er bewahrt mich vor der Härte des Alltags und insofern ist er doch gut.

Ich bleibe stehen und komme an. Ich renne nicht mehr wie eine Wahnsinnige!

Ich sitze inmitten von Papieren auf unserem Sofa, es sind einfach zu viele…

Die Welt endet und doch sind wir noch da.

Aber ich bin etwas zickig geworden, weil ich keine Lust darauf habe, dass ich nur positiv denken und das Leid und die Trauer nicht in mein Leben integrieren darf, wie es all die meditierenden Menschen um mich herum meinen. Ich finde Meditieren klasse, obwohl ich es eher als Tagträumen und Loslassen bezeichne, aber das ist ja egal, es sind einfach Worte und Gewohnheiten. Aber ich bin nicht dafür, Verbote auszusprechen. Und ich denke, dass alles da ist, alles, eben auch das sogenannte Negative, auch das hat Anteil am Leben.

Mein Sohn ist total faul, was seine schulischen Hausaufgaben angeht, aber ich habe auch keine Lust, seine Lehrerin zu spielen. Wenn er sich dann doch hinsetzt, ist alles so leicht und gut. Ich denke ja, dass er es verdrängt, weil es ihm Schwierigkeiten bereitet, aber dem ist gar nicht so – er findet einfach, dass andere Dinge interessanter sind.

Morgen werde ich mich der Lehre zuwenden, wie auch immer sie daherkommen mag. Ich vermeide sie ja, weil ich die Student*innen für viel klüger und belesener halte als mich selbst, aber ich kann mit der Vorstellung leben, dass es nicht darum geht, sondern darum, Räume der Diskussion und des Dialogs zu öffnen. Und ich sollte mir konkrete Gedanken darum machen, andere Formate zu nutzen, weil ich es nicht ertragen kann, so viel zu reden und nur den am Lautesten zuzuhören.

Ich bin gespannt auf den Rettungsschirm der Bundesregierung, um die Künstler*innen über den Corona Zuschuss als Soforthilfe der Investitionsbank Berlin dieser Stadt zu schützen (vgl. Corona Zuschuss 1.4.2020).

 

Ich habe viel über den Kontrollverlust in der religiösen Trance und den Selbstgewinn im Alltag geschrieben, ihn auch selbst erlebt. Nun verliere ich die Kontrolle über die Zeit, über Pläne, Zukünfte, über meinen Alltag.

 

 

Eigentlich dachte ich, dass ich die nächsten Monate mit einem von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa finanziertem Kunst-Projekt über das Thema der Vielschichtigkeit […] überbrücken könnte, bevor ich wieder ins Uni-Leben einsteige, aber nun ist alles anders geworden. Aber ich bin schon durch so viele Krisen gegangen, dass ich keine Angst davor habe. Ich finde es eher mutig und bewundernswert, dass keine Flugzeuge mehr starten und die Luft verpesten und nun alle sich mal auf sich selbst besinnen. Unsere alte Welt stirbt, das ist klar. Es könnte uns nur passieren, dass dann autoritäre Regime das Sagen übernehmen, aber momentan sind reflektierte Menschen in den richtigen Positionen der Macht, zumindest in Berlin. Ob das so bleiben wird?

Wir haben tatsächlich kein Klopapier mehr… nicht so wie die anderen, die es gehortet haben. […] Es geht ja nicht ums Klopapier, sondern um das Vertrauen in die unmittelbare Gesellschaft; ob wir essen und trinken können, wie der nächste Tag aussieht. Ich habe die Erfahrung meiner Eltern als Kriegskinder mitbekommen, aber halte auch ich durch? Vielleicht bleiben die Hamsterer ja jetzt zu Hause und es gibt doch alles wieder in normalen Maßen.

Ich habe viel über den Kontrollverlust in der religiösen Trance und den Selbstgewinn im Alltag geschrieben, ihn auch selbst erlebt. Nun verliere ich die Kontrolle über die Zeit, über Pläne, Zukünfte, über meinen Alltag. Eigentlich freue ich mich jeden Tag, dass wir zu essen und zu trinken haben. The basis of the basis. Berthold Brecht lässt grüßen! Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Die Dreigroschenoper! 1928).

Heute gab es Fisch Bordelaise mit dem Bulgur Salat und dem Linsen-Rote Beete-Salat von gestern, dazu selbst gemachter Coleslaw.

Jetzt fängt auch Jamiro an zu tanzen! Schön! Zu arabischer Musik, die einlädt. Wir trinken einen Birnen-Obstbrand und stoßen darauf an, dass wir überleben.

Wann fange ich wieder an, Bücher zu lesen? Nicht nur wissenschaftliche Bücher, sondern auch Romane? So frei bin ich noch nicht.

 

Mein Sohn sagt, dass sich seine Freunde alle draußen treffen, aber ihm sei das egal. Er versteht es, dass wir versuchen müssen, die große Welle auf die Krankenhäuser aufzuhalten, weil weltweit Tausende Menschen an Corona sterben, und dass wir das Virus zu wenig kennen, um sich auch als junger Mensch sicher davor zu fühlen.

 

25.3.2020

Ich habe heute mit meiner Mutter telefoniert, die mir ganz fröhlich erzählte, wie die Kinder juchzend im Park über die Wiese liefen und das Café Pusteblume im Volkspark Wilmersdorf, übergehend zu Schöneberg am Goldenen Hirschen, nur Außer-Haus-Kaffee und Kuchen sowie Eis verkaufen durfte, da der normale Restaurant- und Café-Betrieb wegen der Corona-Pandemie geschlossen hatte, und alle dicht gedrängt in der Sonne standen und alles schön war. Ich war schockiert und fragte sie, ob sie sich keine Sorgen mache, das zu sehen, weil wir doch in Pandemie-Zeiten lebten und nicht einmal mehr überhaupt rausgehen sollten. Da sagte sie, lachend „Ach, was soll man denn mit so kleinen Kindern schon zu Hause machen? Das ganze Ausmaß zeigt sich doch erst in zwei Wochen; ich finde es so schön, wie alle in der Sonne glücklich sind. Keiner von denen sah krank aus!“.

[…] Sie sei in verschiedenen Geschäften gewesen, um zu sehen, wo es noch Klopapier zu kaufen gebe und habe auch in einem Edeka-Geschäft am S-Bahnhof Grunewald eine ganze Packung für mich erhaschen können. Für mich? Tatsächlich brauchen wir bald mal wieder welches und es scheint keine Möglichkeit mehr zu geben, welches kaufen zu können. Sind wir die einzigen, die nicht gehamstert haben? Au weia. Deswegen mache ich mir keine Sorgen, ich möchte nur mit meiner seltenen Autoimmunerkrankung, die ja schon in normalen Zeiten schwer zu behandeln ist, überleben. Aber es geht mir gut. Nur ist es so, dass sich das schlagartig und unwiederbringlich ändern kann, von einer Minute zur anderen. Ich habe das schon erlebt und möchte es nie wieder erfahren…

Ich frage mich nur, warum meine Mutter so leichtsinnig ist und was ihr diese angebliche Freiheit des Einkaufens und draußen anderen zu begegnen bringt. Es wirkt für mich so, als wolle sie einfach aus Prinzip widerständig sein. Es macht mich traurig. Ich hatte ihr angeboten, dass mein Mann für sie einkaufen geht, stattdessen geht sie ungefragt für uns einkaufen.

Mein Sohn sagt, dass sich seine Freunde alle draußen treffen, aber ihm sei das egal. Er versteht es, dass wir versuchen müssen, die große Welle auf die Krankenhäuser aufzuhalten, weil weltweit Tausende Menschen an Corona sterben, und dass wir das Virus zu wenig kennen, um sich auch als junger Mensch sicher davor zu fühlen. Und er möchte ja mich beschützen. Da ist mein Sohn so viel klüger als meine eigene Mutter. […] Ich bin den ganzen Tag alleine mit Ariu zu Hause, weil Jamiro in unser fußläufig zu erreichendem Atelier geht. Rein theoretisch könnte ich dort auch hingehen, aber ich gehe nicht. Wieso?

Heute Morgen schreibt mir meine Doktormutter, dass sie dieses Wochenende das Gutachten für meine Doktorarbeit schreiben wird und in zwei Wochen meine Disputation (per Videostreaming oder so) stattfinden kann, damit ich dann gleich darauf eine neue Bewerbung für eine Postdoc-Phase rausschicken kann. Ich habe das bereits schon vor Monaten getan, aber sie wurde abgelehnt, da ich ja noch nicht meinen Titel „verteidigt“ habe; nun gibt es also einen zweiten Anlauf. Dann schickte sie einen Link mit den laufenden Ankündigungen wegen der Corona-Pandemie herum, doch als ich raufklicke, steht da, dass es gerade keine Disputationen an meiner Fakultät gibt. Was nun?

Ich muss gestehen, dass meine Bewerbung zwar steht, aber ich nicht viel mehr Neues an ihr bearbeitet habe; auch meine Verteidigung mit meinem Thesenpapier ist irgendwann stehengeblieben. Auch heute habe ich nicht daran gearbeitet. Ich möchte ausgerechnet in die Zukunftsforschung gehen (Religiöse Utopien und gesellschaftliche Transformation. Zukunftsforschung in neueren religiösen Bewegungen in der postmigrantischen Gesellschaft in Berlin und Köln, Arbeitstitel Postdoc-Forschung) … das passt ja zur aktuellen Krise.

Ich werde es schaffen, die Arbeit und alle Ideen und Thesen habe ich ja auf 500 Seiten festgehalten… Ich bin doch innerlich erstarrt, auch wenn ich so tue, als sei ich ganz cool. Bin ich nicht. Stattdessen habe ich heute Ablage gemacht, meine Papierberge sortiert, mit Ariu Englisch geübt, wie immer Essen gekocht. Rausgegangen bin ich nicht, habe nur eine Meise auf meinem Balkon beobachtet, wie sie das Vogelhaus inspizierte, wo schon zwei Generationen vorher gebrütet haben. Auf der anderen Seite der Wohnung klettern Eichhörnchen im Baum herum. Wir sind also gar nicht alleine.

Es gab um 18 Uhr eine große Oxumarbeit meines Umbanda-Hauses in Köln, von der jetzt noch eine gelbe Kerze auf meinem Schreibtisch niederbrennt, damit Liebe in die Welt kommt.

Große Oxumarbeit von Mãe Gabriele

Teilnahme nur von zu Hause.

Liebe ist die höchste Macht der Welt, nur mit Liebe können wir überstehen. Es geht grade jetzt nicht um Egoismus und um Einzelne, es geht um die Welt. Diejenigen, die in Selbstliebe sind, sind in der Lage, in Liebe mit den Herausforderungen der Zeit umzugehen, und sich nicht in den Strudel der Negativität und Ängste zu begeben. Die Gabe von Oxum ist Liebe und Selbstliebe. Oxum ist Exu und Exu ist Oxum.

Lasst uns den Ängsten mit dem Geschenk von Oxum begegnen. Für uns und für die Welt!

Wer namentlich in die Arbeit aufgenommen werden möchte, der wird gebeten, sich per Mail oder telefonisch bei uns zu melden. Wir bitten als Ausgleich um eine Geldspende, um die Materialien zu finanzieren und damit sich das Haus in diesen schwierigen Zeiten halten kann.

ANLEITUNG: Bitte verbindet Euch um 18 Uhr von zu Hause aus mit uns und betet und singt für Mamãe Oxum. Zündet dazu eine gelbe Kerze an (wenn ihr keine gelbe habt nehmt eine weiße)

Das Gebet von Mãe Gabriele für Oxum:

Ora yê yê Mamãe Oxum!

Meine liebste Mutter Oxum, wir rufen Dich!

Bitte erfülle unsere Herzen mit Deinem Licht der Liebe

Nimm den Egoismus von uns allen, damit wir verstehen, was wir damit anrichten

Lass dein Wasser durch uns fließen und reinige alle

Öffne und spüle unsere Augen mit reinem Wasser und lass uns das Wesentliche sehen

Erfülle uns mit Selbstliebe und hilf uns, sie auszudehnen:

ein genährter Mensch hat einen liebevollen Blick auf alle

Zeige uns, was zum Wohle aller hilft

Gib uns die Möglichkeit, uns durch Deine Liebe zu Gott zu verbinden.

Reinige unser Herz von allen Zweifeln, die zwischen uns und unserer Liebe zu Gott stehen

Lass uns an deinem Urvertrauen teilhaben und unsere Herzen von Reichtum überlaufen.

Danke minha Mãe!

Bitte lasst die Kerze abbrennen.

Axé!

In Liebe Mae Gabriele und das Team von Casa St. Michael

(https://z-m-www.facebook.com/events/210351493517131/, Abruf am 1.4.2020)

 

Ich fand, dass alles so aussah wie immer, coronaunverändert; komisch! Das hätte ich so nicht erwartet. Das Internet vermittelt mir andere Informationen über leere Städte mit vereinzelten vermummten Menschen.

 

 

 

26.3.2020

Ich schreibe heute mein Tagebuch von gestern nicht wie gewohnt abends vor dem Schlafengehen, sondern erst einen Tag danach am Morgen, weil mir gestern die Decke auf den Kopf gefallen ist und ich den Eindruck habe, gar nichts getan und geschafft zu haben. Abends bin ich dann, ganz entgegen der vorherigen Tage, kaputt ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.

Ich bin gestern nach fast drei Wochen mal wieder rausgegangen.

Mund-Nasen-Schutzmaske in einem Geschäft in der Nähe des Heidelberger Platzes, Foto: ISdS.

Obwohl, so ganz stimmt es nicht, einmal war ich ganz am Anfang der Krise am 13. März mit meinem Mann bei Aldi, einen ganz normalen Großeinkauf tätigen. […] Sprudelwasser haben wir immer zu Hause aus dem Wasserhahn und unserem Soda-Sprudler, aber Milch, Apfelsaft und Wein sind ja auch schwer zu tragen… Aber ich hatte vorher, wie immer bei einer guten Vorratshauswirtschaft, Couscous, Bulgur, Quinoa, Bohnen, rote und grüne und Beluga-Linsen und Spaghetti eingekauft, wovon die Spaghetti jetzt aufgegessen sind, aber von den anderen Cerealien doch noch etwas übrig ist.

Dann war ich an meinem 48. Geburtstag am 16. März mit meinem Mann im Volkspark spazieren, noch ziemlich erkältet. Und dann gestern wieder. Ich kam mir vor, als käme ich aus einer Höhle und bräuchte mal wieder die Sonne in meinem Gesicht. Zuerst habe ich mich auf den Balkon in die Sonne gesetzt, dann bin ich einmal um den Block gelaufen und war so erstaunt, wie es dort vor Leuten gewimmelt hat und ich regelrecht Slalom laufen musste, um niemanden im Abstand von zwei Metern zu nahe zu kommen. Die anderen achteten nicht darauf, sondern guckten mich deswegen scheel von der Seite an. Ich fand, dass alles so aussah wie immer, coronaunverändert; komisch! Das hätte ich so nicht erwartet. Das Internet vermittelt mir andere Informationen über leere Städte mit vereinzelten vermummten Menschen (vgl. Vetter 25.3.2020), aber hier um die Ecke erfreuen sich die Leute an der Sonne.

Bemalter Eingangsbereich in der Nähe des Heidelberger Platzes, Kreide, Foto: ISdS.

Und ich habe meinen virtuellen und auch einen papierenen Familienkalender genommen und geguckt, was denn in letzter Zeit so alles passiert ist; welches Datum wir haben […].

Im Januar kam, kurz nach unserer Reise zu einer brasilianischen angeheirateten Schwester und ihrer Familie in die Schweiz, die Absage meiner Bewerbung an der Humboldt Universität für ein Postdoc-Übergangsstipendium, weil ich meine Arbeit noch nicht verteidigt habe. Das war ein harter Schlag, da ich mich irgendwie darauf verlassen hatte, dass es klappt […]. Also habe ich mich in Bewerbungen gestützt und bin zwei Mal an Museen zu Vorstellungsgesprächen eingeladen worden, eine Absage kam gleich ganz schnell von der Universität Leipzig (auch wegen meiner noch nicht verteidigten Doktorarbeit) und eine Absage kam heute Morgen vom Futurium an. Eine Antwort vom Deutschen Historischen Museum steht noch aus, heute kam ein freundliches E-Mail mit der Bitte um Geduld.

Sonst genoss ich im Januar die Zeit, mal wieder draußen sein zu können, nachdem ich so lange – über ein Jahr – fast nur mit dem Schreiben meiner Doktorarbeit beschäftigt gewesen bin und gewissermaßen in einer freiwilligen Quarantäne gelebt habe. Also war ich zu Konzerten und einem Klamottentausch im Nachbarschaftshaus Wilmersdorf, zu einem Vortrag einer Freundin über die Ikonographie von Maria (Christina Zück, 17.1.2020: „Verehrt, geliebt, vergessen – Maria in den christlichen Bildkulturen“. Berlin: Katholische Akademie) und einen anderen Vortrag in der Urania über die Kraft der Kriegsenkel (Ingrid Meyer-Legrand, 20.1.2020: „Kontaktabbruch in Familien. Ein transgenerationelles Erbe?“. Berlin: Urania: Vortrag der Reihe „Trauma und Würde“) anhören, einen Geburtstag einer brasilianischen Cousine in einem mexikanischen Restaurant feiern, mit einem Freund im Museum, mit meiner Familie ins Grips-Theater gehen, mit der gesamten Familie aus Anlass des 15. Geburtstags von Ariu griechisch essen und mit meinem Sohn in Potsdam ins Kino und Burger essen bei Peter Pane. Lauter schöne Dinge tun, ausgehen.

Im Februar waren wir an der polnischen Ostsee in Swinemünde auf Usedom, wo wir einfach nur die Zeit genossen haben, stundenlang am Meer entlangzulaufen, die Stadt kennenzulernen und schön essen zu gehen. Urlaub pur. Wieder in Berlin meine Bewerbung für ein Kunst-Projekt erweitern, schreibend, organisierend. Eine sehr umfangreiche und kreative Bewerbung, aber alles ist da: ein inhaltliches Konzept, ein Finanz- und Zeitplan, Mitarbeiter*innen und eine tolle Galerie, wo ich mich persönlich vorgestellt habe. Tetê im Prenzlauer Berg.

Im März dann Hals über Kopf zur theologischen Tanztagung nach Neuendettelsau in Bayern, tolle Leute und Nürnberg kennenlernen, auf Englisch diskutierend, tanzend und selbst einen einstündigen Vortrag beisteuernd.

Das war der Anfang des Jahres 2020. Viel, aber gerade fühlt es sich viel länger an. Vor allem die letzten zwei Wochen fühlen sich ewig an. Es kommt aber auch gerade alles auf einmal, die unsichere Zukunft. Wegen der Corona-Pandemie, aber auch beruflich. Aber das wäre wohl auch so genau in dieser Form dagewesen, auch ohne Corona… Ich war ja zwei Wochen krank, jetzt geht es mir wieder gut und eigentlich wird mir jetzt alles erst klar, in diesen vier Tagen. Das ist eine kurze Zeit.

 

Kochen gibt Struktur. Und dieses Tagebuch schreiben vermittelt mir den Eindruck, dass ich tätig bin und das Leben weitergeht.

 

 

27.3.2020

Was würde ich sonst ohne Corona gerade tun? Ich würde viel Sport treiben, schwimmen und ins Sportstudio gehen, mein Fahrrad für den anbrechenden Frühling flottmachen. Rausgehen, Freund*innen treffen, um meine Rückzugszeit nachzuholen mit Ausflügen und Quatschen. Und ich würde ins Grimm-Zentrum gehen, um konzentrierter an meinen Projekten arbeiten zu können. Ich habe es jahrelang versucht, auch gut von zu Hause aus zu arbeiten, aber es ist mir nie wirklich gelungen, da ich zu Hause zu sehr Familienmensch und abgelenkt bin. Immerhin hat Ariu jetzt seine Hausaufgaben gut gemacht, ich leider nicht. Die Vorstellung, dass wir eine Art Arbeits- und Zeitmanagementgemeinschaft bilden könnten, hat sich nicht erfüllt, weil wir zu viel miteinander reden.

Aber es geht besser. Ich habe mir heute ein Kleid und ein anderes als gestern angezogen, nachdem ich nur in Leggings und T-Shirt herumgelaufen bin.

Kochen gibt Struktur. Und dieses Tagebuch schreiben vermittelt mir den Eindruck, dass ich tätig bin und das Leben weitergeht, nicht nur familiär, sondern auch irgendwie beruflich.

Liebes Tagebuch, dies habe ich heute Morgen geschrieben und dann doch nicht viel gemacht. Mir ist irgendwie klar, was ich alles machen sollte – vielleicht auch Sport zu Hause? Immerhin steht da ein Home-Trainer als stehendes Fahrrad herum, was ich mal benutzen könnte… Stattdessen habe ich die Nachrichten gehört und gelesen, was mir Angst und Bange macht. Ja, ich weiß, dass alle spirituell unterwegs seienden Leute meinen, dass wir uns nur mit Positivem beschäftigen dürfen. Die Corona-Krise hat nun die USA erreicht und wütet vor allem in Frankreich; hier in Deutschland soll sie wohl in einer Woche ankommen. Ich mag mir das gar nicht ausmalen, ist ja eh nicht gut – aber wegdenken kann ich es auch nicht.

Ich habe eine Struktur für mein Thesenpapier der Disputation ausgearbeitet; ich darf ja eh nur zwanzig Minuten reden. Es macht mich nervös, nicht zu wissen, wie sie ablaufen wird, mit welchen technischen Mitteln – immerhin muss ich mich auch über meine Hörgeräte ans System anschließen können. Aber nein, darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich philosophisch nicht so viel Ahnung habe – aber ich bin ja Ethnologin und werde auch von einem Theologen geprüft. Aber dennoch kann Habermas oder Merleau-Ponty in der Diskussion auftauchen. Ich sollte mich konzentrieren und vorbereiten, nur so kann ich einer Katastrophe vorbeugen. Stattdessen erstarre ich doch innerlich, obwohl ich mir die ganze Zeit das Gegenteil einrede. Ob das auch eine gute Funktion für mich hat?

 

Wir wussten nur alle nicht, wie diese erste Krise aussehen würde – aber, dass sie kommen würde, war doch allen klar.

 

 

28.3.2020

Mir gelingt es wirklich nicht gut, so zu tun, als hätte ich einfach Home-Office und konzentriere mich mal ebenso auf das vorher Gedachte, das Uncoronabelastete. Das verlangt ja auch niemand von mir – oder doch? Immerhin habe ich Deadlines für anstehende Projekte, die ich trotz Quarantäne wie selbstverständlich einhalten muss. Ich merke, abgesehen von meiner Unfähigkeit, im familiären häuslichen Umfeld zu arbeiten, weg von meinem Büro oder in der Bibliothek und damit einem ganz anderen sozialen Raum, wie langsam ich im Umgang damit bin.

Ich nehme nur wahr, dass sich alles verändert. Und es war schon in der Vergangenheit vorhersehbar und wurde auch ständig von allen klugen Wissenschaftler*innen vorhergesehen, dass diese Welt so nicht weitergehen könnte, die Natur ausplündernd und eben mal die Tundra, den Amazonas und andere Wälder vernichtend. Wir wussten nur alle nicht, wie diese erste Krise aussehen würde – aber, dass sie kommen würde, war doch allen klar, dass sie unausweichlich kommen würde. Und so verwunderlich ist es nicht, dass Menschen an Atemnot wie bei einem schlimmen Verlauf von Corona passiert, sterben, wenn wir vorher ganze Wälder, die ja für unseren Sauerstoff zuständig sind, mal eben so umbringen. Das ist nicht logisch, aber symbolisch wohl stimmig. Für jeden Baum ein Mensch.

Ich finde die Unterstellung, dass ich mich von meiner Angst lähmen lasse, falsch, weil es zwar durchaus so ist, aber ich eben auch viele gute Momente am Tag habe. Selbstverständlich will ich mit meiner Familie und allen Freund*innen und der ganzen Welt überleben. Aber so einfach spirituell die Augen verschließen kann ich einfach nicht nachvollziehen, angesichts der vielen Toten. Für mich passt wohl der Begriff der Ambivalenz am besten.

 

29.3.2020

Wie die Welt kleiner geworden ist, seitdem die Corona-Pandemie ausgebrochen ist. Von der brasilianischen Familie und Freundeskreis hören wir ja eh immer wieder alles Neue von der anderen Seite des Atlantiks, aber nun haben sich auch alte Schulkameradinnen aus Michigan in den USA bei mir gemeldet. Wir redeten aber nur über die Zeit, als ich 16 Jahre alt war und nicht über die jetzige global erschreckende Krankheitskrise, also vor mehr als 30 Jahren… So alt bin ich schon, dass ich von lange vergangenen Zeiten reden kann.

Gestern Abend habe ich einen Film über eine junge Frau aus einer chassidischen Gemeinschaft in Brooklyn in New York, die jiddisch und englisch sprechen, gesehen; „Unorthodox“ von 2020, einem Netflix-Film auf der Grundlage des 2012 veröffentlichten autobiographischen Bestsellers von Deborah Feldman. Sie flieht vor dem familiären Druck nach Berlin. Im Film gibt es viele Szenen vom Winterfeldtplatz, Potsdamer Platz, Gendarmenmarkt, alles Orte, wo ich in den letzten Jahren sehr viel und ständig unterwegs war. Erst über diese leichten, schönen, befreiten Bilder wurde mir klar, dass ich mich danach sehne und dass ich gar nicht weiß, wann dieses gesellschaftliche Leben in dieser Form wieder möglich sein wird.

Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich meine Eltern und meine Freundin Esther wiedersehe, wie wir sie im Grunewald besuchen und gemeinsam Kartoffelsalat essen (Typisch Traum! Wieso das?) und zu einem Klamottentausch gehen wollen. Meine Eltern finden das natürlich blöd (den Klamottentausch) und wollen uns eigentlich auf einem schönen, lauschigen Platz in der Nähe in ein indisches Restaurant einladen, da fällt mir im Verlaufe des Traumes, der sehr skurril und dicht war, auf, dass das ja alles nicht geht – dieses Sich-gegenseitige-Besuchen und gemeinsam Rausgehen. Im Traum sage ich es den anderen, dass die Restaurants eh geschlossen haben und der Klamottentausch auch ausfallen wird. Träumend frage ich: Aber wie konnte ich oder konnten wir alle es vergessen, dass wir uns auch nicht gegenseitig treffen dürfen? In diesem Moment fiel es mir erst auf, dass ich träumte und wachte langsam auf.

Wir haben uns gestern für Jamiro als Bildender Künstler in die lange Schlange für Corona-Zuschüsse der Investitionsbank Berlin gestellt, die Sofortnothilfen über die Regierung verteilt, weil Jamiro vom Museum Kurzarbeitsgeld erhält und der öffentliche Raum für Ausstellungen und in der Kulturellen Bildung, also Schulen und Kitas, wegfällt. Heute stehen noch 62640 andere vor ihm, aber wir sind schon länger als die Hälfte der Wartezeit durch…

Der schöne Sonnenschein ist vorbei, draußen wirbeln kleine, zarte Schneeflocken durch die Luft und der Himmel ist grau und verhängt. Mein Schreibtisch steht so, dass ich direkt auf unseren kleinen Balkon und den Himmel gucken kann.

 

Warteschleife des Corona Zuschusses auf dem Monitor eines Laptops, Foto: ISdS.

30.3.2020

Meine Eltern fahren weiterhin in ihr Ferienhaus in der Uckermark, wandern durch die dortigen Moore und wollen uns zu Ostern treffen. Und ich frage mich, ob ich mich selbst überhaupt irgendwie etwas von außen wahrnehmen kann, denn offensichtlich lebe ich ganz anders als vorher. Gleichzeitig denke ich, dass ich schon vorher eher stimmlos gelebt habe und einfach mehr lese als andere statt zu reden. Mir kommt diese Quarantäne-Zeit so vertraut vor, dass ich meine, dass sich mein Leben eigentlich nicht verändert hat – und doch weiß ich, dass dies Quatsch ist. Aber es ändert eben nichts an meinem Gefühl.

Ich verstehe mich selbst gerade nicht wirklich, weil ich kein Impuls verspüre, wenigstens ins Atelier zu gehen… Wenn ich mir vorstelle, dass es keine Corona-Epidemie gäbe, würde ich es schon tun. Dann würde aber auch Ariu zur Schule gehen und der ganze Alltag wäre strukturiert und hätte eine konkretere Perspektive.

Ich bin so lange, sieben Jahre, schwer krank gewesen; das hat mich tief geprägt. Mir geht es gerade gar nicht um Einsamkeit oder Langeweile, sondern einfach ums blanke Überleben.

Ich sollte dahin kommen, mir Alternativen für meinen weiteren beruflichen Werdegang zu überlegen, da ich mich ja Mitte April um eine neue Postdoc-Stelle an der HU bewerbe und ab Oktober eigentlich in die Lehre gehen sollte und wollte. Ich kann meinen Unterricht gleich in Moodle, Chats und der Aufzeichnung von Vorträgen denken; nun brauche ich meine FM-Anlage gar nicht mehr. Das ist schon absurd, da ich ja vier Jahre lang dafür gekämpft habe und der Staat sich zuletzt aus der Verantwortung geschlichen hat und eine private Stiftung diese Aufgabe übernommen hat.

Ich bin sehr verunsichert, wie meine Disputation nun tatsächlich ablaufen kann, da das Internet im Video-Stream vielleicht gar nicht mithalten kann… oder ob es irgendwie schriftlich umgesetzt wird, wie ich es mir insgeheim wünsche. Insgeheim, weil ich den schriftlichen Weg einfach bevorzuge, schon immer, und natürlich wegen meiner hochgradigen Hörbehinderung. Irgendwie fühle ich mich heute so gar nicht entschleunigt, sondern verunsichert und wacklig auf den Beinen.

 

Das war eigentlich immer der Grund dafür gewesen, weshalb ich gerne Tagebuch geschrieben habe, schon als Kind. Es sind diese Momente des langsamen Entdeckens (nicht des schnellen wohlbemerkt). Des Loslassens in den Worten.

 

31.3.2020

Ich habe mich und die Situation, in die ich vom Schicksal oder vom Weltgeschehen in der Corona-Zeit in die Quarantäne geworfen wurde, noch gar nicht wirklich vorgestellt, sondern einfach wild drauf losgeschrieben – ganz im Sinne des „strict sense“ eines malinowskischen Tagebuchs, keine konstruierten Texte zu produzieren, sondern erst im Moment des Schreibens Verborgenes meines Alltags, meines Innenlebens und meiner Wahrnehmungen zu entdecken. Das war eigentlich immer der Grund dafür gewesen, weshalb ich gerne Tagebuch geschrieben habe, schon als Kind. Es sind diese Momente des langsamen Entdeckens (nicht des schnellen wohlbemerkt). Des Loslassens in den Worten.

Die Herausgeber von Curare und des Corona-Diaries haben mich daran erinnert und ich möchte dies ich nun nachholen. Ich befand mich vor zwei Wochen und auch die Monate davor beruflich im Umbruch; eine dichte Zeit von lauter Abschlüssen und Austritten und der Vorstellung, Planung und Hoffnungen auf ein Anknüpfen an das Davor, aber eben auch emotional für mich ein Betreten von Neuland. Das hört sich jetzt beim Niederschreiben sehr ambivalent aus, weil ich es genauso fühle, aber von außen betrachtet eigentlich wie eine logische Weiterführung meines vorherigen Lebens erscheint. Es ist nur so, dass ich von meiner Sozialisation und meiner verinnerlichten Prägung, immer noch denke, dass ich ja nur eine Art von „Ausflug“ in die akademische Welt gemacht habe und die schöne Zeit dann wohl doch irgendwann vorbei sei, weil ich „endlich mal erwachsen werden“ würde. […] Aber so schreibe ich ja auch, sehr direkt und offen und so gar nicht akademisch verschroben, mitsamt den indirekten Vorurteilen gegenüber dieser akademischen Welt (das sie „verschroben“ sei!). Aber sogar Bourdieu würde mir (in seiner Reflexiven Anthropologie) zustimmen, dass wir diese eingeübten und verinnerlichten Muster und den dazugehörigen Habitus ein Leben lang nicht abschütteln bzw. abschütteln können.

Ich habe letzten September meine Doktorarbeit im Fach Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität Berlin abgegeben und hatte mich auf eine Postdoc-Stelle („Berufsziel Professorin“, Berlin: Humboldt Universität, Die zentrale Frauenbeauftragte) an dergleichen Universität beworben, wofür meine Doktormutter Regina Römhild mich vorgeschlagen hatte. Ich habe darauf bislang nur eine interne und keine direkte Absage erhalten, da meine Bewerbung wohl gut sei – so Regina – aber ich zur Bewerbung schon meinen Titel tragen müsste. Diese interne Absage habe ich am 22. Januar erhalten, einen Tag vor dem 15. Geburtstag meines Sohnes Apuan. Das hat mich ziemlich schwer getroffen, […] gerade weil ich mir diesen akademischen Lebensweg wünsche, aber nicht wirklich praktisch vorstellen kann.

 

Auch ohne den globalen Corona-Stillstand wäre dies eine Phase eines Übergangs für mich, so als ob ich einen leeren großen Raum betrete, aber nun ist alles bis ins Entgrenzte und Uferlose noch viel klarer geworden.

 

 

Und ich bin mit der Abgabe meiner Doktorarbeit aus der Umbanda-Gemeinschaft, über die ich auch meine Dissertation geschrieben habe, ausgetreten, weil ich dort keine Möglichkeit der spirituellen Weiterentwicklung für mich gesehen habe. Während alle in diesem auf Entwicklung ausgelegten System irgendwie weitergingen, ganz egal wie, wurde ich übersehen und habe das auch jahrelang zugelassen, weil ich das ja gewohnt bin. Und auf einmal konnte ich nicht mehr. Auch im Nachhinein ist dies ein sehr tiefer und radikaler Schritt für mich gewesen, da ich in meinem Empfinden über diesen spirituellen Weg – der für mich persönlich kein Widerspruch zu einer dreijährigen Chemotherapie in einer siebenjährigen schweren Krankheitsphase einer sehr seltenen Krankheit mit zeitweiligen Gehörlosigkeit einer schon vorher bestehenden hochgradigen Schwerhörigkeit, Schwindelanfällen, vielen Schmerzen und Operationen, vielen Klinikaufenthalten und Rehabilitationszeiten in Reha-Zentren in verschiedenen Bundesländern von Deutschland war – wieder urplötzlich gesundet bin, eine Spontanheilung. Ich dachte, egal was da komme, ich werde in dieser Gemeinschaft bleiben. Aber es kam anders; nach neun Jahren bin ich doch ausgetreten. Das erfüllt mich auch jetzt noch mit großer Traurigkeit, aber ich denke, dass es anders nicht geht. Die dortige Mãe-de-Santo[5] sagte einmal zu mir, dass ich mich selbst geheilt habe und es klang zwiespältig. Mir war das eigentlich egal, weil ich einfach heilfroh war, überhaupt am Leben zu sein. […] Ich bin selbst der Überzeugung, dass es tatsächlich die Aufgabe eines jeden spirituell veranlagten Menschen ist, sich selbst (und andere) zu heilen und nicht nur passiv ge-heilt zu werden, aber das ist eine andere Geschichte. Ich hoffe, dass ich diese Zugehörigkeit zur Umbanda in meinem Leben weitererzählen und -leben kann und werde, auch wenn ich es gerade praktisch nicht so klar vor meinem inneren Auge sehe.

Ich sehe da durchaus eine Parallele zu meinem beruflichen Leben. Gehe ich zurück und bin klein oder gehe ich weiter und wachse? Auch ohne den globalen Corona-Stillstand wäre dies eine Phase eines Übergangs für mich, so als ob ich einen leeren großen Raum betrete, aber nun ist alles bis ins Entgrenzte und Uferlose noch viel klarer geworden. Ist dieser Raum, der öffentlich gerade bis auf ungewisse Zeit nicht mehr besteht, dennoch da, nur anders?

Und die Menschen sterben.

Ich bin aber in ein anderes Umbanda-Haus eingetreten, das in Köln liegt. Dort bin ich mit offenen Armen aufgenommen worden […] Das Orakel von Ilê Ifé aus Nigeria, das von der Mãe-de-Santo Gabriele angerufen und durch ein mantrisches Spiel gelesen wurde, sagte, dass ich in die Tiefe gehe und Freiheit brauche. Das stimmt. Für mich ist Freiheit, das Leid und die Traumata anzuerkennen und in ein sinnvolles und glücklich anzustrebendes Leben zu integrieren – eben diese Ambivalenzen des Daseins und der Emotionen auszuhalten. Das ist eigentlich auch die Quintessenz meiner Doktorarbeit. Das scheint schon in einem gewissen Widerspruch zur Rhetorik, aber nicht unbedingt im Verhalten, der anderen Umbandist*innen zu stehen, da sie meinen, dass wir gewissermaßen nur positiv denken dürfen, um nichts Negatives über die Gedanken und Gefühle energetisch anzuziehen und dadurch (eigentlich wie im Radikalen Konstruktivismus, fällt mir gerade auf) selbst zu kreieren. Dadurch kann Heilung geschehen, im Beten, Praktizieren und Vermeiden von Negativdenken.

Ich kann diesen Gedankengang durchaus nachvollziehen und habe ihn auch schon oft in meinem Leben so erfahren, obwohl ich schon immer frei auch negativ gedacht habe. Ich sympathisiere in einer gewissen Art und Weise mit diesem magischen Denken (und mit dem Radikalen Konstruktivismus sowieso), aber ich glaube einfach, dass wir nicht alleine sind. Es gibt immer das Schaffen und Interpretieren einer eigenen Welt, aber es gibt dazu eben auch immer ein Gegenüber – der andere Mensch, eine andere Dimension, die Geschichte, lauter Idioten, die zu Präsidenten gewählt worden sind wie in den USA und Brasilien. Das ist ein Gegenüber, das ich nicht einfach wegdenken kann, weil es mir nicht passt – leider. Ich würde es so gerne. Nur weil ich es nicht sehen will, ist es ja nicht einfach verschwunden; mir scheint das ein sehr kindliches Verhalten zu sein.

In der umbandistischen Praxis sieht dann alles wieder ganz anders aus, da wird eigentlich ständig spirituell mit Schmerzen, Traumata und unerwünschten Gefühlen gearbeitet. Nun bin ich aber in Quarantäne und erhalte nur Nachrichten über WhatsApp oder Facebook, die sehr plakativ daherkommen und mich nicht ansprechen, übersetze wie auch in der ersten Gemeinschaft aus der Ferne die Gebete und Texte aus dem Deutschen ins Brasilianische Portugiesisch. Es freut mich, dass ich irgendwie nützlich sein kann. Meine heilige Sprache ist sowieso das Brasilianische Portugiesisch, es liegt mir näher am Herzen und ist gleichzeitig so wunderbar fremd und klingt so gut.

Eigentlich sollte ich gerade viel Praktisches lernen, weil mir das immer fehlt – wie ich Bäder mache, Rituale durchführe, Lieder singen übe […]. Ich brauche auch einen neuen Altar in unserer Wohnung, die momentan wegen der Renovierungsarbeiten vollgestellt ist.

Und ich habe gerade neue Hörgeräte ausprobiert, die ich wegen der Corona-Krise momentan nicht zurück zu meiner Akustikerin geben kann und mit denen ich mich irgendwie auf einmal hörend fühle, weil sie so gut sind. Ich trage sie freiwillig fast den ganzen Tag.

Ich hatte ja schon geschrieben, dass ich mich wie in die Quarantäne geworfen gefühlt habe, weil ich viel gearbeitet, gereist und sonst auch in Berlin unterwegs gewesen bin. Ich habe auch den Eindruck, dass mein Körper sehr klug gehandelt hat und mich einfach in eine dicke Erkältung verwickelt hat, damit ich schon vorher nicht rausgehen konnte, um mich vor Schlimmerem zu bewahren.

Ich wohne in einer kleinen Wohnung relativ im Zentrum von Berlin in Wilmersdorf, fast direkt am Heidelberger Platz – also genau an der Kante zu den äußeren Bezirken noch innerhalb des S-Bahn-Rings. Das Kuriose ist, dass unsere Wohnung gerade mitsamt der Elektrik sowie einer intensiven Wandverspachtelung sowie Decken grundsaniert wird – immer noch… – und daher unsere eher kleine Wohnung gerade noch kleiner wird, da zuerst das Wohnzimmer und jetzt gerade das Kinderzimmer und irgendwann später noch der Flur und wahrscheinlich die Küche auch noch renoviert wird. Das Schlafzimmer und das Bad hatten wir schon ein paar Jahre zuvor von Grund auf sanieren können.

[…] So lebe ich diese Tage der Quarantäne mit meinem Ehemann Jamiro, mit dem ich seit 21 Jahren zusammen und seit 19 Jahren verheiratet bin, und unserem 15-jährigen Sohn Ariu, in dieser Wohnung mit Blick in den Himmel. Wir sitzen fast den ganzen Tag in einem Zimmer, im Wohnzimmer und wechseln mal in die Küche oder ins Schlafzimmer, da das Kinderzimmer gerade unbewohnbar ist. Ab und an ärgern wir uns schon gegenseitig […], aber sonst lebt jeder in seiner eigenen virtuellen Welt. Wir sind sehr spätmodern im virtuellen Netz unterwegs, gerade hören wir Puccini gesungen von Cecilia Bartoli per YouTube aus Italien. Und kochen und essen zusammen.

Blick vom Balkon, Foto: ISdS.

Mein brasilianischer Ehemann Jamiro backt nun schon das dritte Mal seit meinem Geburtstag Käsekuchen. Ich betone das, weil ständig alle deutschen Hausfrauen davon berichten, wie schwierig es ist, einen schönen Käsekuchen zu backen… Ich kann es auch nicht und habe es wegen dieser blöden Sprüche ehrlich gesagt auch nie ausprobiert, bin aber auch keine deutsche Hausfrau! Jedenfalls ist der von meinem Mann total köstlich! Ob es auch ohne Internet so friedlich hier wäre? Ich würde vermutlich Bücher lesen.

Ariu meinte heute, dass ich ihn wieder erinnern soll, dass er regelmäßig seine Zähne putzen soll, weil er es vergisst, weil er ja nicht mehr rausgeht und kein gewohntes soziales Leben mehr hat. Er genießt es sonst zu Hause, auf einmal habe ich viel mehr Zeit, mit ihm zu reden… Um seine Energien lässt er raus, indem er […] alleine in einem der Zimmer tanzt.

 

Hier in Wilmersdorf scheint es niemand sonderlich zu kümmern, dass die Menschheit global stirbt und finden es sehr widerständig, sich dennoch zusammenzuscharen und nicht so viel körperlichen Abstand zueinander einzunehmen.

 

Ich merke gerade, dass ich mir die Dinge von draußen von meinem Mann erzählen lassen – ob die Leute mit Mundmasken herumlaufen oder nicht, ob er jemanden getroffen hat und wie viele immer noch sorglos die Sonne genießen, weil Corona ja unsichtbar ist. Hier in Wilmersdorf scheint es niemand sonderlich zu kümmern, dass die Menschheit global stirbt und finden es sehr widerständig, sich dennoch zusammenzuscharen und nicht so viel körperlichen Abstand zueinander einzunehmen. Ich bin wirklich für Liebe und Umarmungen, aber ich vermute, dass es sich doch tatsächlich um ein Ausmaß an Krankheit handelt, vor dem wir Menschen Respekt haben sollten, damit sie uns nicht umbringt.

Dennoch verspüre ich innerlich – und ich kann es nicht wirklich deuten – die klare Abwehr, überhaupt rauszugehen. Ich DENKE eher, dass ich es tun sollte als dass ich es dann tue. Wahrscheinlich hat das einfach mit meiner langen Krankheit zu tun, die ja als chronische Krankheit in mir schlummert. Ist schon logisch. Ich finde, dass mein Denken da sehr langsam ist, lasse aber einfach meinen Körper über diese Lage entscheiden.

Heute hat Ariu seine Hausaufgaben für Kunst und Mathematik erledigt; ob er den Rest bis zum Ende der Woche schafft?

In Berlin soll jetzt das Estrel, ein großes Hotel in Neukölln in der Nähe eines ebenso großen Krankhauses, des Vivantes, in ein Krankenhaus umfunktioniert werden (vgl. Heine 31.3.2020); immerhin hat es Zimmer mit Betten, eine Struktur und momentan nicht arbeitendes Personal, eine eigene Wäscherei und eine große Küche – und bislang hat alles bestens funktioniert. Da nun die ganze Stadt touristenleer ist, würde das gut passen. Ich muss gestehen, dass ich ziemlich über die Politiker*innen überrascht bin, die mir sonst nicht so nahe und nicht halb so kompetent vorkamen wie jetzt. Berlin verstand sich zwar immer als der Nabel der Welt, war aber gleichzeitig ziemlich verträumt – und jetzt läuft alles wie am Schnürchen.

Der Maler Martin, der gerade Arius eine Wand grün und die anderen weiß bei uns zu Hause gestrichen hat, sagte heute zu mir, dass die Pandemie vielleicht einfach an uns vorbeigehen werde, weil in Berlin ja bislang lediglich 19 Personen daran gestorben sind, halb wünschend und halb hoffend, aber wer weiß das schon? Immerhin haben sich alle ziemlich dicht auf den Wiesen und Parks getummelt, als es schon längst Kontaktverbot gab. Das alles fing an meinem Geburtstag am 16. März an…, das war der erste Tag, als die Schulen geschlossen wurden und wir ganz vorsichtig durch den Park liefen und ich eigentlich noch krank gewesen bin.

Heute war der erste Tag, als mein Mann mit Mundschutz zu Aldi einkaufen ging. […] Er will es absolut nicht, dass ich einkaufen gehe, weil ich mich dann anstecken und womöglich sterben könnte. Ich fühle mich ja fit fidel, aber ich habe durchaus die Erfahrung gemacht, dass sich das ganz schnell ändern kann. […] Ob alles an uns vorbeigeht? Ich glaube es nicht. […]

 

Ich frage mich, was daraus wird? Ein neues Modell des Lebens, in dem wir auf einmal alle umweltbewusst werden und die Erde doch retten wollen? Oder autoritär und kontrollierend?

 

 

1.4.2020

Ich finde es nicht so dramatisch, mal drei Wochen zu Hause zu bleiben, was jetzt ja um weitere drei Wochen verlängert wird bis zum 19. April. Eine Freundin von mir beklagt sich über Langeweile, obwohl sie eine eigene Praxis hat, die gut läuft, weil sie abends und am Wochenende nicht ausgehen kann.

Ich kann es schon nachvollziehen, dass sich nun die Zeitungen und Online-Services umstellen und überlegen, wie der Alltag zu Hause gestaltet werden kann und finde es auch durchaus sinnvoll. Nur brauche ich es persönlich und familiär nicht; auch ohne Corona-Krise haben wir täglich warm, regional und grundsätzlich (also Kartoffeln und Tomaten statt Fertigprodukte) gekocht und andere fanden das eher merkwürdig, auch sonst waren wir einfach mal so zu Hause […].

Diese neu aufblühenden virtuellen Welten sind schon eine interessante Ablenkung und gut. Aber bei mir ist es die Grundlage des Lebens; was mich bewegt ist, ob wir es überleben werden und wie lange dieser Zustand anhält. Was ich so heraushöre, ist, dass es sich vielleicht nicht nur um die Zeit vor und um Ostern handelt, sondern darüber hinausgeht. Das ist doch das wirklich Bedenkliche und Beängstigende; dass es eine unsichtbare Bedrohung gibt, die auf einmal alle wahrnehmen und nicht so, wie andere Tragödien in der Welt – sei es der Klimawandel, Kriege oder das Sterben von Kindern weltweit – als selbstverständlich für eine liberale Weltordnung angesehen werden. Und dass diese neue Ordnung verlängert wird. Ich frage mich, was daraus wird? Ein neues Modell des Lebens, in dem wir auf einmal alle umweltbewusst werden und die Erde doch retten wollen? Oder autoritär und kontrollierend?

Immerhin dürfen wir uns noch zu Hause als Familie umarmen.

Meine Disputation kann erst Ende des Monats durchgeführt werden – und das Prüfungsbüro ist ganz zuversichtlich, dass dann alles wieder wie vorher ablaufen kann, also als normal durchgeführte Disputation mit den Prüfer*innen und der Öffentlichkeit vor Ort.

 

2.4.2020

Ich räume die ganze Zeit auf, sortiere alte Zeitschriften aus und fühle mich in meine Kindheit und Jugend zurückversetzt, als ich noch so viel Zeit hatte, um tagzuträumen, vor mich hinzumalen (ohne Erwartungshaltung) und das zu lesen, wozu ich gerade Lust hatte. Das Einzige, was anders ist, ist, dass ich täglich koche – was sonst meine Eltern übernahmen. Die Tage plätschern so vor sich hin.

Heute habe ich mal wieder den Versuch unternommen, etwas zu strukturieren. Nachdem ich […] einen Antrag für die Corona-Soforthilfe formuliert habe, bereite ich alle Unterlagen für die Steuererklärung von 2019 vor und besorge mir meine lebensnotwendigen Medikamente, ohne die ich verdursten würde (ist schon merkwürdig, dass Corona Menschen ersticken lässt und ich eine Krankheit habe, die mich verdursten lassen kann), online und mit der Bitte, dass mir das Rezept nach Hause geschickt werden soll. Ich bin also noch voll in dem Modus des Zuhause-seins und gar nicht des Home-Office, was mich eigentlich ärgert, aber wohl an meinen alten Gewohnheiten liegt. Endlich gab es mal wieder Wäsche zu waschen, haha! Beim Wegfall des sozialen Lebens brauchen wir ja nicht ganz so viel Wäsche wie sonst… Immerhin habe ich festgestellt, dass ich noch keine Deadline verpasst oder verbummelt hätte, das passiert erst in ein paar Tagen.

 

Kurios ist, dass es in unserer Familie genau umgedreht passiert, als wie ich es mir vorgestellt habe: Meine Eltern im Alter in ihren 70ern denken gar nicht daran, zu Hause zu bleiben, sondern gehen widerständig und freiheitlich denkend spazieren, mit dem Auto zu den schönsten Seen herumfahren und einkaufen; sogar nach Schnäppchen suchen sie immer noch wie alle guten Kriegskinder.

 

 

3.4.2020

Kurios ist, dass es in unserer Familie genau umgedreht passiert, als wie ich es mir vorgestellt habe: Meine Eltern im Alter in ihren 70ern denken gar nicht daran, zu Hause zu bleiben, sondern gehen widerständig und freiheitlich denkend spazieren, mit dem Auto zu den schönsten Seen herumfahren und einkaufen; sogar nach Schnäppchen suchen sie immer noch wie alle guten Kriegskinder. Das ist so lieb und verständlich. Mir haben sie jetzt doch telefonisch versichert, dass sie dabei niemanden zu nahekommen und auf ihre Gesundheit achten, ganz artig und so, als sei ich ihre Mutter und nicht sie meine Eltern. Aber wieso sollte sich das ausgerechnet im höheren Alter ändern, wenn es vorher schon nicht anders war? Sie sind sehr berlinerisch eigensinnig und 68’er rebellisch.

 

Zu Ostern wollen uns also meine Eltern unbedingt irgendwie treffen und dabei ihr griechisches Lieblingsrestaurant Santorini aus Charlottenburg mit Take Away unterstützen, mein Sohn stellt sich aber klar dagegen. Er will nicht am Tod seiner lungenkranken Oma schuld sein!

Unser Sohn hingegen, 15-jährig, redet mittels aller möglichen virtuellen Kanälen mit seinen Freunden, spielt online, tanzt zwischenzeitlich den halben Tag in seinem Zimmer und bespricht auch die Corona-Zeit mit ihnen. Und entgegen der meisten seiner Freunde, die doch irgendwie noch die letzten Minuten genutzt haben, auf dem Tempelhofer Feld zu sein oder ihre Freundin zu treffen, lehnt er es strikt ab und erläutert mir als seiner Mutter (und nicht umgedreht) ganz klar, dass es ja nicht nur um die jeweilige Risikogruppe oder eine direkte Ansteckungsgefahr geht, sondern darum, das Gesundheitssystem nicht mit so vielen angesteckten Menschen an alten und vorerkrankten Menschen zu überfordern und damit Menschenleben zu retten. Ich wunder mich: Habe ich ihm davon erzählt oder hat er es aus einer anderen Quelle? Wieso imitiert er mich in meinem Tun gegenüber meinen Eltern; habe ich meine Rolle und Generation nicht genug reflektiert und seelisch bearbeitet? Ich bin ja eigentlich so stolz auf ihn, aber fühle mich komischerweise unbeteiligt daran. Aber das habe ich auch schon bei anderen Dingen nicht beachtet, weil ich mich selbst als Vorbild gar nicht wahrgenommen habe. Erst nachdem ich ihn beachtete habe, wurde mir in einem späteren Moment klar, dass er vieles doch von mir übernommen hatte […]. Meine Mutter sagt immer zu mir, dass die nächste Generation schlauer ist, das gehört zur Natur des Menschen dazu. Dann ist ja alles gut!

Zu Ostern wollen uns also meine Eltern unbedingt irgendwie treffen und dabei ihr griechisches Lieblingsrestaurant Santorini aus Charlottenburg mit Take Away unterstützen, mein Sohn stellt sich aber klar dagegen. Er will nicht am Tod seiner lungenkranken Oma schuld sein!

Und ich? Ich will unbedingt unbeschwert und solidarisch mit meinen Eltern Ostern feiern (Oh nein, das ist ja prototypisch für Kriegsenkel*innen!! Kann ich nicht aus meinen Mustern hinausspringen?), bin aber innerlich ängstlich und umgehe also das Thema so gut wie möglich. Aber Ostern kommt ja doch daher… Wann? In einer Woche.

 

Aber ich frage mich, wieso die Mächtigen in dieser Welt nun auf einmal auf eine Katastrophe Rücksicht nehmen und es nicht schon vorher für andere Katastrophen waren. Es hat vorher doch niemanden interessiert, wenn viele Menschen gestorben sind.

 

Ich kann sie nie richtig zuordnen, meine Erschrockenheit und meinen dämlichen Unmut, zu etwas zu stehen. Da las ich durch Zufall Sarah Ahmeds aktuellen Eintrag in ihrem Blog Feministkilljoys:

„I want to share some quotes from a testimony given to me by an indigenous woman academic. She talked to me about how the project of surviving the violence of colonial occupation led her both to complain and not to complain. Both actions – complaining and not complaining – were for her about survival, not just her own survival, but the survival of her family; her people. She said: „It is possible I learned very early that in order to keep my job and to have a stable income… that I better just keep my mouth shut, and learn how to avoid these encounters, to protect myself, and to keep quiet about it“. For many, surviving institutions requires trying to avoid “these encounters” that you recognise because they happen. You try to avoid them by being silent about them if they happen or because they happen. Not to be silent, speaking out, speaking up, can be to turn yourself into a target. No wonder some refuse to refuse to be silent – if your family, your people, have been targeted, you might lay low, be quiet, not complain, or not do anything that might be heard as complaint; doing what you can to survive.“ (Sara Ahmed 23.3.2020)

So genau fühlt es sich für mich an. Ich bleibe ganz still und unscheinbar in der Hoffnung, dass der Kelch an uns vorübergehen möge und mich Corona einfach nicht mit meiner seltenen Autoimmunerkrankung erwischt. Wieso zitiere ich hier ein biblisches Zitat? Ist es denn ein Schicksal, dass ich an meiner Krankheit sterben soll? Wohl nicht… Ich bin einfach nicht mehr besonnen.

Aber ich frage mich, wieso die Mächtigen in dieser Welt nun auf einmal auf eine Katastrophe Rücksicht nehmen und es nicht schon vorher für andere Katastrophen waren. Es hat vorher doch niemanden interessiert, wenn viele Menschen gestorben sind.

Gute Nacht! Wir haben heute am Morgen 5.000€ Soforthilfe als Künstler der Investitionsbank Berlin der Berliner Landesregierung erhalten, womit wir die nächsten Monate gut leben können. Vielleicht können wir damit ja die Zeit überbrücken, bis ich meine neue Stelle an der HU erhalte; wenn ich sie denn erhalte. […].

 

5.4.2020

Nun habe ich zwei Tage lang nichts geschrieben… Was soll ich sagen? Gestern hat mich die Sehnsucht gepackt, bei solch einem wunderschönen Wetter mit strahlender Sonne am blauen Himmel rauszugehen; dann dachte ich an all die scheinbar so sorglos herumlaufenden Menschen und bin zu Hause geblieben. Ich redete mir ein, dass ich arbeiten müsse, kam aber zu keinem klaren Gedanken. Ich habe dann, als ich unter der Dusche stand, um meine Lebensgeister wieder zu erwecken und meinen unterkühlten Leib vom zu vielen Auf-dem-Sofa-sitzen aufzuwärmen, meinen Marinheiro[6] befragt, was ich mit mir selbst und meiner momentanen Lustlosigkeit anfangen solle, die ich so gar nicht von mir kenne. Und obwohl ich ihn erst zwei Mal selbst inkorporiert habe, war er sofort da, körperlich ganz klar wankend auf seinen Beinen und diese eher gefühlte und unumwundene Sprache sprechend. Er meinte, ich solle tanzen, mich lustig betrinken und nicht so viel nachdenken! Ich solle aufhören, immer so fleißig zu sein, das nerve (haha!). Aber ansonsten sei alles gut, ich bin geschützt und aufgehoben in der Welt. Also habe ich getanzt und bis spät nachts einen skurrilen Film über Sigmund Freud gesehen.

Ich meine ja, dass meine erste sehr spontane und heftige Inkorporation der spirituellen Wesen der Marinheiros in Cumuruxatiba in Bahia, Brasilien im März 2017 eine weibliche Marinheira und kein Marinheiro war; sie lachte und drehte sich und fühlte sich für mich sehr weiblich an. Was daran weiblich war? Sie war sehr vertraut, gleichzeitig sehr sorglos und besonnen und doch ganz ernst; tanzend.

Bevor ich meinen Marinheiro in einer Gira[7] inkorporieren konnte, ist er 2009/2010 die allererste spirituelle Entität der Umbanda gewesen, die zu mir gekommen ist, indem ich monatelang immer wieder den gleichen sich wiederholenden Traum geträumt habe, alleine auf einem kleinen Boot inmitten des endlosen Meeres zu sitzen und die dunkle und hohe Gicht an die Wände des Boots sich platschen zu sehen. Ich wusste, träumend, dass ich durch das große Meer der Göttin Iemanjá[8] fuhr und war, trotz der eher verstörenden Ansicht, ganz ruhig und zuversichtlich in mir. Ich fuhr einfach und fuhr und fuhr; nichts weiter passierte. Ich war todkrank, mein Onkologe agierte behutsam mit den verschiedenen Chemotherapien, weil meine Krankheit so selten ist. Als ich ihn unerschrocken fragte, wie denn meine Überlebenschancen seien, da meinte er, dass er in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit als Arzt vor mir nur einen alten Mann mit dieser Krankheit kennengelernt habe, der dann auch gestorben sei – aber er wusste dann nicht, ob dies an der Krankheit oder durch das hohe Alter passiert sei. Ok, dachte ich mir, das stehen mir ja nun alle Türen und Möglichkeiten offen.

Das, was ich da in diesem Holzboot träumte, war mein Marinheiro, der mit Iemanjá lebt. Ich wusste das, obwohl ich nur seinen Begriff kannte, den Matrosen. Ich hätte ja vorher behauptet, dass ich gar keinen Bezug zu Matrosen habe, aber in diesen täglichen und sich immer wiederholenden Träumen, die sehr einfach und geradezu langweilig in ihrer Wiederholung waren, war mein Bezug ganz klar da, mit sehr viel Liebe und sehr viel Zuversicht.

Da streiten sich immer wieder mein Kopf mit meinem Herzen, denn mein Kopf findet vieles kitschig, unlogisch und an den Haaren herbeigezogen, weil ich doch von meiner deutsch-polnischen Herkunft her keinen Bezug zur Umbanda habe. Meinem Herzen ist das egal, Liebe ist Liebe.

Die Bäume am Fennsee, Foto: ISdS.

Heute waren wir draußen am nahe gelegenen Fennsee spazieren und ich war wirklich überrascht, dass sich die Leute beim Spazierengehen nun doch an den Abstand von zwei Metern halten! Das war vorher nicht so – und dass bei diesem überwältigend schönen Wetter. Später haben wir auf dem Balkon gegrillt, Beluga-Linsen-Chicorée-Salat und Kartoffeln zu gegrilltem Fleisch und gegrillten Tomaten gegessen und damit die bescheidene Grillsaison eröffnet. Bescheiden, weil wir keinen großen Garten mitsamt Haus haben, sondern einen winzigen Balkon.

Ich finde, dass wir als Familie sonst viel mehr streiten als jetzt, wo wir ziemlich aufeinander hocken. Sonst geht es mehr um Verantwortlichkeiten und wer wie lange draußen ist und Freund*innen trifft oder nicht; jetzt sind diese Themen gestrichen.

Mein Kalender ist sonst proppenvoll mit lauter Erinnerungen an praktischen und kleinen Dingen, die ich zu erledigen habe. Nun steht da tagelang nur ein Wort: Corona-Pandemie.

Ariu findet diese nicht organisierte Zeit immer noch wunderbar, er hat nicht einmal Sehnsucht danach, nach draußen zu gehen. Stattdessen unterhält er sich auf einmal mit uns über Politik! Sehr schön. Dann haben wir all die Kunstwerke, Hausaufgaben und erstmal selbst von ihm auf dem Computer geschriebenen Texte eingescannt und als pdf-Datei von ihm umgewandelt, um sie seiner Klassenlehrerin zu schicken.

Meine Eltern sind vorbeigekommen und haben uns frische Eier vom Land, Salbei und Pimpinelle zum Einpflanzen auf dem Balkon aus der Uckermark mitgebracht und ich habe ihnen von weitem zugewinkt. Meine Mutter hat schöne, geblümte Mundschutze für uns genäht.

 

6.4.2020

Als ich Ariu gestern meine politische Meinung und Einschätzungen erzählte und ich innerlich ganz erleichtert war, dass ich das so wunderbar hinbekommen hatte, da ich sonst im Alltag zwar immer in der vollgestopften U- und S-Bahn die aktuellen Nachrichten des Tagesspiegels auf dem Weg zur Arbeit auf meinem Handy lese (weil das so altmodisch mit ausgebreiteter Tageszeitung bei so viel Gedränge gar nicht geht, schon gar nicht als Frau mit nicht ausgebreiteten Beinen), aber sonst nicht unbedingt alles mitbekomme, weil ich gar keine Zeit dazu habe, sagte mein Sohn nach einer Weile, auf dem Balkon in die Sonne blinzelnd: Mama, kannst Du das noch einmal wiederholen, da an der Stelle, wo Du Deine politische Überzeugung erläutert hast; das war irgendwie so komplex und habe ich nicht richtig mitbekommen?! Mein Mann kaut genüsslich an seinem gegrillten Fleisch und meint nur, als ich ihn zum Reden auffordere, ach, du machst das wirklich sehr gut! So werden hier die Komplimente verteilt, hm…

Ariu meinte heute Morgen, dass er ab heute endlich Osterferien hätte! Und ich habe es gar nicht mitbekommen, dass sich etwas verändert hätte… Statt einen Lagerkoller zu bekommen, freut er sich! Das liegt sicherlich am vielen Tanzen. Heute bin ich dann immer, wenn mir kalt wurde, auf unseren Hometrainer, für mich eher ein stehendes Fahrrad, gegangen und habe mich bewegt. Das hatte ich zwar schon die Tage davor entdeckt, aber ich war nur sehr sporadisch dabei. Dass ich mich mal mit diesem Teil anfreunden würde, hätte ich vorher nicht für möglich gehalten. Wenn ich in meiner emsigen Lebensweise etwas nutzen würde, was einfach stehenbleibt, wenn ich doch auch auf einem normalen Fahrrad, das mich durch die Straßen Berlins trägt, meine Muskeln betätige, dann wäre wohl etwas nicht mehr in Ordnung mit mir, hatte ich mir immer gedacht. Nun, dieser Zeitpunkt ist jetzt wohl eingetroffen.

Dafür lief ich heute wieder in Leggings mit T-Shirt rum und habe mir kein Kleid oder Rock angezogen, um mich wie in einem echten Home-Office zu fühlen.

Ariu freut sich, dass er auf einmal so viel Zeit mit mir verbringen kann. Und ich muss gestehen, dass wir uns vorher nicht so viel unterhalten konnten nebst all der vielen Aktivitäten der Tage und des Haushalts. Ich komme mir etwas wie in den ersten Lebensjahren von Ariu zurückversetzt vor, als ich in Elternzeit mit ihm war.

Ich werde jetzt ständig zu Zoom-Partys und Zoom-Diskussionen eingeladen und muss mich wohl oder übel mal herantrauen, wenn die Pandemie sich dann doch noch verlängert. Bislang bin ich nur einem Gedichtetausch per E-Mail und einem Büchervorschlag auf Facebook gefolgt. Zuerst wollte ich eines meiner Lieblings-Shakespeares Zeilen

„She should have died hereafter | There would have been a time for such a word. | Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow | Creeps in this petty pace from day to day | Tot he last syllable of recorded time | And all our yesterdays have lighted fools | The way to dusty death. Out, out brief candle! | Life’s but a walking shadow, a poor player | That struts and frets his hour upon the stage | And then is heard no more: It is a tale / Told by an idiot, full of sound and fury | Signifying nothing. (William Shakespeare, 1623, Macbeth, Act V, Scene 5)“

aus seinem Macbeth verschicken, fand es für die aktuelle Lage aber zu trübsinnig, immerhin redet es von der Unsinnigkeit und der Absurdität des Lebens im Angesichts des Todes, also wählte ich stattdessen ein leichtes und liebevolles Gedicht von e.e.cummings aus, dessen Gedichte ich als junge Frau für mich entdeckt habe:

„somewhere i have never travelled,gladly beyond | any experience,your eyes have their silence: | in your most frail gesture are things which enclose me, | or which i cannot touch because they are too near | your slightest look easily will unclose me | though i have closed myself as fingers, |you open always petal by petal myself as Spring opens | (touching skilfully,mysteriously)her first rose | or if your wish be to close me,i and | my life will shut very beautifully,suddenly, | as when the heart of this flower imagines | the snow carefully everywhere descending | nothing which we are to perceive in this world equals | the power of your intense fragility:whose texture | compels me with the colour of its countries, | rendering death and forever with each breathing | (i do not know what it is about you that closes | and opens;only something in me understands | the voice of your eyes is deeper than all roses) | nobody,not even the rain,has such small hands.“ (e.e cummings 1931)

Habe ich das schon ins Tagebuch geschrieben? Ich habe gerade ein Déjà-vu…

Für die Facebook-Aktion wählte ich kurzerhand das Buch aus, was gerade bei mir auf dem Tisch liegt: Henry David Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staate“ von 1849, heute schlug ich Reginaldo Prandis „Mitologia dos Orixás“ von 2001 vor.

Nun denn, so prokrastiniere ich mich durch den Alltag und sitze stundenlang vor meinem Text über Religion und Feminismus. Ich vermisse das Grimm-Zentrum, wo mir die anderen Anwesenden das Gefühl gaben, dass ich etwas Bedeutungsvolles schreibe; hier zu Hause kommt es mir so gar nicht danach vor.

Mein Blick geht von meinem Schreibtisch direkt auf unseren kleinen, himbeerfarbenen gestrichenen Balkon, wo die ersten Sonnenblumen gerade ihre Köpfe aus der Erde strecken, die ich aus dem Winterfutter der Sonnenblumenkerne für die Spatzen und Meisen genommen habe; schließlich kann ich nicht mehr in einen Blumenladen gehen und mir ganze, schon fertige Pflanzen kaufen.

Die ersten Sonnenblumen auf dem Balkon, Foto:ISdS.

Mein Mann hat wieder einen neuen Käsekuchen gebacken und fragt, welcher der fünf neuen Varianten mit mehr oder weniger Butter und Schmand statt Schlagsahne uns am besten schmeckt. Langsam frage ich mich, was passiert, wenn wir alle wieder vor die Tür treten dürfen und wir in ein altes neues Leben zurückkehren sollen. Geht das? Vielleicht werden wir alle langsamer? Am meisten werde ich wohl meine Tagträumereien vermissen.

Heute gab es Weißkohl-Lasagne mit Hack und Käse überbacken. Und Ariu, der gefühlt schon immer eher limitiert Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Tzaziki, Tomaten, Gurke, Müsli und ausschließlich Salamipizza isst, möchte mal eine richtige Lasagne kochen und auch (!) essen. Vielleicht wird ihm doch langsam langweilig? Super, denke ich, so erweitert sich sein Speiseplan.

Morgen werde ich meinen neuen, von meiner Mutter genähten Mundschutz mit Streublümchen nach Drostens Anleitung aus dem Tagesspiegel zum Spaziergang ausführen. Gute Nacht, liebes Tagebuch!

 

Ich finde, dass es auch gesund ist, sich seine eigenen Gefühle der Trauer, der Überforderung, der Orientierungslosigkeit, der Stille, des Stillstands einzugestehen und sich tatsächlich auch mal Zeit für eine Entwicklung zu geben.

 

 

7.4.2020

Nachdem ich gestern mein Tagebuch geschlossen habe, bekam ich Durchfall, Schüttelfrost, Hunger und Angst – das passte nicht so wirklich zusammen. Danach aß ich noch ein Eierreis, was ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen habe, weil es so einfach ist. Ich hatte Angst und dann wurde ich innerlich wütend, dass ich nicht einmal mehr Angst haben darf. Ich stellte mich unter eine warme Dusche und beschloss, dass ich alle Gefühle so haben darf, wie sie eben daherkommen – und sie mir dann ruhig ansehe und da sein lasse, ohne sie zu bewerten und sogar abzuwerten.

Eigentlich ist es doch total unsensibel, ständig von einem „Danach“ der Pandemie zu reden und was darin alles für Chancen und Lehren für uns alle stecken. Das hört sich geradezu schön und romantisch an. Nur dass eben mal Tausende an Menschen dabei sterben.

Mein Schreibtisch, Foto: ISdS.

Dann hätten wir schon vorher gesellschaftlich und kollektiv in Klausur gehen sollen; viele Religionen haben doch solche Rituale, so auch die afrobrasilianischen Religionen der Umbanda und des Candomblé mit den Camarinhas[9]. Ich bin ja durchaus dafür, ruhig und besonnen zu bleiben, aber normal kann das eigentlich nicht sein, dass wir angesichts einer globalen Pandemie fröhlich zu Hause sitzen und angeblich nichts (!) unser Leben verändert – nur, dass wir nun Home-Office mit Home-Schooling verbinden dürfen und eigentlich viel mehr Stress haben als vorher. Ich finde, dass es auch gesund ist, sich seine eigenen Gefühle der Trauer, der Überforderung, der Orientierungslosigkeit, der Stille, des Stillstands einzugestehen und sich tatsächlich auch mal Zeit für eine Entwicklung zu geben. Warum sollte ich keine Angst vor einer Ansteckung haben und vor allem, warum lasse ich es eigentlich zu, dass ich mir einreden lasse, statt überrascht, traurig und nach meinen eigenen Gefühlen tastend zu reagieren, dass uns diese außergewöhnliche Situation angeblich überhaupt nicht juckt? Das ist unsensibel und blöd!

Als ich sieben Jahre so schwer krank war, habe ich das auch getan; ich habe diese Zeit als Krise angenommen und so benannt und sie auch als dramatisch empfunden. Sie künstlerisch bearbeitet. Alles andere wäre Lüge gewesen und Lüge hätte mich viel kränker gemacht als alle lieben Worte.

Natürlich bin ich fürs Tanzen, Umarmen und Küssen, das ist die Grundlage des Lebens – aber eben nicht nur. Naja, ich habe das jetzt schon gefühlte hunderttausend Male hier ins Tagebuch geschrieben, aber ich musste es nun doch noch einmal mehr aufschreiben.

Schluss-Aus-Vorbei! Natürlich steckt in jeder Krise auch eine Chance, aber eben auch der Tod. Ich weiß, den Tod muss ich psychoanalytisch auch noch annehmen, aber ich habe keine Lust dazu; später vielleicht, wenn ich alt und weise bin – aber nicht jetzt.

Das lässt mich jetzt schon viel freier atmen! Wir leben also in einer Krise.

Mein Sohn hat den Tanz, mein Mann seine mit ihm chattenden Freund*innen aus aller Welt und ich habe dieses Tagebuch.

 

So soll also die schon geplante Zeit nach der Pandemie aussehen, der sogenannte Lockdown: alle Normalen tun so, als lebten sie normal und die Risikopersonen werden weggesperrt. Wie verabscheuungswürdig ist das, wie undemokratisch und unsolidarisch! Das kann und darf nicht wahr sein.

 

 

8.4.2020

Die Sonne scheint, es wird wärmer, die ersten grünen Pflanzlinge tauchen auf meinem Balkon aus der dunklen Erde auf, meine fünf kleinen sich selbst ausgesäten Bäume vom Vorjahr, zwei Eschen, eine Birke, ein Götterbaum und eine Eiche (die auf dem Dachboden überwintert haben), zeigen erste kleine hellgrüne Knospen und ich tausche die Winter- mit der Sommerkleidung in den Schränken aus, wasche Wäsche und arbeite nun auf einmal ganz besonnen weiter an meinem Exposé im Bereich der anthropologischen Zukunftsforschung. Die Autos und mein Blick hinunter von meinem Balkon auf die Straße verraten mir, dass viele Leute auf der Straße sind und sich scheinbar niemand darum schert, dass das sogar offiziell verboten ist.

Jamiro bestätigt es mir, dass die meisten so tun, als sei nichts geschehen, zumindest in Berlin Wilmersdorf. Ich fühle mich bestätigt in meinem Gefühl, dass mein Verhalten als überflüssig und albern gewertet wird, da ich von den meisten meiner Freundinnen nichts mehr höre bzw. lese, nachdem ich habe verlauten lassen, dass ich zu Hause bleibe und es nicht nur beim positiven Denken belasse. So einfach ist das… Aber es ist auch nur die halbe Wahrheit, Esther schreibt mir und schickt mir obendrein interessante Online-Seminare und Tanzstunden zu und meine angeheiratete brasilianische Nichte, die jetzt in Friedrichshain wohnt, auch. Sie reagiert ganz anders, eher besorgt und liebevoll.

Schade, und ich hatte gedacht, dass ich doch mal wieder etwas draußen in der Sonne und zum nächsten See laufen könnte – wenn sich dort aber alle sorglos tummeln, geht das für mich als Risikoperson nicht. Das ist schon gemein, daran könnten die anderen ja auch mal denken – aber das ist scheinbar zu viel verlangt. Ariu sagt dazu nur: Die meisten Leute sind blöd, weil sie meinen, nur, weil es nicht sichtbar ist, gäbe es die Pandemie auch gar nicht. Immerhin steht mein Sohn zu mir!

So soll also die schon geplante Zeit nach der Pandemie aussehen, der sogenannte Lockdown: alle Normalen tun so, als lebten sie normal und die Risikopersonen werden weggesperrt. Wie verabscheuungswürdig ist das, wie undemokratisch und unsolidarisch! Das kann und darf nicht wahr sein.

Niemand auf Facebook guckt sich meine schönen Buchvorschläge an, gestern war es Toni Morrisons ›Beloved‹ und heute Umberto Ecos ›Foucaultsche Pendel‹. Aber auch meine Petitionen und gesellschaftspolitischen Aufrufe werden nicht gelesen; scheint wohl nicht meine Plattform zu sein.

 

9.4.2020

Ich glaube ja nicht an diese Zuversicht und diese Ruhe, die hier alle haben. Aber ich wünsche mir aus vollstem Herzen und sehr ehrlich und offen, dass ich Unrecht haben möge und der Kelch wirklich ans uns in Berlin vorbeigehen möge.

Wieso verwende ich immer wieder diese Redewendung, die ja biblisch ist? Ich bin nicht christlich sozialisiert worden, aber irgendwie passt dieses Bild so sehr. Für Jesus war sein Tod ein Opfer für etwas Höheres, eine Bestimmung, der er eh nicht entgehen konnte. Wir als Menschheit müssen global denken und solidarisch und gemeinsam handeln, sonst gehen wir unter und sterben alle – und eigentlich ist es ja schon zu spät, wir gehen eh unter. Das ist wohl Glaube. Zu hoffen, dass es doch entgegen aller Logik und Vorsätze weitergehen möge.

Dass hier ganz umsonst zusätzliche Krankenhäuser gebaut werden, die sich als völlig überflüssig herausstellen mögen und das endlich all die guten Menschen im Gesundheitswesen mehr geschätzt und bezahlt werden, wie es die Gewerkschaften schon immer fordern.

Ich habe nie gelernt zu beten und kann es wirklich nicht… Scheinbar ist es etwas sehr Simples, aber bei mir tatsächlich negativ besetzt. Ich unterhalte mich gerne mit den spirituellen Entitäten oder rufe sie herbei, singe, aber beten? […]

Ich folge ja eigentlich meiner Intuition. Und diese Intuition sagt mir, dass es eine wunderbare und starke spirituelle Zeit nach dieser Phase der Ruhe und des Rückzugs geben wird. Mein Kopf findet das albern und denkt, dass die Welt ungerecht und schrecklich ist. Auf jeden Fall bin ich noch immer nicht im Einklang mit mir selbst, wenn meine Seele, mein Geist und mein Gefühl sich da immerzu herumstreiten…

Ich bin wirklich die Blöde. Zu Ostern treffen wir uns jetzt mit meinen Eltern zum traditionellen brasilianischen Osteressen. Viel lieber als essen wäre ich ja mal spazieren gegangen, aber auch das ist nun möglich, da eine Freundin von mir sich mit mir zu einem 2 Meter Abstand-Spaziergang verabredet hat. Da sie erstmal trotz aller Verbote Ihren Freund in Köln besuchen geht bzw. mit ihrem neuen Auto dorthin fährt, wird das eh später stattfinden.

Heute habe ich das Gefühl, das alles absurd ist, erfunden und unwirklich; eigentlich gibt es gar keine Pandemie. Das ist eine große Welle an Gefühl, die da in dieser Weise mit mir spricht und genau das sagt. Das ist kein inneres Gefühl von mir, sondern eins, was die Leute in der Gegend gerade so fühlen.

Mein inneres Gefühl sagt mir, dass ich noch hierbleiben soll; ruhig, unbeweglich, eingebettet in meiner Quarantäne. Einfach so. Weil es mich schützt und weil alles für mich sich auch so gut entwickelt. Meine Gedanken sind da natürlich ganz anderer Meinung!

 

Ich schreibe viel, unterstütze politische Bewegungen, fühle mich aber doch sehr auf dem Sofa sitzend.

 

 

10.4.2020

Eben habe ich mich gewundert, dass ich gar kein Zeitgefühl mehr habe, weil ich dachte, dass heute der 10.4. ist und ich kein Tagebuch geschrieben habe, mir aber so sicher war, dass ich es gestern geschrieben hätte. Nun ist aber schon nach zwölf Uhr Mitternacht und natürlich schon ein Tag später, wenn er auch sehr frisch und neu ist. Das ist schon alles recht verrückt, diese Zeitverschiebung. Früher war das durchaus normal für mich, aber seit ich ein schulpflichtiges Kind habe – und das ist ja nun schon seit neun Jahren so, und vorher war zeitlich mit der Stillerei sowieso alles zeitlich chaotisch – habe ich einen geregelten Tagesablauf. Der ist nun wirklich außer Kraft gesetzt. Wir essen zum Beispiel nur noch zwei Mal am Tag, sonst waren es drei Mal und auch mal noch einen Kaffee am Nachmittag. Nun hat sich diesbezüglich alles vereinfacht. Es ist alles sehr übersichtlich geworden.

Ich bin gespannt, wie es mir gehen wird, wenn ich irgendwann aus meiner Höhle wieder herauskriechen werde. Ich habe heute sogar meine alten Fotos und Tagebücher meiner Jugend ausgegraben, die eigentlich mitten im Wohnzimmer im alten Vertiko von meiner Oma mütterlicherseits aufbewahrt sind, aber für die ich nie Zeit hatte. Da sind neben vielen Fotos auch sämtliche Schulunterlagen aus meiner Zeit an den High-Schools in Michigan in Caro auf dem Land und in Detroit aufbewahrt. Das war vor mehr als 30 Jahren… Genau da, wo gerade die Menschen am meisten sterben.

Immerhin trage ich wieder meine schönen und gemütlichen Röcke und sehe nicht total daneben aus, das beruhigt mich schon etwas. Ich habe meine Mundmaske immerhin ausprobiert, bin dann aber doch nicht rausgegangen, weil weder mein Mann noch mein Sohn Lust dazu hatten. Ich habe sie gleich mit einer Sonnenbrille ausprobiert und fand, dass das ziemlich gruselig aussah… Die Damen von 1919 zur Zeit der Spanischen Grippe in Berlin sahen weitaus eleganter aus, finde ich.

Dass ich die ganze Zeit zu Hause bin, bringt mich dazu, nichts mehr einzukaufen und tendenziell eher aussortieren als nachzukaufen. Ich nehme die Welt so wahr, wie sie ist und betäube mich nicht mit nebensächlichen Dingen.

Ich sitze alleine auf dem Sofa rum und weiß, dass es so vielen anderen Menschen auf der Welt so geht wie mir. Aber ich weiß auch, dass die Deutschen nur 50 Kinder aus den Flüchtlingslagern von der Insel Lesbos aufnehmen statt 1.000, wie es die Petition fordert, die ich unterschrieben habe. Und dass in den USA vor allem die Afroamerikaner*innern an Covid-19 wegen der höheren Armut und mangelnden Krankenversicherung sterben als Weiße US-Amerikaner*innen. Das alles ist unerträglich. Ich schreibe viel, unterstütze politische Bewegungen, fühle mich aber doch sehr auf dem Sofa sitzend.

Meine Zeit-Schubladen der Arbeit, Bibliothek und Familie, Kunst, Haushalt, Sport, Freundinnen fallen weg. Ich kann nicht wirklich abschalten und die Wäsche sein lassen und mich auf mein Review konzentrieren… Mir ist schon klar, dass diese räumlichen Abgrenzungen eher belächelt werden, aber mir haben sie bislang immer sehr gutgetan, um auch meinen verschiedenen gesellschaftlichen Rollen als Frau – und besonders als Frau – gerecht werden zu können.

Als alles so aufgelöst und nicht hübsch sortiert war, habe ich Gedichte geschrieben. Früher, als Jugendliche.

Vielleicht ist bald alles schon vorbei, bis ich wieder dazu komme, Bücher zu lesen und Gedichte zu schreiben? Ich merke, dass es mir guttut, mich von der Welt zu lösen und nach und nach mich selbst zu spüren, auch wenn ich dabei eher ein schlechtes Gewissen habe, weil es so viel Elend auf der Welt gibt. Heute habe ich Ariu endlich auch ein Konto bei „Mein Grundeinkommen“ als Crowdhörnchen eingetragen.

 

11.4.2020

Heute war ich mutig draußen, wieder einmal zum nahe gelegenen Fennsee, um dort einmal herumzulaufen und kurz in der Sonne zu sitzen und die anderen zu beäugen, wie sie mich beäugen.

Am Fennsee.

Danach bin ich mit Jamiro auch noch zu Aldi einkaufen gewesen, wo die Abstände her abstrus und unwirklich wirken, also viel zu nahe. Dem langen bekannten Kassierer rufe ich zu: „Ach schade, jetzt können sie gar nicht mein Lächeln sehen!“, weil ich einen Mundschutz trage. Da sagt er: „Ich sehe das auch so, lächeln kann man auch mit den Augen!“. Und er wünscht uns beim Bezahlen ein frohes Ostern, sitzt dabei hinter einer schick selbst gebastelten Absperrung aus durchsichtigem Plexiglas. Er arbeitet barhändig, sein Kollege trägt Handschuhe. Während ich einen baumwollenen Mundschutz trage, tragen viele Einkaufende eher Einmal-Plastikhandschuhe – was sicherlich gut ist, aber mich wegen des Plastiks abhalten würde. Es gibt den Anschein, als würden die Menschen sich wegen ihrer Verkleidungen geschützt fühlen, obwohl sie doch eher symbolischer Natur ist. Ich gehe mit einem unguten Gefühl aus dem Laden. Immerhin werden wir die nächste Zeit nicht verhungern, aber was kommt danach? Habe ich mich jetzt angesteckt?

Meine Mutter hat unser morgiges Treffen nun doch abgesagt, weil sie vermutet, dass ihre Nachbar*innen uns vielleicht anzeigen könnten wie sie es aus der DDR kennt; der Tagesspiegel hat gesprochen. Sie ist retraumatisiert und verkennt dabei die wirkliche Gefahr, da das Virus trotz aller politischen Vereinnahmung von den USA, China oder Russland, wer auch immer da gerade spricht und vermutet, eben einfach auch so tödlich ist.

Also wird das brasilianische Osteressen dieses Mal von meinem Vater mit seinem Auto von uns vorgekocht abgeholt und jeder isst bei sich zu Hause und wir sind getrennt voneinander. Als sie mir das telefonisch sagte, war ich gleichzeitig traurig und erleichtert. […]

Da wird mir das ganze Ausmaß klar, auch weil ich durch Zufall Fotos von Vorjahren angesehen habe: Wir waren Ostern entweder immer bei meinen Eltern in der Uckermark oder haben hier bei uns zu Hause am ausgezogenen Tisch groß gefeiert, immer zu acht oder zehnt. Ich muss gestehen, dass mir das aus einer anderen Zeit vorkommt und ich gerade im Notfall-Modus lebe; mir ist alles egal, wenn es denn dem Überleben dient.

Heute Morgen erhielt ich wieder die Bestätigung, dass meine Doktorarbeit als hervorragend bewertet wird und auch mein überarbeitetes Exposé für meine Postdoc-Forschung schon als sehr weit ausgereift wahrgenommen wird, obwohl ich selbst das Gefühl hatte, nur paranoisch gelebt zu haben und mein Home-Office nicht wirklich wahrgenommen zu haben. Ich wollte es schon, aber war eigentlich zu schockiert über immer wieder neue Nachrichten über Tausende von Toten in Bergamo, Madrid und New York. Was wird als nächstes kommen? Kopenhagen und Berlin? London? Ich atme tief durch. Immerhin habe ich scheinbar doch besser gearbeitet als es mir bisher klar war…

Die Nachbarschaftshilfe hier in Wilmersdorf informiert mich, dass 1000 Menschen Hilfsangebote angenommen habe, aber 3000 Menschen Hilfe angeboten haben… Wie schön! Dann können sich noch 2000 Menschen melden. […]

Wenn, falls ich eine neue Arbeit habe, werde ich auch spenden, lokal und direkt. Pizza, Blumen? Oder das Grips Theater? […] Obwohl mir da so die Idee eines Künstler-Abos kommt, dass alle jeden Monat einen Beitrag zum Erhalt der Künstler*innenleben beitragen und dann nach einer gewissen Zeit etwas angespart haben und sich bei eben diesem Lieblingskünstler*in ein Werk der Wahl aussuchen kann. Das wäre doch eine gute Gründer*innenidee, oder? Ich habe aber keine Lust dazu, dies selbst zu verwalten, schließlich kann ich nichts verkaufen. […]

 

Jetzt, nachdem ich wieder geschrieben habe, kommt es mir gar nicht mehr so vor, als wäre nichts passiert.

 

14.4.2020

Ich bin etwas erschrocken, weil ich dachte, dass ich weitergeschrieben hätte, aber es offensichtlich nur im Kopf getan, aber nicht aufs Papier gebracht habe. Dabei habe ich in den letzten Tagen so viel geträumt. Sonst war eigentlich nichts los.

Ich bin mit vielen anderen Leuten in einer hügeligen Landschaft und sehe mich, wie ich einen Hügel hochgehe und obendrauf ein sehr großes Zelt, ein Tipi, stehen sehe. Eigentlich sehen die Leute, wie sie da elegant im gleißenden Licht der Sonne herumwandeln, so aus als würden sie auf eine Hochzeit gehen, sehr hell, farbig und fröhlich gekleidet. Es ist tatsächlich etwas Ähnliches wie eine Hochzeit, es geht um Initiierte, die mit ihrer sehr eigenen Gottheit identifiziert werden und sich mit ihr identifizieren. So auch ich. Inmitten anderer.

Das erinnert mich daran, wie ich meinen Mann Jamiro das zweite Mal – nachdem wir bereits im September 2001 kurz zuvor in Tonder in Dänemark geheiratet hatten – in Recife in Pernambuco im Februar 2002 geheiratet habe; das war gemeinsam mit ungefähr zwanzig – oder dreißig? – anderen Paaren in einem großen, bronzefarben glänzenden Saal. Ich wurde als erste aufgerufen und hörte den Standesbeamten gar nicht, weil ich ja schwerhörig bin. Mein Mann stupste mich an, da erst sagt ich „Sim!“ und alle lachten. Ich lachte auch. Eigentlich sollten derartige Zeremonien als Übergangsrituale im Leben doch individueller gestaltet sein, aber manchmal kommt es dann wohl anders.

Im Traum jedenfalls kenne ich niemanden, bin inmitten vieler anderer Menschen doch irgendwie alleine. Dann werde ich in einen Raum gebracht, wo die Paramente meiner Gottheit sein sollen. Ich erkenne sofort, dass es nicht die Göttinnen des Wassers sind und wundere mich. Ich laufe an einem Ensemble vorbei, das dunkelgrün und für den Orixá Oxóssi (den Waldgott) ist, das kann es nicht sein. Ich laufe in einen kleineren Raum und fühle, dass es dort ist. Ich nehme helle, irgendwie mattrosa- und puderweiße Ketten, die ich mir um die Armgelenke schlinge. An den Wänden sehe ich Fotos von Kindern, die im Wasser eines Sees stehen, aber die Beine in einem sumpfigen Boden stecken. Sie lachen. „Das ist doch Nanã, die Göttin des Urschlamms der Menschheit, des Todes und der Wiedergeburt!“, denke ich. Aber die Ornamente sehen nicht nach Nanã aus. Da antwortet eine Stimme im Traum: „Du hast Recht, Inga, es ist nicht Nanã; es ist Oxumaré, ihr Sohn! Du bist von und mit Oxumaré!“ Das glaube ich nicht. Nicht von Euá, von Nanã, von Obá; keine Wassergöttin? „Nein nein, nicht von ihnen, sondern von Oxumaré, dem Gott des Regenbogens, der Schlange, des Reichtums, des Dazwischen-Seins! Du hast richtig gehört, es ist ganz klar! Dein Wesen ist der Zwischenraum und so wird es auch bleiben.“ Also kleide ich mich mit den mit Federn geschmückten Kopf-Insignien von Oxumaré, ziehe farbige Kleidung an und gehe in das große Tipi; dort sieht aber gerade alles mehr wie ein Theater aus als wie ein religiöser Ort. Immer noch kenne ich niemanden. Ich wache auf.

Sonst ist nichts passiert. Ostern ist irgendwie gefühlt ausgefallen, obwohl mein Mann den halben Tag an unserem typischen brasilianischen Osteressen mit Fisch und Bohnenpüree in Kokosmilch, dazu Quibebe (ein Kürbismus) und Feldsalat gekocht hat, die Sonne schien und wir auf dem Balkon saßen und gemeinsam gegessen haben. Aber das machen wir auch sonst. Meine Eltern haben sich ihre Portion von uns abgeholt. Mein Vater reagiert zwar erfreut, aber gleichzeitig irgendwie irritiert und mürrisch auf unsere eingehaltenen Distanzregeln. Wenn ich ihn darauf anspreche, stimmt er mir schon zu, ist aber frustriert – auch weil ihm das Verreisen fehlt und der direkte Austausch mit uns. Sonst saßen wir ja auch immer dicht gedrängt um den Tisch, entweder bei uns zu Hause oder in der Uckermark bei meinen Eltern im Ferienhaus.

Wir haben das Laminat in der Küche herausgebrochen, weil es alt war, und haben zarten Terrazzo-Fußboden in schwarz und weißer Punktierung darunter gefunden. Immer, wenn es Feierlichkeiten gibt und mein Mann zu kochen anfängt, gibt es solche Aktionen, die nebenbei herlaufen und für ihn scheinbar prickelnd aufregend sind.

Im Nachhinein habe ich es bedauert, dass wir doch nicht unartig waren und uns nicht über die Verbote hinweggesetzt haben, den Frühlingsanfang mit der ganzen Familie zu feiern. Obwohl sich mein Gefühl komischerweise nicht ändert und ich weiterhin der verkrochene Mensch bin und zu Hause bleibe. Mein Schreibtisch ist die Welt und mein Blick auf unseren kleinen Balkon immer der gleiche. Obwohl… die Bäume haben seit heute ganz hellgrün, fast gelblich, ausgeschlagen. Zu Ostern konnten wir die jungen Sprieße nur erahnen, obwohl es am Ostersonntag richtig heiß war, Ostermontag dann wieder etwas fröstelig.

Gestern habe ich lange mit meiner Doktormutter über mein Handy und direkt auf meine Hörgeräte telefoniert und über meine neue Bewerbung um eine Übergangsstelle am Institut (wo ich schon die letzten fünf Jahre gearbeitet habe) gesprochen, dank der neuen Technik geht das jetzt. Dabei bin ich in der Wohnung herumgelaufen, was ich sonst nicht tue. Ich habe zwei Mal ›Summa cum laude‹ von meinen beiden Betreuer*innen für meine Doktorarbeit erhalten! Unglaublich! Ich bin so erleichtert, weil ich doch sehr ins Blaue geschrieben habe. Hätten sie mir das Gegenteil gesagt und gemeint, nun müsse ich alles noch einmal überarbeiten, hätte ich ihnen auch geglaubt.

Eine Freundin von mir, die mich wegen fehlender Aufmerksamkeit ad acta gelegt hat (per WhatsApp! Das fand ich schon ziemlich traurig), hatte das erahnt – dass ich womöglich alles überarbeiten müsste. Sie war eh‘ der Meinung, dass ich meine Stelle nur hätte, weil ich behindert bin. Eigentlich hätte ich diese Freundschaft aufkündigen sollen und nicht andersherum. Wieso tue ich so etwas nicht? Es hat mich einfach sehr verletzt und da ich mit diesem Menschenbild aufgewachsen bin, habe ich ihr doch eigentlich geglaubt – dass ich doch trotz allem, trotz meiner Gedanken und meines Wesens, essentiell blöd sei; schließlich ist das so, wenn frau behindert wird. Au weia, so lange wird diese Geschichte schon erzählt. Und nun kommt doch eine Bestätigung von der Außenwelt, dass es sich um Fremdzuschreibungen und Kränkungen handelt und mein wahres Ich ein anderes ist.

Als ich meiner Mutter erzähle, dass ich summa cum laude erhalten habe, fragt sie mich, was das sei. 1+ sage ich. Sie freut sich und meint, dass sie schon immer wusste, dass ich intelligent sei. Stimmt, sie hat das immer gesagt. Zwar kam sie auch immer mit schlauen Sprüchen an wie „Schuster, bleib‘ bei deinen Leisten!“ oder „Wer auf zwei Hochzeiten auf einmal tanzt, der tanzt auf keiner!“, aber sie hat mich auch nicht an meinem Weg gehindert. Mein Vater sagt, wenn ich dann doch mal endlich einen „anständigen Job“ haben sollte, hätte sich die „viele Arbeit“ eventuell doch „mal“ „gelohnt“. Das ist immer mein Problem gewesen, warum ich eigentlich nicht fertig werden wollte, weil ich dachte, dass ich ja mitten in meinem Element sei und danach nur irgendetwas Ödes kommen könnte – bei der Voraussage!! Nun, mit dieser Note, werde ich vielleicht doch einfach meinen Weg weiter in der Wissenschaft gehen dürfen – dann habe ich zwar immer noch nichts „Anständiges“, aber daran lag mir ja eh nie etwas. Ich möchte einfach damit leben können. Leben!

Dann habe ich noch den ganzen Ostermontag an der Fertigstellung meiner Bewerbung gesessen und sie kurz vor Mitternacht abgeschickt.

Heute bin ich mal „richtig“ draußen gewesen! Mit „richtig“ meine ich, dass ich alleine losgelaufen bin und sogar ein Ziel hatte: aussortierte Bücher in eine Bücherbox am Rüdesheimer Platz abgeben, die in einer alten Telefonzelle eingerichtet worden ist und um die eine Holzbank gebaut wurde, damit sich jede*r in die Sonne setzen und die neu erstandenen Bücher lesen kann.

Bücherbox in einer alten Telefonzelle am Rüdesheimer Platz in Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Vor mir war eine Mutter mit ihrer kleinen, ca. siebenjährigen Tochter in der alten Telefonzelle und suchten sich einen ganzen Stapel Bücher aus. Das stimmte mich richtig glücklich zu sehen, wie andere sich an den Büchern aus dem eigenen Bücherregal freuen. Das werde ich jetzt jeden Tag tun, einen kleinen Spaziergang mit Bücherübergabe.

Mein Eindruck ist, dass sich die Lage verändert hat! Ich kann jetzt doch rausgehen!!! Vielleicht lag es ja am Weg in Richtung zum Rüdesheimer Platz statt zum Volkspark, aber ich fand, dass zwar recht viele Leute für Pandemie-Zeiten auf der Straße herumspazieren, aber doch alle mit einem Abstand zu anderen gehen und stehen und sich respektvoll verhalten. Kaum einer geht mit Mundschutz, da bin ich schon eher die Ausnahme gewesen.

Besonders fällt mir auf, wie viele auf den Parkbänken sitzen, aber sich immer jeweils eine Person an der einen und die andere genau am anderen Ende platzieren, also mit genug Zwischenraum mittenmang. Wo sich sonst die Leute regelrecht drängeln. Oder sich lange Schlangen vor einem Lotto-Toto-Laden mit Hermes-Paketabgabe bilden, weil die Leute immer einen Abstand von rund zwei Metern einhalten. Es sieht hübsch aus, wie eine Kette mit lauter einzelnen Perlen. Polizeiautos fahren schritttempomäßig auf den Straßen mit jungen Polizist*innen, zwar aufmerksam in die Runde guckend, aber grinsend und miteinander quatschend als hätten sie einfach einen schönen, sonnigen Tag. Mich wundert es, dass ich im Internet so viel von Angst, Obrigkeitsdenken, Überwachung und „Corona-Gehorsam“ [sic!] lese (vgl. Gaschke 11.4.2020, Raunitschka 11.4.2020), weil ich das auch als allgemeines Gefühl so gar nicht wahrnehmen kann – im Gegenteil! Es wirkt geradezu paradiesisch, wie sacht und aufmerksam alle miteinander umgehen. So, als hätten auf einmal alle die Ruhe weg.

Im 40 Tage Tagebuch, wo auch Kathrin Raunitschka veröffentlicht hat, geht es um verschiedene Stimmen und Tagebucheintragungen in Zeiten von Corona im März bis Mai 2020, die von dem Schweizerischen Unternehmen Nature & Healing im Dienst der dialogischen Naturtherapie ins Leben gerufen wurde:

„Diese besonderen Zeiten stellen besondere Fragen, vielleicht auch Weichen. Umso wichtiger, verschiedene Stimmen und Impulse in Ruhe in sich und im Austausch mit anderen zu einer Haltung, zu einer Orientierung, zu einem sinnvollen Handeln zu bündeln. Unsere News stellen wir vom 28. März bis 6. Mai in den Dienst von Begegnungen und Gedanken und Informationen, die uns während dieser Quarantäne-Zeiten begleiten. Schreib uns gerne, was dich bewegt, deine Perspektiven, Erlebnisse, Haltungen… so kann daraus auch ein kommentiertes Tagebuch mit Gästebeiträgen werden. Mit besten Wünschen, Habiba, Cito & Friends.“

Und endlich werden die Wissenschaften mit in die öffentlichen und politischen Diskussionen einbezogen; das ist nicht so ganz neu, aber doch auch verblüffend. Sonst wurden sie mal zitiert, aber mir scheint, dass es vorher nicht so viel echte Diskussion gegeben hat. Zuerst die Virologie, dann die Ökonomie und nun die Helmholtz Gesellschaft bzw. auch die Leopoldina, von der ich vorher nichts wusste…

Seitengassen im Rheingauviertel, Foto: ISdS.

Aber wie sie die Kinder und Jugendliche zu einem Mindestabstand bringen wollen, wenn sie ad hoc die Kitas und Schulen wieder aufmachen, ist mir echt ein Rätsel; mit scheinen da doch eher wirtschaftliche Interessen im Vordergrund zu stehen, weil dann auch die Eltern wieder arbeiten können und nicht mehr ihre Kinder „betreuen“ (so ein blödes Wort! Ich lebe, rede, koche, lache mit meinem Sohn, aber „betreue“ ihn nicht! Das Wort birgt in sich zwar die Treue, aber auch die Abhängigkeit. Natürlich brauchen wir alle einander, aber gleichzeitig ist es doch in der Erziehung wichtig, Wurzeln und Flügel zu bauen, oder?). Da hat doch der Landesschülerausschuss der Eltern von Schüler*innen viel realitätsnähere Ideen, wie etwa eine bessere Kommunikation von Lehrer*innen und Schüler*innen auf verschiedenen Kanälen und ab und an in kleinen Gruppen auch in der Schule praktiziert und vorgeschlagen wird, die momentan aber nicht wirklich angehört werden (vgl. Vieth-Entus 13.4.2020). Wieso soll ich im Home-Office bleiben, als Risikoperson aus gutem Grund, und dann kommt mein Sohn nachmittags von der Schule nach Hause und bringt mir ganz frisch die neuesten Viren mit? Das ist unsinnig.

Arius Lehrerin hat mir heute eine WhatsApp-Nachricht geschickt und hat Ariu gelobt, weil er so fleißig gewesen ist. Nur eine Aufgabe hat er noch nicht abgegeben, aber dafür gibt sie ihm noch bis zum nächsten Freitag Zeit. Das ist erleichternd für mich und andererseits auch fair, dass sie ihn wegen der einen Hausarbeit nicht einfach schlecht benotet.

Mir ist bewusst, dass sich diese Stimmen gegen den sogenannten Corona- „Wahn“ oder „Panik“ da selbst sehr widerständig vorkommen und das „natürliche Leben“ heraufbeschwören, bei dem „eben“ auch viele Menschen sterben.

„Zu den Schattenseiten unserer steigenden Lebenserwartung gehören leider, zumindest einstweilen, schwerwiegende Erkrankungen, die uns nicht heimgesucht haben, als wir noch mit dreißig Jahren im Kindbett starben oder mit vierzig Jahren an der Erschöpfung durch die Arbeit auf dem Feld oder in der Zeche. Das längere Leben ist ein Geschenk, aber es hat oft einen Preis: Krebs, Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus, Alzheimer, übrigens auch Depressionen und Einsamkeit.“ (Susanne Gaschke 11.4.2020)

Abgesehen davon, dass ich das nicht glaube, das die Leute früher gesünder waren (eher im Gegenteil, sonst wären sie doch nicht so früh gestorben!), bin ich mir selbst wichtig, ich will nicht sterben. Scheinbar passt das nicht in das Konzept dieses „natürlichen Lebens“, bei dem „eben“ diese Auslese definiert wird. Aber leben wir im gestern? Wollen wir das? Sonst haben sie doch immer Angst um ihre geliebte Demokratie, aber nun auf einmal nicht mehr? Mir scheint das problematisch! Behinderte Menschen auszusortieren steht sogar gegen das Grund- und gegen das Menschengesetz!

„Wer auch nur die Frage andeutet, ob die Stilllegung des gesamten öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens angemessen und tatsächlich so alternativlos sei, wie es die deutsche Bundesregierung, ihr Robert-Koch-Institut und der staatstragende Teil der deutschen Medien darstellten, macht sich bereits verdächtig. Schon ist das Etikett des «Corona-Leugners» im Umlauf.“ (Susanne Gaschke 11.4.2020)

Ich frage mich bei solchen Aussagen natürlich, ob ich eine dieser blöden und verblendeten Deutschen bin, die sich darüber freut, endlich brav und obrigkeitshörig zu sein? Komisch, so habe ich es noch gar nicht gesehen, vielleicht sollte ich da mal meine aktiven Freund*innen in den Disability Studies fragen, was sie dazu meinen. Probieren wir es aus, uns unters Volk zu mischen und widerständig zu sein, ob wir dabei überleben oder nicht? Ich jedenfalls nicht. Tot ist tot.

Jetzt, nachdem ich wieder geschrieben habe, kommt es mir gar nicht mehr so vor, als wäre nichts passiert.

 

15.4.2020

Ich finde es sehr interessant zu sehen, wer welche Position einnimmt. Die, die sowieso alles haben – die Reichen, Erfolgreichen, Anerkannten – fühlen sich von den Kontaktbeschränkungen der Bundesregierung gegängelt und bevormundet, verwenden gerne Worte wie „Angst“, „Panikmache“ und hinterfragen Worte wie „Pandemie“ (statt Epidemie, weil letzteres wohl dramatischer klingt – aber so ist wohl die Lage, oder?! Global statt nur lokal). Auch der Artikel, den ich gestern über ein Naturtherapie-Netzwerk als Lektüre empfohlen bekommen habe, der vor ein paar Tagen in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert worden ist, irritiert mich schon wegen der Überschrift „Gerade die Deutschen gefallen sich in 150-prozentigem Corona-Gehorsam“, wo essentialistisch über „die Deutschen“ geurteilt wird. Ich dachte, dass solche Menschenbilder in eine rechte Szene gehörten und nicht die Aussagen von gebildeten Menschen sein können. Seit wann essentialisieren wir Menschen in Nationen?

Und die, die eh schon vorher bevormundet wurden – Akteur*innen der Disability Studies, dem Migrationsrat und brasilianische Freund*innen von mir, die in Berlin wohnen – nehmen die Corona-Pandemie als Bedrohung ihrer Gesundheit und ihres Lebens wahr.

„Sowohl innerhalb der unterschiedlichen nationalstaatlichen Rahmungen als auch mit Bezug auf die vielgestaltigen sozialen, miteinander vernetzten Regionen dieses Planeten wird deutlich, dass das Virus die Menschen gleichbehandelt und insofern gleich macht. […] Diese Konjunktion bietet eine weitere Grundlage dafür, das epochale Projekt einer der Gegenwart angemessenen Solidarität zu stärken; jener Solidarität, die nicht auf die politische und ethische Lebensform (vermeintlich) Engverwandter etwa in der Form „Volk“ oder „Europa“ beschränkt ist, sondern den Raum der menschlichen Verbundenheit als grundlegende Form der Solidarität global erweitert. […] Sie aber haben nicht Pech gehabt, sie erfahren Unrecht.“ (Yasemin Karakaşoğlu / Yasemin, Paul 14.4.2020).

Interessanterweise überschneiden sich hier die Netzwerke in einer gemeinsam empfundenen Situation der Verletzlichkeit, da ich diese Information über einen Newsletter der Disability Studies erhalten habe (Prof. Dr. Swantje Köbsell der Alice Salomon Hochschule Berlin, Netzwerk AG DS, E-Mail vom 14.4.2020).

Bei mir verdichtet es sich gerade, dass ich viele kenne, die Corona für eine Erfindung halten und mich für albern. […] Nur mein brasilianischer Mann, unser Sohn und meine Doktormutter meinen, dass ich ruhig auf mich aufpassen solle. Bin ich realitätsfremd geworden? Aber meine Doktormutter ist eine intelligente Frau.

 

16.4.2020

Jetzt habe ich mir so viele Gedanken über die Gedanken anderer gemacht und heute ist es mir einfach egal. Eine Freundin meint, dass auch sonst viele sterben und eine andere ist beleidigt, weil ich nicht mit ihr spazieren gehe. So ist das, ich werde das wohl einfach akzeptieren, so wie sie akzeptieren müssen, dass ich keine Experimente mache, ob ich überlebe oder nicht.

 

17.4.2020

Endlich habe ich mein Peer Review fertig geschrieben, was ich die ganze Zeit vor mir hergeschoben habe; dabei war es spannend, interessant und inspirierend. Ich bin tatsächlich langsam darin, mich von den aktuellen Nachrichten zu lösen und von ihnen in den Bann ziehen zu lassen. Und dann saßen wir stundenlang an Arius Hausaufgaben, ich habe die Stunden nicht gezählt; so haben wir lang und breit über Tschick von Wolfang Herrndorf gesprochen. Es ist schon interessant, dass ihn die Handlung des Buches gar nicht groß interessiert, sondern vielmehr die Gespräche, die die beiden Protagonisten miteinander führen. Kurz vor Mitternacht haben wir die Aufgaben an die Lehrerin geschickt… Die Tage sind proppenvoll, obwohl wir nicht rausgehen.

 

Ich bin ein Kind meiner Zeit, weil ich denke, dass ich die Welt nur ändern kann, indem ich mich selbst ganz radikal in Frage stelle und ändere.

 

18.4.2020

Nun ist es mir schon fast eine Gewohnheit geworden, dass ich doch mal raus und in der unmittelbaren Umgebung spazieren gehe. Heute war ich mit Jamiro draußen, wir haben dieses Mal gemeinsam aussortierte Bücher in die Bücherbox am Rüdi gebracht und ich habe ihm meine Lieblings-Kirschbäume mit den rosa Blüten gezeigt.

Kirschbaumblüten im Rheingauviertel, Foto: ISdS.

Ich bin auch vorher schon öfter Mal in dieser Gegend herumspaziert und sowieso all die Jahre zum Rüdesheimer Platz gegangen, weil dort meine Hausärztin ist, eine tolle Pizzeria liegt, wo wir unter den dichten Bäumen saßen und ich vor allem mit Ariu immer mal wieder eine Pizza essen gegangen bin und jährlich das Weinfest stattfindet, wo ich meine Eltern auf ein Weinchen getroffen habe. Aber dass dort nicht nur die bürgerlichen, stolzen Bauten direkt am Platz liegen, sondern in den Seitengassen auch ganz verwunschene kleine Reihenhäuser mit kleinen Gärten und liebevoll gebauten Baumhäusern sind, war mit nicht so richtig klar. Es sieht geradezu dörflich und romantisch aus, die Leute lassen sogar die Schuhe vor der Tür stehen. Ich würde ja davon ausgehen, dass der Heidelberger Platz im Zentrum von Berlin liegt – liegt er auch wirklich – und dass es verschlossene Türen gibt, aber alles strahlt Vertrauen und Gemeinsinn aus. Wir fühlten uns wie im Traum, dazu noch die rosa und weißen Blüten der blühenden Bäume vor dem klaren Himmel, sonnenüberflutet.

Die Leute tragen, wie wir schon vorher, zunehmend Mundschutz; von einem Tag auf den anderen hat sich das geändert.

Zu Hause haben wir, da nun das Wohn- und das Kinderzimmer fertig gestrichen sind, weiter aufgeräumt und auch etwas neu geordnet. Das Sofa hat nun einen direkten Blick auf den Balkon und jeder hat einen eigenen Arbeitsplatz mit eigener Ecke. Das war vorher auch schon ähnlich, aber eben etwas anders. Mitten im Zimmer stehen eine größere Palme, ein Affenbrotbaum, ein Espada de Ogum[10] (ein Bogenhanf) und eine Aloe Vera. Dann, weil alles so ruhig und schön war, habe ich beim Aufräumen einen alten Koffer meiner Oma mütterlicherseits geöffnet und lauter Fotos von Brasilien, Italien und Ariu als Baby gefunden – eine kleine Schatztruhe! Ich mit Gilberto Chateaubriand, ich mit Pierre Fatumbi Verger, ganz viel Vergangenheit!

Nur die Bücher türmen sich noch überall, weil wir schlicht zu viele haben, obwohl wir auch einige aussortiert haben. Es ist so gut, sich mit banalen Dingen beschäftigen und vom Grauen ablenken zu können. Heute fand ich, dass die angebliche Marionette von Trump Jair Bolsonaro einen ebenso irren Blick wie Hitler hat; vielleicht ist er nicht zu unterschätzen. Es ist auch egal, ob er Trump zu Füßen liegt, es ist eigentlich nur wichtig, dass er sein Volk opfert – ob nun der Ungerechtigkeit, dem Hunger, der Perspektivlosigkeit oder Corona wegen, ist zwar wichtig, aber austauschbar.

Ich glaube schon, dass ich feige bin und hier zu Hause sitze, gut esse, mal spazieren gehe statt zu demonstrieren. Ich bin ein Kind meiner Zeit, weil ich denke, dass ich die Welt nur ändern kann, indem ich mich selbst ganz radikal in Frage stelle und ändere. Das reicht wahrscheinlich nicht.

Ich habe zuerst über die Krankheit Freund*innen verloren und nun verliere ich sie über die Meinung über die Krankheit. Meine Mutter hat mir als Jugendliche einmal gesagt, dass es der natürliche Verlauf der Dinge ist, dass einem als junger Mensch alle Türen und sehr viele Wege offenstehen, diese sich aber später immer weiter reduzieren, auch ohne das eigene Zutun, einfach durch den eigenen Charakter. Mich hat das sehr beeindruckt, auch wenn ich es nicht völlig verstehen konnte; und nun ist es so.

 

20.4.2020

Die Tage empfinde ich wie eine zweite Phase von Corona, wahrscheinlich, weil nun eigentlich noch Osterferien der Schulen sind und damit ein struktureller Zeitenwechsel. Frühlingsbeginn.

Dennoch, und auch genau an den Osterferien ist das abzulesen, ist dieses Jahr alles anders, da es ja gar keine Ferien gibt – d.h. weder einen Abstand vom Normalarbeitstag und Ferien (sondern durch die Bank weg tagtägliches Arbeiten kombiniert mit Haushalt, Ausruhen, Reflektieren), noch tatsächlich Ferien mit Reisen – und sei es nur ins Umland. Die neuen Hausaufgaben sind wieder verteilt worden und morgen gibt es ein Zoom-Treffen mit der Klassenlehrerin von Ariu. Ich bin ja neugierig, wie das eigentlich abläuft, aber Ariu möchte das bei geschlossener Tür selbst machen. Gut. Seine Lehrerin hat mich ja erneut gelobt, wie alles so gut bei uns läuft.

Irgendwie wollen alle zurück zur Normalität und eigentlich frage ich mich, warum wir nicht gleich bei der ersten Welle einfach nichts getan haben und alle vor sich hinsterben gelassen haben, wenn es denn nun bei der zweiten Welle passieren kann. Es ist doch unlogisch, es ist doch die gleiche Situation wie vorher. Kein Impfstoff, das Virus ist ziemlich lebendig.

Die Stimmung ist die, „Naja, an uns Deutschen geht das einfach vorbei. Krank und arm sind doch nur die anderen“, ziemlich arrogant, natürlich auch besonnen. Ich finde diese Besonnenheit ja bewundernswert, aber teile sie nicht.

 

Ich frage mich tatsächlich, warum nun alle so erpicht darauf sind, dass ja alle Schüler*innen ihre Prüfungen ablegen, so als würde unser Überleben davon abhängen.

 

 

21.4.2020

Gestern Abend habe ich nach der Tagesschau und dem Corona-Spezial in der ARD noch „Hart aber fair“ im Fernsehen geguckt (vgl. Plasberg 20.4.2020), was ich sonst eigentlich nie gesehen habe. Aber nun interessiert es mich schon, die allgemeine Meinung mitzubekommen.

Ich frage mich tatsächlich, warum nun alle so erpicht darauf sind, dass ja alle Schüler*innen ihre Prüfungen ablegen, so als würde unser Überleben davon abhängen. Gerade in diesem jungen, innovativen Bereich könnte es doch so viele andere Möglichkeiten geben, Unterricht durchzuführen und Prüfungen abzulegen und wird ja auch tatsächlich umgesetzt (zumindest an der Schule meines Sohnes und das ist kein gehyptes Gymnasium, sondern eine einfache Sekundarschule bei uns um die Ecke). Und vor allem auch zu lesen, zu recherchieren, in die Tiefe zu gehen – sind wir alle nur noch oberflächig? Ich glaube nicht, immerhin wird im Abitur immer noch (!) auch Geschichte, Literatur, Malerei diskutiert. Ich vermute, dass sich einfach einige Schlaumeier diese Diskussion zu eigen machen und anderen zu wenig zugehört wird, z.B. den Schüler*innen und Lehrer*innen selbst.

Ich fand diesen ständigen Fokus auf die gesprochene Sprache schon immer blöd und einseitig.

Aber wahrscheinlich geht es gar nicht darum. Wahrscheinlich ist es einfach das sozialdarwinistische Interesse einer Lobby, dass nun alles „zur Normalität“ post Coronam „zurückkehrt“ und wir weiterhin schnell, schneller und höher, weiter wirtschaftlich dem Abgrund hinterherrennen. Vielleicht sollten wir das Abstandhalten aus dem Alltag, das in Corona-Zeiten zumindest theoretisch (aber in Wilmersdorf praktisch wieder gar nicht) eingehalten werden sollte, auch im Denken zulassen und uns etwas Zeit mit lauter voreiligen Entscheidungen lassen?

Ich war auch wieder spazieren, wieder in der unmittelbaren Umgebung, aber ein paar andere Straßenseiten vom Heidelberger Platz in Richtung Friedenau hinein. Es ist schon lustig, wie es wie im Sommer am FKK-Strand von Graal-Müritz an der Ostsee aussieht: Alle eher ohne Textil, aber manche tragen doch etwas undefiniertes Textiles, aber immer an irgendeiner spontan ausgewählten Stelle. Manche ziehen den Mundschutz an das Kinn und laufen dann mit unbedecktem Mund und Nase ihren schweren Einkaufstüten von Aldi los; wahrscheinlich hatten sie den textilen Schutz nur im Supermarkt richtig auf. Andere meinen, dass nur der Mund damit gemeint war und lassen die Nase oben frei rausgucken.

Ich habe meinen neu von meiner Mutter genähten Schutz, der eher wie eine Maske wirkt, ausgeführt. Sie hatte ja zuerst die Drostensche Maske aus dem Tagesspiegel nachgenäht, die den einmal genutzten Baumwollteilen ähnelt, wie sie sonst im Stadtbild mal hier mal da in verschiedenen Farben, aber am meisten in einem Mintgrün, auftauchen. Sie saß aber nicht gut, rutschte immer im Gesicht herum. Und nun hat sie ein neues, ausgepolstertes herzförmiges Modell, was irre gut sitzt und bis kurz unter das Kinn geht, an beiden Ohren ansetzt und bis über die Nase reicht. Vorne hat sie bei der Nase einen lustigen, abgerundeten Schwung und sieht mit dem altrosafarbenen Karomuster richtig schick aus.

Altrosakarierte Mund-Nasen-Schutzmaske, Foto: Josias Scharf.

Da ich bei der hellen Sonne auch eine Sonnenbrille dazu trage, was für den Schutz natürlich optimal ist (überhaupt Brillen), bin ich völlig in meiner Gesichtswelt eingeschlossen. Zuerst denke ich, dass es wie ein Schleier wirkt, aber das stimmt nicht – schließlich zeige ich meine Haare. Im Grunde genommen ist es ein umgedrehter Schleier, genau das Gegenteil.

Als ich den Biomüll in die Tonne werfen wollte, stand da gerade der Müllmann und hielt mir den Behälter auf. Ich bedankte mich, wusste aber gleichzeitig, dass er mein Lächeln dazu nicht sehen konnte – das ist schon merkwürdig, da ich es gewohnt bin, auch mit meinem Gesichtsausdruck zu reden.

Mir ist klar, dass der „Schutz“ gar keiner ist und mehr über unsere Ungewissheit und unser Unwissen zeugt, aber in dieser Hinsicht passt er immerhin zum Virus; über ihn wissen wir schließlich auch viel zu wenig, um angemessen damit umgehen zu können.

Übergang an der S-Bahn Heidelberger Platz, Foto: ISdS.

Im Grunde genommen fühlt sich diese Gesichtsmaske wie ein Maulkorb an oder ein Knebel, wie er auf den ikonographischen Darstellungen der Sklavin Anastácia auch in der Umbanda bekannt ist. Anastácia soll 1740 in Minas Gerais (einem Bundesstaat von Brasilien) geboren worden sein und war als Heilerin und Handauflegerin tätig. Da sie sich als versklavte und Schwarze Frau nicht von ihrem Besitzer vergewaltigen lassen wollte, musste sie zur Strafe ihr Leben lang eine Mundmaske aus Eisen, eine sogenannte Máscara de Flandres, tragen, die ein Folterwerkzeug im kolonialen Brasilien war. Ihre Geschichte wird im Volksmund in Brasilien erinnert und sie wird in der Umbanda als Heilige verehrt. Eine Zeichnung von Jacques Arago von 1839 wurde zu einer ikonographischen Darstellung (vgl. Burdick, John 1998: Blessed Anastacia: Women, Race, and Popular Christianity in Brazil, New York: Routledge).

Die Mãe-de-Santo Zilda aus Tucuruvi, dessen Umbanda-Haus ich für meine Magisterarbeit beschrieben und analysiert habe, hatte ein Gedicht an die Escrava Anastácia (die Sklavin Anastácia) unter ihrem Altar aufbewahrt:

Gedicht an Anastásia

Prinzessin, die zur Göttin wurde

Göttin, die zur Sklavin gemacht wurde

Sklavin, die Prinzessin war

Gib’ uns die Schönheit deines Körpers

und die Ernsthaftigkeit deiner Seele

Amen

Versklavte Göttin. Versklavte Prinzessin

Prinzessin und Göttin, der der Mund verboten wurde

aber nicht den rebellischen Schrei unterdrücken konnte

gib’ uns dein rebellisches Sein

Amen

Sklavin, die zur Göttin gemacht wurde

Göttin, die als Prinzessin geboren wurde

Prinzessin, die frei geboren wurde

gib’ uns die Melancholie deines Blickes

und den Stolz deiner Haltung

und befreie uns vom Knebel

der uns heute immer noch bedroht

Amen.

 

[Poema a Anastacia

Princesa que se fez Deusa

Deusa que fizeram escrava.

Escrava que era Princesa.

Daí-nos a beleza de teu corpo e a serenidade de tua alma.

Amém.

Deusa. Escrava.

Escrava Princesa, Princesa Deusa que taparam a boca,

mas não suprimiram o grito rebelde, daí-nos tua rebeldia.

Amém.

Escrava que fizeram Deusa.

Deusa que nasceu Princesa, Princesa que nasceu livre,

dai-nos a melancolia do teu olhar

e a altivez do teu porte e livrai-nos da mordaça que, ainda hoje, nos ameaça.

Amém.

Deusa Mártir, Escrava Deusa, Princesa Linda, dai-nos teu amor e tua coragem.

Amém.

Deusa do povo, Escrava de um povo, Princesa do teu povo,

dai-nos a fé do povo, a força do povo, o amor do povo,

para que possamos ser mulheres e homens dignos do povo.

Amém.

Mulher escrava, Deusa mulher, mulher Princesa,

dai-nos tua força para lutarnos e nunca sermos escravos,

porque não somos tão rebeldes como tu.

Assim seja. Amém.]

(Anonym, zitiert in: Scharf da Silva 2017[2004]: Umbanda. Eine Religion zwischen Candomblé und Kardezismus. Über Synkretismus im städtischen Alltag Brasiliens. Berlin: Humboldt Universität: 123)

Vielleicht ist es das, was die Leute hierzulande davon abhält, sie zu benützen, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen damit symbolisch der Mund verboten wird?

Ich finde die Deutschen schon ziemlich frech und arrogant. Die Grundstimmung ist wohl eher „Ach, das wird schon an uns vorbeigehen. Die da in anderen Ländern im Süden, ja, da bricht die Krankheit in vollem Maße aus, aber hier nicht.“

Auf Facebook habe ich meine Liste an Büchern mit Amy Tan ›Die hundert verborgenen Sinne‹, Sylvia Plath ›The bell jar‹ und Rosi Braidotti ›Politik der Affirmation‹ zu Ende geführt, aber niemand reagiert.

 

Alle leiden an „Restriktionen“, „Eingesperrtsein“, „an unseren Wohnraum „gefesselt“ (Lussem 20.4.2020) sein und einem angenommenen Obrigkeitsdenken und ängstigen sich vor Bevormundung. Ich nicht, da sie ja nicht vorhanden ist und alle lustig durch die Gegend spazieren und auch ihre Meinung sagen.

 

 

22.4.2020

Alle leiden an „Restriktionen“, „Eingesperrtsein“, „an unseren Wohnraum „gefesselt“ (Lussem 20.4.2020) sein und einem angenommenen Obrigkeitsdenken und ängstigen sich vor Bevormundung. Ich nicht, da sie ja nicht vorhanden ist und alle lustig durch die Gegend spazieren und auch ihre Meinung sagen. Ich ängstige mich vor der Rückkehr zu einer Normalität, die tödlich ist, in vielerlei Hinsicht. Erstmal tatsächlich wegen Corona, obwohl ich das hierzulande ja gar nicht mehr sagen darf, weil doch die Situation die gleiche wie vor ein bzw. zwei Monaten ist und der Virus sich rasant ausbreiten kann. Und andererseits befürchte ich, dass die extremen Meinungen zunehmen, wie auch immer sie sich markieren (als rechts oder links, da scheinen so manchen Grenzen zu verschwimmen). Ich sehe sie nicht in Angela Merkel, sondern in denen, die es „natürlich“ finden, dass Alte und Vorerkrankte wie ich eben sterben. Das ist sozialdarwinistisch! Das soll links sein, spirituell, reflektiert? Ich glaube, dass ich spinne!

Mir ist zum Heulen zumute. Vielleicht sollte ich einfach rausgehen, alles erledigen und mich in den Supermarkt und in die öffentlichen Verkehrsmittel begeben wie alle anderen, distanzlos, weil wir uns ja alle so gerne mögen und ständig drängeln müssen als Ausdruck dieses fürchterlichen Gernhabens. Wenn dann nur ich als Kranke und Behinderte sterbe, ist es eben „natürlich“.

S-Bahnhof Heidelberger Platz in Berlin-Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Gerade las ich einen Text, der davon sprach, dass wir nicht nur den Tod schätzen, sondern auch den Abschied lernen sollten (vgl. Fischer 20.4.2020).

„Möglichst viele Menschen am Leben zu erhalten, scheint das Gebot der Stunde zu sein. In dieser Leitidee manifestiert sich der Umgang unserer Gesellschaft mit Vergänglichkeit. Wir sind behördlich dazu angehalten, alles daran zu setzen, dass möglichst wenige sterben, dass das Gesundheitswesen nicht überlastet wird. Mit welcher Art von «Wesen» haben wir es hier eigentlich zu tun? […]

Vielleicht können wir uns dem Verlust zuwenden und mit ihm eine versöhnlichere Form von Beziehung finden – ihn und seine Facetten kennenlernen, uns darin üben, Abschied zu nehmen, zu akzeptieren, dass das Vergehen zum Werden gehört, dass es unausweichlich damit verbunden ist.“ (Sabina Fischer 20.4.2020).

Nun, das habe ich in meiner schweren Krankheitsphase auch geschrieben, dass in unserer Kultur der Tod tabuisiert wird. Aber der Tenor war ein anderer. Ich wollte offen sein dürfen, über meine Krankheit reden dürfen ohne ständig dabei fröhlich sein zu müssen. Diese Texte, die da jetzt entstehen, kommen aber von wohlgenährten, gut versorgten, mitten im Leben stehenden, erfolgreichen und reichen Menschen, die – so scheint es mir zumindest – jetzt nicht solidarisch mit anderen sterben wollen, sondern einfach bereit sind, sich von anderen, die sterben, zu verabschieden. Wie schön! Mich kotzt das dermaßen an.

Ich heule. Vielleicht sollte ich einfach aufhören, mich um mich zu sorgen, schließlich sterben so viele andere Menschen auch auf dieser Welt. Ich bin doch nur eine unter vielen.

Ja, ich bin schwach. Ich bin wirklich krank.

Und eigentlich sollte ich mich nicht wie eine Schildkröte verhalten, denn das Leben ist endlich. So viele werden mich schon nicht vermissen. Ich habe ein Kind bekommen und zwei Bücher geschrieben, viele blöde Bilder gemalt, die sowieso niemand sehen will, das reicht.

Ein Freund von mir postet in der Timeline von WhatsApp eine Schildkröte und schreibt dazu „Sei mutig“, haha! Hier in Wilmersdorf scheint es nur mutige Menschen zu geben und ich weiß jetzt einmal mehr, warum die Schildkröte schon immer mein Lieblingstier gewesen ist. Als ob Schildkröten nicht mutig seien, so lange zu leben. Jedenfalls ist es mir sympathischer, mich mit einer Schildkröte zu identifizieren als mit einem (Versuchs)-Kaninchen!

Mich hat das gerade so aufgeregt, dass ich nun endlich auch mal darauf reagiert habe und schrieb auf Facebook an N.N., einem Umbandisten aus der Schweiz, der meinte, dass „dieser schöne, besinnliche Text auf diesem ganz besonderen Blog […] aus der Seele“ spreche:

„Lieber N.N., ich habe diesen Text auch gelesen, weil ich Dich als sensiblen Schreiber und Leser uns sympathischen Menschen schätze. Und vielleicht habe ich diesen Beitrag ja falsch gelesen und möchte gerne Deine Meinung dazu nachvollziehen können, da dieser Text für mich als „Risikoperson“ (Ok, ist ein merkwürdiger Begriff) eher sozialdarwinistisch klingt. Verstehe ich es richtig, dass die ältere Generation sowie die chronisch Kranken und behinderten Menschen „eben“ verabschiedet werden und die gesunden, reichen und „fittest“ (um damit einen Begriff der Sozialdarwinisten zu verwenden) das als „natürlich“ hinnehmen? Bin ich egoistisch und unnatürlich, weil ich keine Lust aufs Sterben habe?

In der Phase des Ausbruchs meiner Krankheit habe ich auch viel darüber geschrieben, dass Tod und Vergänglichkeit in unserer Kultur enttabuisiert werden sollten, aber der Tenor war ein anderer. Ich wollte das Recht einfordern, über Krankheit als Teil des Lebens reden zu können statt immerzu fröhlich sein zu müssen. Eigentlich müssten dann immerhin die, dies ich nun im Abschied nehmen üben und damit eine offenere Gesellschaft wünschen, solidarisch mit den Menschen sein, die nun als anders markiert werden – die Faveladas in Brasilien, behinderte, kranke, alte Menschen – und gemeinsam mit ihnen sterben. Das wäre menschlich und solidarisch.

Es tut mir leid, aber die Leute, die sich mal für ein paar Monate nicht ins Menschengetümmel stürzen dürfen, sondern im Park oder im Wald herumspazieren, tun mir gerade echt nicht leid. Ich lebe lokal, aber denke global. Auch wenn der Kelch gerade an uns vorbeizugehen scheint, denke ich an die Menschen auf der Welt, wo es nicht so ist – wo es keinen Sozialstaat gibt, der an ihr Wohlergehen denkt, sondern nur das Weiterpulsieren der elendigen Wirtschaft.

Das sind meine Gedanken dazu, bitte teil mir Deine dazu mit, ja? Herzlich und Axé!“

Mal sehen, was er mir darauf antwortet. Ob er mir antwortet?

Da ich nun ja gerade doch wieder auf Facebook unterwegs bin, lese ich einen Eintrag von Sandra Bello, der mir aus der Seele spricht:

“Muito preocupada com essa euforia que está sendo propagada em relação a Alemanha. O isolamento social fez com que a Alemanha a achasse a curva controlou o pico.

Isso não significa que a pandemia acabou ou está cientificamente sob controle.

E também o relaxamento da isolação social, está se dando pela pressão do Capitalismo.

O achatamento da curva, está sendo usado politicamente pelos tubarões do capital

Pela ansiedade do consumo.

Viver é gastar, gastar, explorar.

Esse achatamento deveria ser um entusiasmo

Pará reforçar a eficiência do isolamento social.

Os cientistas darem informes sobre como anda os estudos em relação ao vírus. A que pé estamos.

Ao contrário disso o capital se apropria desse pequeno sucesso, que faz parte de um processo bem mais longo.

Atentes.

A Alemanha não está sozinha no mundo

Ninguem vai vencer sozinhos.

Querendo ou não

Estamos todos interligados

A pandemia

Evidência.

Segura a onda Alemanha

O epicentro do Capital.

S.B.

#PELACONTINUIDADEDOISOLAMENTOSOCIAL #PROTEÇÃOPARATODESDOCUMENTADESENAODOCUMENTADES

[„Ich bin sehr besorgt über die Euphorie, die über Deutschland verbreitet wird. Die soziale Isolation führte dazu, dass in Deutschland die Kurve abflachte und den Höhepunkt kontrollierte.

Dies bedeutet nicht, dass die Pandemie vorbei oder wissenschaftlich unter Kontrolle ist.

Und auch die Lockerung der sozialen Isolation findet unter dem Druck des Kapitalismus statt.

Die Abflachung der Kurve wird von Haien in der Hauptstadt politisch genutzt

Durch Konsumangst.

Leben heißt ausgeben, ausgeben, erkunden.

Diese Abflachung sollte eine Begeisterung sein

Stärkung der Effizienz der sozialen Isolation.

Wissenschaftler berichten, wie die Studien zum Virus verlaufen. Wie weit sind wir?

Im Gegenteil, das Kapital eignet sich diesen kleinen Erfolg an, der Teil eines viel längeren Prozesses ist.

Passt auf.

Deutschland ist nicht allein auf der Welt

Niemand wird alleine gewinnen.

Ob oder nicht

Wir sind alle miteinander verbunden

Die Pandemie

Beweist es

Halte die Welle, Deutschland

Das Epizentrum des Kapitals.

S.B.

#SOCIALSOLIDELESSINFORMATION # SCHUTZ FÜR DOKUMENTE AUS DEN DOKUMENTEN“]

Ist schon komisch, dass ich schon wieder nicht deutsch, sondern brasilianisch denke.

 

23.4.2020

Endlich beschäftigt sich mal jemand mit der gleichen Frage wie ich, warum nun unbedingt Prüfungen in Deutschland an den Schulen durchgeführt werden. Mein Sohn schickt mir per WhatsApp ein Video des Youtubers Rezo, indem er sagt, dass die jetzige Logik, alle Kontaktbeschränkungen wieder zu lockern und die Schüler*innen wieder zur Schule gehen sollen (nach und nach, Ariu ist noch nicht dran) so gut sei, wie wenn man nach einer Weile, wenn alle Menschen verhüten und die jungen Mädchen keine ungewollten Kinder zur Welt bringen, dann auf einmal sagen würde: Gut, das hat ja geklappt, dann nehmen wir das mal weg und vögeln alle ohne Verhütung (vgl. Rezo 22.4.2020). Was würde wohl passieren?

Ariu schmunzelt darüber, aber es geht ihm vor allem um die Stelle, in der er mich, seine Oma (die Asthma hat) oder ältere Lehrer*innen unwissend anstecken und in Lebensgefahr bringen könnte. Er spricht ganz besonnen mit mir und versichert mir, dass es ihm gut gehe, aber ich finde es erschreckend, dass die jungen Menschen solche Verantwortung übernehmen sollen und frage mich, ob es denn alle tun oder sich auch verweigern? Das Risiko eingehen, dass sie die Überträger*innen sind und andere deswegen sterben?

Mitten in dieser gesellschaftlichen Krise hat er u.a. eine Hausaufgabe auf, in der er sich mit seinem „Traumberuf“ auseinandersetzen soll; dabei bemerke ich, wie desillusioniert ich schon bin (aber nicht erst seit Corona), weil er sagt, dass er sich wohl, zu Hause sicher und auch frei fühlt und jetzt entdecken möchte, was für ihn der „Sinn des Lebens“ sei – weil das eine der Fragen aus dem Fragekatalog war. Er möchte Fachinformatiker, Erzieher oder beides werden. Er hat so viel Vertrauen in die Welt. Wie gut, immerhin habe ich ihn nicht mit meiner pessimistischen Grundstimmung angesteckt.

N.N., der alte spirituelle Gefährte von mir, den ich auf Facebook angesprochen habe, hat mir nicht geantwortet. So ist das. Ein harter Brocken für mich, dass ich nicht einmal eine Antwort wert bin.

Im Rheingauviertel in Berlin-Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Als ich heute durch wieder andere Nebengassen des Rheingauviertels spaziert bin, wo alles so paradiesisch aussieht, dachte ich an den Anteil von Xangô[11] in mir, der die Ungerechtigkeit nicht erträgt, einfach den Rest der Welt und alle, die sich nicht immer sicher und cool fühlen und weniger Chancen haben, zu vergessen. Ich spürte diesen Orixá und wusste, dass er in dieser Eigenschaft schon immer bei mir gewesen ist. Ich hatte bislang nur sein oberflächliches Wesen eines Machos und Frauenhelds und guten Essers wahrgenommen, aber nicht seine geballte und gleichzeitig liebenswürdige Kraft, der wie ein alter Gewerkschafter wie Lula da Silva für Gerechtigkeit einsteht. Und siehe da, heute Abend gab es in der Casa St. Michael ein großes Ritual für Xangô und Iemanjá, durchgeführt von Mãe Gabriele.

Die geplante Arbeit mit Xangô und Yemanja für den 22.04.2020 um 18 Uhr wird verschoben auf Do., den 23.04.2020, Teilnahme nur von zu Hause. Bitte verbindet Euch um 18 Uhr mit uns. Zündet eine rote Kerze und türkise/hellblaue (alternativ 2 weiße) an. Betet und singt für Xangô und Yemanja. (Facebook Post).

Und mein Mann kochte, was für ein Zufall, brasilianisches Huhn mit Reis, Kartoffeln und Okraschoten, Xangôs Leibgericht (die Okraschoten), in Tomatensoße, dazu eine Vinaigrette mit frischem Koriander, Tomaten und Pimenta. Ich hatte eine rote Kerze für Xangô und eine hellblaue Kerze für Iemanjá angezündet, meine Ketten aus Brasilien getragen und für sie gesungen, mehr Yorùbá als Brasilianisch. Die Kerzen brennen jetzt noch, während ich auf dem Sofa sitze und schreibe. Die guias, die sakralen Ketten, liegen drumherum und repräsentieren die Präsenz der Orixás und der spirituellen Wesen. Die Nacht bricht an.

 

Ich lege mich in die Ruhe, bade in ihr, genieße sie, lasse mich in sie fallen. So lange habe ich darauf gewartet.

 

24.4.2020

Ich lege mich in die Ruhe, bade in ihr, genieße sie, lasse mich in sie fallen. So lange habe ich darauf gewartet.

Ich mache mir Sorgen um Ariu, wie er als Fünfzehnjähriger mit dieser gesellschaftlichen Krise umgeht. Er freut sich über Spiegeleier, Lasagne, tanzen und Vanilleeies mit frischen Erdbeeren. Seine Antwort ist: Mir geht es gut, ich genieße die Zeit hier zu Hause. Aber ich bin traurig, dass so viele so schnell an Corona sterben. Er bringt es auf den Punkt, oder?

 

25.4.2020

Wie gut, dass nun eines meiner Lieblingsthemen überhaupt zur Sprache kommt: die Unsicherheit, wie ich sie 2015 in einem Text „Über die schwere Hörigkeit“ (In: Klein, Uta, Hg., 2015: Inklusive Hochschule. Im Spannungsfeld zwischen Hochschule im Wettbewerb, Bologna-Reform und UN-Behindertenrechtskonvention. Weinheim: Beltz Juventa-Verlag) beschrieben habe. Der derzeitige Direktor des Futuriums (dem Haus der Zukünfte) in Berlin (wo ich mich Anfang des Jahres um eine Stelle beworben habe) meint, dass Unsicherheit auf das Kommende eine Voraussetzung dafür ist, „um überhaupt ernsthaft Zukunftsgestaltung in den Blick nehmen zu können“ (Stefan Brandt 8.4.2020). Dass überhaupt so viel über eine Zeit nach der Pandemie diskutiert wird, ist erst einmal ein Zeichen der Hoffnung, da irgendwie alle davon ausgehen, dass wir diese Zeiten überleben. Viele werden es ja wahrscheinlich nicht überleben, soweit die Weltlage aussieht… Also, für die, die dann doch überleben. „[…] die Zukunftsdeutungen für die „Nach-Corona-Zeit“ reichen von dystopischen Szenarien wie dem Zusammenbruch der Demokratien bis hin zu Utopien über eine klimagerechte Welt“ (ebd.).

[…] Statt mir in dieser Zeit ein schlechtes Gewissen einzureden, wäre doch ein liebes Wort viel angebrachter. Meine Akustikerin hat mir ein Päckchen Hörgerätebatterien geschickt, worum ich sie gebeten habe, dazu Schokolade und drei Masken in Mintgrün, dazu schrieb sie einen Zettel: „Wir regeln das so. Gesunde Grüße!“ Solche Menschen gibt es auch.

 

 

Es ist schon komisch – ich bemerke, dass ich es befürchte, dass die Welt sich wieder öffnet. Natürlich auch wegen der Gefahr, aber auch, weil ich mich schon so an sie gewöhnt habe und sie so erfüllt und ruhig ist. Es ist diese Ruhe, die ich lange gesucht habe.

 

 

26.4.2020

Es ist schon komisch – ich bemerke, dass ich es befürchte, dass die Welt sich wieder öffnet. Natürlich auch wegen der Gefahr, aber auch, weil ich mich schon so an sie gewöhnt habe und sie so erfüllt und ruhig ist. Es ist diese Ruhe, die ich lange gesucht habe.

Ich habe es vorher zeitlich und kräftemäßig nicht geschafft, gleichzeitig zu arbeiten, zu malen, mit Ariu zu reden und seine schulischen Aufgaben zu verfolgen, den Haushalt zu führen. Bei uns sah es immer aus wie bei Hempels unterm Sofa. Jamiro kocht zwar regelmäßig seine Feijoada und andere brasilianische Hausmannskost, aber ihn interessiert der große Blick über die Wohnung nicht. Alles wird in allerletzter Minute erledigt, wenn irgendwas oder irgendwer etwas einfordert, sonst bleibt es liegen. Ariu scheint als sozialer und sensibler Mensch und seiner Intelligenz auch ohne Fleiß und Interesse seine Aufgaben erledigen zu können. Jetzt, wo für ihn alles freier ist, umso besser.

Die Feijoada ist das brasilianische Nationalgericht und besteht aus schwarzen Bohnen, die mit Resten von geräuchertem Rind- und Schweinefleisch sowie Lorbeer und Knoblauch gekocht werden (also Zunge, Schweineohren und -füßen usw., die wir aber ein Glück nicht essen, aber auch Würsten). Dazu gibt es Reis und Farofa, mit Butter oder Palmöl in der Pfanne geröstete Farinha (Mandiokamehl). Meist werden in Ringen geschnittene Orangenscheiben dazu gereicht, es passen aber auch Bananenscheiben dazu. Das Gericht erinnert wegen der Resteverwertung des nicht von den Hausherren gegessenen Fleisches an die koloniale Sklaverei.

Wenn jemand dazu sagt, dass die Feijoada ein „Bohneneintopf“ sei, wird mein Mann sauer, weil es für ihn abwertend klingt. Genau diese Reaktion bringt es auf den Punkt, wie sehr dieses Gericht wertgeschätzt wird. Während Deutsche, die im Ausland leben, sich nach Vollkornbrot sehen, sehnen sich Brasilianer*innen in der Migrationssituation nach Feijoada oder auch anderen Sorten von gekochten Bohnen mit Reis; das ist ein Gefühl von kulinarischer Geborgenheit und Kindheitserinnerungen.

Mein Mann ersetzt das Fleisch, das es hierzulande nicht in dieser Form zu kaufen gibt, mit Lammhaxen (die es bei Ergodiga, einem türkischen Supermarkt gibt) oder Kassler sowie Mettenden, die er als landestypische Wurst bei Aldi oder Edeka kauft. Das Farinha und die schwarzen Bohnen gibt es im asiatischen Supermarkt zu kaufen und werden wie in Brasilien über Nacht in Wasser eingeweicht und im Dampfkochtopf gekocht.

Jetzt ist es schon fast eine Gewohnheit, dass wir zum Fennsee laufen und alle kleineren und größeren Abhänge und Schleichwege direkt am Wasser anstelle der Gehwege um den kleinen See kennen.

Am Fennsee in Berlin-Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Wie groß ist er eigentlich? Da ich ihn immer mit der Krummen Lanke verglichen habe, erschien er mir immer klein, aber jetzt erkenne ich, dass er wild bewachsen und ein kleiner, stadtnaher Urwald ist. Immer wieder entdecke ich etwas Neues jenseits unseres Lieblingsbaums, einer Hängeweide mit zarthellgrünen Blättern, nämlich die ins Wasser wachsenden Wurzeln der Bäume, die frisch geschlüpften Entlein und den halb versumpften Boden des Sees.

Baum am Fennsee in Berlin-Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Leider können wir im Sommer nicht darin schwimmen. Was wird sein, wenn der Sommer und die Hitze kommt? Gerade vermissen wir die Uckermark, wo wir immer zu Ostern zu meinen Eltern ins Ferienhaus gefahren sind, aber das ist eine Zeit des Übergangs. Der Sommer ist eine starke Zeit, Sonne, Wasser, Natur, Reisen, Entspannung, Sich auflösen im großen Ganzen. Wird es das dieses Jahr geben?

Jamiro befasst sich auch in Pandemie-Zeiten nicht mit der Politik Deutschlands oder Europas, sondern Brasiliens. Das bleibt so. Die YouTube-Kanäle mit unabhängigen Berichterstattern, aber auch Globo, dokumentieren den erneuten Zusammenbruchs des Systems, aber auch das Leben im Alltag; die sich in die Busse drängelnden Menschen mit ihren Mund-Nasen-Masken, die dort immerhin sitzen und nicht wie hier zur Seite geschoben werden als seien sie modische Accessoires. In Brasilien hoffen die Menschen inständig, dass die Masken sie vor der Übertragung von Corona schützen.

 

Der Sommer ist eine starke Zeit, Sonne, Wasser, Natur, Reisen, Entspannung, Sich auflösen im großen Ganzen. Wird es das dieses Jahr geben?

 

Es ist komisch. Obwohl die Familie meines Mannes in Brasilien lebt, verdränge ich das Wissen um die vielen Toten dort. In Manaus, São Paulo, Rio de Janeiro; überall da, wo Bolsonaro gewählt worden ist. Grauenvoll. In den evangelischen Freikirchen zeigen sie die Waffe als Handsymbol und haben die gute Regierung von Lula und Dilma gestürzt, weil sie „kommunistisch“ sei.

 

Immerhin gehe ich Spazieren, was ich aber weniger als Sport empfinde als vielmehr als Nachdenken beim Herumlaufen, Denksport.

 

 

27.4.2020

Heute habe ich das erste Mal, seit die Kontaktbeschränkungen wegen der Pandemie ausgesprochen worden sind, meine Eltern getroffen. Das kam eher zufällig zustande, da sie auch auf dem Rüdesheimer Platz herumliefen so wie ich es öfters tue und weiter gerade aussortierte Bücher und Zeitschriften in die Büchertauschbox bringe. Alle meine Bücher sind weg und scheinen nun von anderen gelesen zu werden, wie gut! Meine Eltern kamen gerade mit je einer Tüte Eis aus dem Eisladen Lotte am Platz, hatten selbstgenähte Mund-Nasen-Masken um ihre Hälse zu hängen als seien es hübsche Accessoires. Meine Mutter trug eine weiß-grau-gestreifte Maske, mein Vater eine rot-weiß-schwarz-karierte. Eine Freundin von ihnen, Hildegard, die sie am Rüdi getroffen hatten, trug eine beige geblümte. Jeder anders, gestreift, geblümt, kariert. Wir setzten uns im gebührenden Abstand auf eine freie Bank, mein neben mir sitzender Vater hat brav seine baumwollene Maske aufgesetzt und wir guckten in die Bäume und über den Platz, die Sonne schien.

Sonnendurchflutete Bäume am Rüdesheimer Platz, Berlin-Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Ich denke, dass ich vielleicht glücklicherweise doch Unrecht habe und wir hier in Berlin ungeschoren davonkommen! Ich bedanke mich beim Sonnenstrahl, bei den hellgrünen Blättern. Alles ist so friedlich und fröhlich hier, nur ich nicht. Gut, nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Ich wünsche mir aus vollem Herzen, dass ich Unrecht habe!

Ich lese nicht mehr so viel Nachrichten und die Zahlen an Toten sagen mir nichts mehr. 50.000 Tote in den USA? Und der Präsident empfiehlt seinen Bürger*innen, Reinigungsmittel zu trinken? Das ist alles so absurd. Herdenimmunität? Das sind sonderbare Worte aus einer anderen Welt. Das klingt für mich nach Eugenie, nach Massentierhaltung, die wir nun auf die Menschen anwenden. „The survival of the fittest“ lässt grüßen.

Während ich am Anfang der Quarantäne vergaß, regelmäßig zu essen, fehlt mir nun der Sport, den ich nicht zu Hause gebacken bekomme. Immerhin gehe ich Spazieren, was ich aber weniger als Sport empfinde als vielmehr als Nachdenken beim Herumlaufen, Denksport.

Ich sollte fleißiger sein, weil ich vielleicht gar keine Zusage für meine Übergangsstelle an der HU bekomme und mich dann eben gleich für die ›Eigene Stelle‹ bei der DFG bewerben sollte.

Heute hat Ariu in einem Zoom-Chat mit seiner Klassenlehrerin und den anderen Mitschüler*innen erfahren, dass er erst nach den Sommerferien wieder in die Schule geht. Ich hingegen kann mich immer noch nicht mit Zoom anfreunden, sollte es aber wirklich tun… Wahrscheinlich wird auch Arius Reise in die Böhmische Schweiz ausfallen, die für das Ende der Sommerferien geplant war… Auch wenn er immer noch fröhlich ist, mache ich mir Sorgen, dass er doch mal in die Sonne gehen sollte. Diese Corona-Lebensphase wird sich noch sehr lange ausdehnen und unser Leben bestimmen.

Ich nehme mir vor, die Reifen meines Fahrrads im nächsten Fahrradladen aufpumpen zu lassen und wieder ins Atelier zu gehen, um meine Bilder weiter zu malen. Ob ich das bald schaffe?

N.N. und N.N. sprechen darüber, dass sie ihre spirituellen Entitäten nun zu Hause inkorporieren und auch gemeinsam in der Natur inkorporieren möchten. […]

Mein Herz hält zu mir, aber mein Verstand nicht! Mein Geist ist dafür, dass ich schreibe, lehre, forsche, frei bin, alles hinterfrage. Mein Herz sagt, dass die Entitäten sowieso ganz stark und innig bei mir sind; wenn mein Verstand zu blöd ist, das zu verstehen, ist das eben so, auch egal.

Eben lese ich den Post eines Bekannten, der vor einiger Zeit auf Facebook berichtete, dass er Corona hat und alles ganz harmlos und cool sei. Bei seiner Frau sei alles ebenso easy. Nun schreibt er, dass er seitdem keinen Geschmack und Geruchssinn mehr habe und es vermisse. Unterschätzt das Virus nicht, schreibt er nun.

 

Schicke Gegend, aber was habe ich davon, wenn es innen so eng ist?

 

 

28.4.2020

Ich träumte nachts davon, dass ich mit meinem Mann Jamiro zwei Mal umziehe. Wir haben eine neue Wohnung in Zehlendorf oder so, einem der schickeren Wohnviertel im Südwesten von Berlin. Die Umgebung ist zwar schön, voller Bäume und verwunschen aussehender Villen von der Jahrhundertwende (der vorletzten), aber unsere Wohnung an und für sich ist viel kleiner als die, wo wir jetzt wohnen. Da passen gar nicht all unsere Bücher rein. Ich ärgere mich. Und wieso sollen wir ausgerechnet jetzt umziehen, wo unsere Wohnung so frisch und neu renoviert ist und ich mich über die grüne Wand im Wohnzimmer und die im Kinderzimmer freue und wir irgendwie mehr Platz geschaffen haben (bis auf die immer noch sich stapelnden Bücherberge, die nicht alle in die Regale passen)? Wer hat das nur arrangiert, frage ich mich im Traum. Und wo ist Ariu?

Doch der Traum geht weiter. Kaum, dass ich meine Bücher eingeordnet habe, sollen wir in eine andere Wohnung ziehen, die in der gleichen Villa liegt wie die meiner Eltern. Dort nächtigen wir, aber als wir morgens die Gardine wegziehen, sehe ich, dass unser Bett direkt am Fenster steht und die Nachbarin von oben gerade vom Balkon hinunterguckt und in die ganze Wohnung einsehen kann. Diese Wohnung ist noch kleiner als die andere! Nein, das geht nicht! Ich sage es meiner Mutter, die kurz nach dem Aufstehen bei uns im Wohnzimmer steht, was scheinbar gleich das Schlafzimmer ist. Wir haben auf einer Auszieh-Couch geschlafen. Alles ist so klein und eng! Ich frage meine Mutter, wo unser Bücherregal stehen soll, das ist ja recht groß, eine ganze Wand lang. Das Zimmer hat an fast allen Seiten große Fenster mit Gardinen, so, dass wir zwar etwas hinauslugen, aber nicht wirklich alles sehen können. Schicke Gegend, aber was habe ich davon, wenn es innen so eng ist? Auf meine Frage sagt meine Mutter, stell das Regal doch einfach vor die Fenster. Ich wende mich meinem Mann zu und sage, egal, wie sehr meine Eltern sich über unsere Anwesenheit freuen und unbedingt wollen, dass wir bei ihnen wohnen, wir müssen zurück in die andere Wohnung ziehen, die ist größer! Ich ärgere mich ziemlich, dass ich mich rechtfertigen muss und dass Jamiro nichts tut, sondern ich alles entscheiden muss. Er steht zwar treu an meiner Seite, tut aber nichts, steht nur rum.

Der Grundtenor ist der, dass ich mich ärgere und von mir erwartet wird, dass ich mich freue. Ich ärgere mich, weil die Wohnung innen eng ist und überhaupt nicht meinen Vorstellungen entspricht; vor allem passen meine Bücher nicht in die Wohnung. Und ich soll mich freuen, weil die Umgebung so nett sei. Ich will eine andere Wohnung! Und ich will auch, dass Ariu wieder bei uns wohnt, nur so sind wir als Familie komplett bzw. überhaupt eine Familie.

Ich kann das Problem im Traum nicht lösen. Es bleibt bei dem Gefühl des Unbehagens, der Verwunderung, der inneren Rebellion. Nein, nein, nein, so geht es nicht, so bleibt es nicht, keiner entscheidet über meinen Kopf hinweg! Aber wieso tut das überhaupt jemand?

Gelbe Blumen in einer Vase, Foto: ISdS.

Nun sitze ich am Küchentisch, neben mir ein großer Strauß gelber Tulpen. Jamiro hat mir gerade einen Milchkaffee gekocht, aber wir haben nichts gegessen, weil er abnehmen möchte und ist bereits los ins Atelier gegangen. Am Sonntag sind wir kurz zum Atelier gelaufen, nachdem wir lange am Fennsee im dichten Grün verschwunden sind, so märchenhaft war es, direkt am Ufer entlangzugehen, wo es kleine Pfade, aber keine richtigen Wege gibt. Mitten in der Stadt und doch alles zugewuchert von Pflanzen.

Am Fennsee, Foto: ISdS.

Als ich mich gestern auf dem Rüdesheimer Platz mit meiner Mutter unterhalten habe, war sie auf einmal viel verständnisvoller für meine Sichtweise. Ich sagte ihr, dass ich mich viel eher mit der brasilianischen Sichtweise als mit der deutschen identifiziere, weil sie die Pandemie ernst nehmen und sich dementsprechend verhalten, während meine deutschen Freund*innen zum größeren Teil davon ausgehen, dass sie Quatsch sei. So sieht es ja auch auf den Straßen aus, da ist keine Not oder Angst zu sehen, sondern glückliches, romantisch wirkendes Leben, schöne Häuser, Sonnenschein, einkaufende Menschen. Meine Mutter meint, na, ist doch logisch, sie kommen aus einer anderen Kultur und haben ganz andere Erfahrungen gemacht als wir hier. Meine Mutter ist 1943 mitten im Bombenhagel in Berlin Schöneberg in einem Luftschutzbunker zu Welt gekommen. Das verstehe ich nicht. Wie kann sie meinen, dass sie das Elend der Welt nicht kennt?

Meine Mutter ist 1943 mitten im Bombenhagel in Berlin Schöneberg in einem Luftschutzbunker zu Welt gekommen. Das verstehe ich nicht. Wie kann sie meinen, dass sie das Elend der Welt nicht kennt?

 

 

Auch mein Vater ist zugewandt und setzte, nachdem er sein Eis aufgegessen hat, seine Gesichtsmaske auf, weil ich meine auch trage und nicht etwa absetze, während ich mit meinen Eltern rede. Meine Mutter meint, dass sie mich gar nicht als ihre Tochter erkenne mit dieser Maske. Und doch sind sie heilfroh, dass sie mich endlich wiedersehen können und auch ich freue mich sehr. Ich war wohl etwas hart, sie nicht mehr zu treffen, aber ich konnte vorher eben nicht sicher sein, ob sie sich an den Abstand halten. „Wir haben doch sowieso kein Corona! Das hat hier niemand!“ sagt meine Mutter. Ja genau, das ist der Grundtenor. Die Krankheiten haben immer nur die „anderen“, nicht „wir“ selbst. Aber ich bin die „andere“.

Mein Vater nickt, „doch, ich habe es schon verstanden“ sagt er stockend, „ein Glück bist du überhaupt noch am Leben! Du hast so viel gekämpft. Wir wären auch nicht die gleichen, wenn du damals tatsächlich gestorben wärest; es war ja so nah.“ „Stimmt“ sage ich, „aber vielleicht hatte ich mehr Glück als Verstand!“. Ich meinte damit eigentlich, dass einige meiner Freund*innen auf dem Weg gestorben sind, Claudi, Jürgen, Juliane, Ludwig, María. Ich kann wirklich nicht mit dem Tod umgehen, ich gebe es zu. Eine Freundin von mir, auch Umbandistin, schreibt, dass sie so weit ist, dass sie sterben kann. Sie arbeitet als Krankenschwester in einer Hospizabteilung eines Krankenhauses in der Schweiz. Ich bewundere sie für das, was sie tut. Aber ich, Inga Scharf da Silva, will nicht sterben, auch wenn es zum Leben dazu gehört. Und ich darf noch leben wollen, immerhin bin ich auch in dieser Gesellschaft noch nicht alt genug, um mich damit abfinden zu müssen. Und ich verzichte dankend auf die Weisheit, die damit einhergeht. Ich bin lieber naiv und blöd, weil ich leben will.

Birgit Meyer hat zugesagt, das dritte Gutachten für meine Doktorarbeit zu schreiben! Wow, wunderbar! Sie hat sich 2017 meinen Vortrag „fields / space / mediality: Religious relationality of space and mediality in the African diasporas of the Umbanda in Brazil and in Central Europe“ auf der Jahrestagung „Medien, Materialität, Methoden“ der Deutschen Religionswissenschaftler*innen in Marburg angehört, wo sie die Eröffnungsrede gehalten hat, und kam im Anschluss auf mich zu, um mir dafür zu gratulieren. Ich hatte zu lange geredet und es kam nicht mehr zu einer Diskussion, weil die Pause wichtiger war – aber sie kam auf mich zu, schüttelte mir die Hand und wir unterhielten uns eine Weile. Das war so gut, gerade weil ich mich nicht so richtig an die zeitlich begrenzten Gepflogenheiten gehalten hatte – aber doch nur aus purer Begeisterung.

Ariu geht morgen, nachdem er über fünf Wochen ausschließlich zu Hause war und keinen Fuß auf die Straße gesetzt hat, mit einem Freund in die Schule, um Unterlagen abzuholen. Wir besprechen beim Abendbrot lang und breit, wie er sich verhalten sollte. Er ist so souverän und gut, aber ehrlich gesagt kann ich es mir kaum vorstellen, dass es mit einem 2m Abstand klappt… nicht wegen ihm, sondern weil er jung und lustig ist und es sicherlich zwischendurch vergisst; ist doch klar. Nun, das Leben ist ein Experiment und lebensgefährlich.

 

Was ich am meisten vermisse, ist das Wasser, das Schwimmen im Wasser.

 

 

29.4.2020

[…] Ich kümmere mich um Ariu, damit er seine Hausaufgaben macht – morgen schreibt er per Zoom und WhatsApp eine Mathe-Klassenarbeit zu Hause – koche und räume das ganze große Bücherregal aus und um, putze und sortiere wieder Bücher aus. Am meisten haben wir Romane – meist US-amerikanische, russische, deutsche und brasilianische Literatur -, ethnologische Fachliteratur, Kunst und Kunstpädagogik, dann noch etwas Geschichte, Philosophie, Psychologie, Märchen und Esoterisches und, last but not least, Kochbücher, die aus der Küche rausmüssen, weil sie dort klebrig werden.

Ariu ist mit seiner schwarz-rot-karierten, von Oma genähten Maske in die Schule gegangen, um Material für den Naturwissenschaften-Unterricht abzuholen; auf halbem Wege hat er einen Schulfreund getroffen und in der Schule seine Klassenlehrerin. Er erzählt, dass sie alle – bis auf ihn – keine Masken tragen, aber dass die S-Bahn total leer und nur mit verschüchterten und maskentragenden Menschen besetzt war.

 

30.4.2020

Ich schäme mich zu viel. Wikipedia verrät mir, dass Scham innerseelische Vorgänge sind, die das Selbstwertgefühl schädigen und mit Gefühlen der Unzulänglichkeit einhergehen (so der Sozialpsychologe Jonas Rees 30.4.2020: „Scham“ [online]. Haarlem: In-Mind. Psychologie für alle! Das Online-Magazin, The Inquisitive Mind: Glossar, https://de.in-mind.org/glossary/letter_s#Scham, Abruf am 30.4.2020) ), weil das Selbstbild vom Bild, das andere von einer Person haben, abweicht. Für Bree Brown wurzelt Scham in der Angst vor Zugehörigkeitsverlust aufgrund einer empfundenen persönlichen Fehlerhaftigkeit (Kruse, Katrin (31.1.2016): Scham. Die stille Epidemie“ [online], Neue Zürcher Zeitung, https://www.nzz.ch/gesellschaft/lebensart/gesellschaft/scham—die-stille-epidemie-1.18685378, Abruf am 30.4.2020).

Wahrscheinlich kommt das bei mir tatsächlich noch durch die Demütigungen aus der Schulzeit von mir als schwerhörige Schülerin, die ja per se „keine Sprachen kann“ und auch nicht lernen darf (vor allem kein Französisch, wovon meine Klassenlehrerin mich kategorisch ausgeschlossen hat, obwohl ich es mir sehr gewünscht hatte), weil ich sie dann ja „verhunzt“ hätte, […]. Die Philosophin Inga Römer bezeichnet die Scham als eine „affektive Erfahrung eines Mangels“ (Inga Römer, 12.4.2017: „Scham. Phänomenologische Überlegungen zu einem sozialtheoretischen Begriff“ [online]. De Gruyter, Sciendo, Gestalt Theory, Band 39, Heft 2-3, https://content.sciendo.com/view/journals/gth/39/2-3/article-p313.xml, Abruf am 1.5.2020); das hört sich stimmig für mich an. Früher habe ich mich für meine Existenz geschämt, ganz grundsätzlich. Jetzt, da ich die Welt durch die Anwesenheit der vielen spirituellen Entitäten und Orixás als beseelt empfinde, bin ich nicht mehr einsam, sondern voll Liebe. In Trance zu gehen und die Wesen zu erfahren, bedeutet für mich, geliebt zu werden. Das ist eine ganz dichte Liebe, die so greifbar und rein ist, erfüllend und stark.

Ich merke, dass es sich schon schamhaft anfühlt, überhaupt von Scham zu schreiben. Vielleicht ist es nicht einmal gut, dass jemand diese Zeilen hier lesen kann. Gleichzeitig befreit es und macht selbstsicher, die eigenen Gefühle benennen zu können, das ist ein Prozess, langsam, auf dem Weg, sich selbst anzunehmen, auch wenn es sich anfühlt, nicht liebenswürdig zu sein. Ich merke, dass, je mehr Anerkennung ich (beruflich) erhalte, dass dieses Schamgefühl abnimmt, weil ich für mich und meine Worte eingestehen kann, weil sich sogar andere darauf beziehen. Das ist gut, ich trete aus meinem eigenen Schatten heraus, aus der Unsichtbarkeit bzw. dem Wunsch, mich zu verstecken. Denn das bewirkt Scham, der Wunsch des sich selbst Versteckens. Ich würde Scham für mich mit dem Begriff der Beklommenheit beschreiben.

Ich lese weiter, dass Erik Erikson meint, dass internalisierter Scham und Zweifel als Effekte einer misslingenden Lernerfahrung von Autonomie des zwei- bis dreijährigen Kindes resultieren (vgl. Erik Erikson, 2008: Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit“. In: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp). Mit zwei Jahren bin ich durch mehrere nicht behandelte Mittelohrentzündungen hochgradig schwerhörig geworden. Schluck. Erikson deutet Scham als sekundär gegen das eigene Ich gerichteten Zorn (Erik Erikson, 1999: Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta: 243ff.). Vielleicht ist es kein Zufall, dass ich eine Autoimmunerkrankung habe, die genau in dem Moment ausbrach, als mein Kind zwei Jahre alt wurde? Ich erinnere mich, dass ich Anfang des Jahres 2007 den Norovirus hatte und sehr krank war und Apuan abstillen musste, weil ich so schwach war. Das kam für mich wie ein Donnerschlag. Ich wusste, dass etwas Heftiges geschehen war, konnte es aber nicht benennen. Danach trank ich zunehmend mehr Wasser, zum Schluss bis zu 12 Liter am Tag. Auch daran hätte ich sterben können, wusste es aber gar nicht, da die Ärzt*innen mir in der Anfangsphase nicht glaubten, sondern sagten, dass es so gesund sei, viel Wasser zu trinken.

Ich kann ja eigentlich Englisch sprechen, lesen, schreiben, auch wissenschaftliche Beiträge. Als ich nach Brasilien kam, konnte ich auch noch, nachdem ich 1996/97 bereits ein Jahr in Brasilien gelebt und Anthropologie an der staatlichen Universität von Bahia (UFBA) in Salvador studiert hatte, besser Englisch sprechen als Brasilianisches Portugiesisch. Ich hatte in Recife in Pernambuco, wo ich von 1998 bis 2000 insgesamt ein Jahr an der staatlichen Universität von Pernambuco (UFPE) Bildende Kunst und Anthropologie studiert hatte, eine englische Freundin¸ eine sehr charismatische und hübsche Frau mit langen, blonden Haaren und immer extravagant gekleidet. Wir haben uns wie selbstverständlich immer auf Englisch (und nicht auf Brasilianisch) unterhalten, weil es gewissermaßen eine geheime Sprache für uns beide war und ein bisschen Privatheit im öffentlichen Raum gab.

Vielleicht wäre es gut für mich, dieses Schamgefühl künstlerisch zu bearbeiten, gewissermaßen nonverbal und indirekt. Aber wie?

Ariu hat heute seine Mathe-Klassenarbeit zu Hause geschrieben und war hinterher, nachdem wir ihm noch kurz mit dem Einscannen geholfen haben, ganz aufgekratzt und hibbelig, glücklich. Er meint, dass er auch sonst in der Schule gerne mehr Zeit für all die Aufgaben hätte, so wie jetzt. In dieser Hinsicht ist er wie ich. Ich leide darunter, dass ich mich immer mit anderen vergleiche und dann in meinen Augen immer verliere. Jetzt, wo dieser Druck wegfällt, geht es mir besser.

Was ich am meisten vermisse, ist das Wasser, das Schwimmen im Wasser. Ich bin immer zwei Mal in der Woche für jeweils eine Stunde im Stadtbad Wilmersdorf schwimmen gegangen, im Sommer im Sommerfreibad Lochow. Auch wenn es eigentlich sportlich war, empfand ich es immer als große Entspannung.

 

1.5.2020

Eine Freundin von mir postet in ihrer Facebook-Timeline ein Interview gegen die im öffentlichen Raum getragenen Masken (vgl. Bhakdi 29.4.2020), auch sie ist Umbandistin. Der dortige „renommierte“ Professor Doktor (steht sogar im Titel dieses Beitrags) meint, dass die Maßnahmen gegen Corona „selbstzerstörerisch“ seien und hat als „unbequemer Wissenschaftler“ einen offenen Brief an Angela Merkel geschrieben und „bekommt kein Gehör“, wird aber gleichzeitig „angefeindet“ (was doch eigentlich ein Widerspruch in sich ist, oder? Wer angefeindet wird, hat immerhin vorher Gehör gefunden). Irgendwie gruselt es mich gerade sehr dabei.

Ich muss gestehen, dass ich mich selbst dabei sehr in Frage stelle. Wieso nehme ich es so lautlos hin, dass ich mich von einem schnellen, reisenden, viel kommunizierenden Leben „einfach“ begrenzen lasse? Dass die Grenzen geschlossen sind und nun eigentlich eine Situation der Begrenztheit auf die Nationalitäten entstehen kann und ja leider auch vielfach entsteht. Ich meine schon, das zu wissen. Es ist einerseits die Erfahrung als mitten im Leben stehende Frau, sieben Jahre lang eine schwere Krankheit bewältigt zu haben, die zum Tod hätte führen können. Und andererseits höre ich mir einige Diskussionen der hiesigen Politiker*innen an, die sich für mich – sehr im Gegensatz zu Brasilien – nicht diktatorisch und bevormundend erscheinen, sondern so, wie Regierungen immer sein sollten, Leben bewahrend, abwägend, diskutierend, streitend. Deswegen habe ich keine Angst, dass mich jemand einsperrt, auch weil ich so viele uneingesperrte Menschen um mich herum sehe. Alle die, die so viel von Angst davor reden, fahren durch die Gegend, laufen herum, sagen ihre Meinung – und niemand hindert sie daran, was ja auch gut und richtig so ist.

Was mich dabei umtreibt ist die Frage: Nehme nur ich diese Tendenz der Angst der Unmündigkeit wahr oder ist sie tatsächlich flächendeckend in dieser religiösen Gruppe vorhanden? Vielleicht bin ich ja etwas empfindlich, eben wegen meiner eigenen Vorgeschichte und sollte es nicht so ernst nehmen, weil ich dann gleich als „deutsch“ gelte? Sollte ich vielleicht vielmehr Angst vor meinem eigenen Duckmäusertum haben, das ich noch gar nicht an mir festgestellt habe? Umso schlimmer kann es dann also auch sein, sogar unerkannt, psychologisch unterdrückt womöglich? Wer weiß? Kann ich mir selbst trauen?

Was ich nicht wirklich nachvollziehen kann, ist, dass die Vertreter*innen dieser angeblich so kritischen und „widerständigen“ Meinung auf dem Begriff der Epidemie statt dem der Pandemie beharren, um das Ausmaß von Corona damit zu verringern und sprachlich weniger bedeutend auszudrücken. Denn der Unterschied dieser beiden Wörter liegt doch daran, dass eines als regionale und das andere als globale Ausbreitung verstanden wird. Lokale Empfindsamkeit vis à globaler Übertreibung? Immer wird Covid-19 in dieser Sorte von Diskussion mit der saisonalen Grippe verglichen, obwohl es gegen die Grippe ja Impfstoff gibt (gegen das sie auch sind, daher wahrscheinlich), gegen das Corona Virus aber nicht.

Jemand, der Angst vor verschlossenen Ländergrenzen hat (ganz zu Recht, so meiner Meinung nach), der sollte doch gerade global denken können und sehen, dass die Menschen in Brasilien und den USA ebenso sterben wie hier. Und nicht wenige. Das ist doch widersprüchlich. Und es wirkt für mich nationalistisch und engstirnig.

Da stoße ich auf einen weiteren Eintrag einer emischen umbandistischen Stimme, die genau diesen Umstand beschreibt, dass es in dieser Gruppe nicht viele verschiedenen Meinungen und Stimmen gibt, sondern schon eine klare Tendenz. Immerhin leide ich nicht an Wahrnehmungsstörung, ich bin erleichtert.

„Ich habe eine konkrete Erfahrung von Begrenzung in einem Land, von Unfreiheit und Diktatur. Wie kann es sein, dass meine Demokratie-Alarmsysteme derzeit nicht so anschlagen, wie die von einigen Freunden? […] Und genau genommen geht es mir auch mit den anderen Einschränkungen so, ob Maskenpflicht oder Ausgangssperre. Ich bin schnell bereit, solche Vorgaben einzuhalten und zwar ohne sie über die konkrete Ansage hinaus zu prüfen; zum Beispiel auf dahinter liegende Machtausübung. Aber mir entgehen auch die Widerstände meiner Freunde nicht, ich lese die Kommentare hier im Tagebuch, höre die Diskussionen am Community-Tisch – die Besorgnis ist groß – und weil ich viel auf sie halte, die Freunde, glaube ich ihnen auch. Aber wie kann ich hier Anschluss halten?“ (Konstanze Thoma 30.4.2020)

Mir fällt auf, dass gerade sie, die die DDR-Diktatur am eigenen Leib kennengelernt hat, eben kein Déjà-vu hat, weil es das eben einfach nicht ist. Nur weil es daran erinnert und uns natürlich wachsam und kritisch lassen sollte, ist es eine andere Situation. Eigentlich unterstellen ja diese so kritisch denkenden Leute, dass die Pandemie die Demokratie an und für sich gerade abschafft, so als würde eine zwingende innere Schlussfolgerung existieren. Das ist eine ziemlich grobe Vereinfachung der Realität, oder nicht? Das ist, wie gesagt, ein wichtiger Gedanke, aber eben etwas sehr oberflächlich geurteilt.

Hm… Eigentlich sollte genau dieses Thema der Inhalt meiner Postdoc-Forschung sein, die Verbindung von Politik und Spiritualität in neuen religiösen Bewegungen. Aber eigentlich möchte ich etwas wirklich Widerständiges finden, wie ich es aus Brasilien als antikolonialistischen und wirklich befreienden Geist kenne – und nicht diese Unausgegorenheit, wie sie hier reflektiert wird. Woher kommt dieser Unterschied zwischen der Sichtweise der religiösen Akteur*innen im deutschsprachigen Europa und in Brasilien?

 

Natürlich liegt mir die Demokratie am Herzen und herumstreiten sowieso, aber wieso kommt jemand auf die Idee, dass ich wie ein Schaf der Herde hinterhertrabe (wie es in diesem Diskurs üblich ist zu sagen), nur, weil ich den Lockdown für gut befunden habe und auch noch tue?

 

 

2.5.2020

Heute geht es mir nicht gut, ich bin verwirrt. Ich weiß echt nicht mehr, ob die anderen oder ob ich spinne und weiß auch gerade gar nicht, wen ich deswegen fragen kann. Am liebsten würde ich Regina (meine Doktormutter) fragen, aber sie hat wahrscheinlich viele andere Dinge zu tun – und vielleicht ist es auch zu banal, womit ich mich gerade beschäftige. Eigentlich wollte ich ja einen Artikel für den Blog zu Medizinethnologie aus meinen Tagebuchaufzeichnungen schreiben und bin auch schon sehr weit damit, aber mir scheint, dass ich alles nur aus meiner eigenen Warte betrachte und nicht den großen, offenen Blick habe.

Ich bin heute mit lauter kontroversen Artikeln überrollt worden (Faktenscheck 24.3.2020, Scheu 28.4.2020, Müller-Meiningen 9.4.2020) und habe mir das Interview mit Sucharit Bhakdi angehört. In diesem sehr langen Interview sagt er aber meiner Meinung nach nicht viel… Für mich bleibt offen, warum die Bundesregierung so viel Anstrengungen unternimmt, wenn das Corona Virus doch angeblich überhaupt nicht gefährlich ist? Dazu müsste er doch zumindest eine Theorie haben. Es muss doch einen Sinn haben, diese so gewohnte Gesellschaftsordnung einfach anzuhalten.

Ich bin ja total dafür! Aber die Mächtigen dieser Welt müssen doch andere Gründe dafür haben als ich.

Nun streite ich mich doch auf Facebook herum, weil ich gesehen habe, dass sehr, sehr viele […] dieses Video von Bhakdi geteilt haben, was für mich irgendwie nicht zu glauben ist. Nicht, weil es eine so andere Meinung zeigt, sondern weil es so oberflächlich ist. Ich bin bodenlos enttäuscht. Soweit ich es verstanden habe, findet Bhakdi den Bundeskanzler Kurz sympathisch und ist nun, weil er eine Maske als Ausdruck seines Bemühens, Minderheiten zu schützen, enttäuscht von ihm. Wie bitte? War es nicht Kurz, der Sympathien für die rechtspopulistischen Bewegungen in Österreich hegte? Und Bhakdi spricht mir zu viel vom Deutschsein als Wesenheit, davon wird mir irgendwie übel.

Natürlich liegt mir die Demokratie am Herzen und herumstreiten sowieso, aber wieso kommt jemand auf die Idee, dass ich wie ein Schaf der Herde hinterhertrabe (wie es in diesem Diskurs üblich ist zu sagen), nur, weil ich den Lockdown für gut befunden habe und auch noch tue? Ich werde doch trotzdem kritisch bleiben und finde dieses ganze Gehabe zu einem „Zurück“ in die Normalität fürchterlich, weil wir doch diesen Lockdown wirklich als eine Chance auffassen sollten, tiefgreifend etwas in Richtung von mehr Umweltschutz, Überlebenshoffnung im Sinne eines radikalen Abbaus von Naturzerstörung und Ungerechtigkeit zu unternehmen. Sicherlich ist das alles schwierig, aber in der ersten Phase von Corona haben wir es schließlich auch geschafft. Natürlich ist Klimaschutz noch viel wichtiger als Corona, aber stellt auch gar keinen Widerspruch dar, sondern ist eigentlich die logische Konsequenz (vgl. Encke 26.4.2020).

„Im Prinzip sei durch die Krise vieles direkt sichtbar geworden, was sie beschrieben habe, sagt Göpel im Gespräch. „Menschen sind biologische Wesen, und sie sind nicht getrennt von der Natur: Die Gesundheit unserer Ökosysteme und die Gesundheit der Menschen hängen miteinander zusammen. Viren springen häufiger über, wenn wir Lebensräume der Tiere zerstören und die Biodiversität abnimmt. Todesfälle sind höher in Regionen, in denen auch hohe Luftverschmutzung die Atemwege strapaziert hatte. Obduktionen zeigen Vorbelastungen mit Diabetes, Übergewicht und Bluthochdruck, also Phänomene die vorher schon als Zivilisationskrankheiten bezeichnet wurden.“ (Maja Göpel, zitiert von Julia Encke 26.4.2020)

[…]

Aber ich lese auch dies, auch von einer Umbandistin gepostet (die mich in meiner seelischen Integrität schon des Öfteren gerettet hat, ohne es zu wissen), Dorothea Kurteu:

„[…] vielleicht ist das nur so ein Bauchgefühl, meine persönliche anekdotische Evidenz, nicht mehr. Aber irgendwas summt da im Ohr. Ein Misstrauen der Leserschaft gegenüber „den Medien“. „Wieso schreibt ihr nicht über Schweden?“, fragt ein Hofrat des VfGH. Wieso, will ein ehemaliger SPÖ-Minister wissen, führt ihr kein Interview mit dem Arzt Wolfgang Wodarg, jenem ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten, der Covid für eine normale Grippe hält? Wieso, urgiert die Verwandtschaft, klopft ihr nicht die Horrorprognosen der Risikoforscher noch einmal auf ihre Richtigkeit ab? Oft kommen solche Fragen von Lesern, die nicht registriert haben, dass vielen Medien ausreichend Antworten gegeben haben (über Wolfgang Wodarg und Schweden gibt es ja unzählige Berichte, googeln sie selbst). Einerseits. […] es gibt ein nicht zu unterschätzendes Segment an Bürgern, das sich nun in „alternativen Kanälen“ jene Wahrheit zusammenklaubt, die ihnen der „Mainstream“ angeblich verschweigt. […] Mich beschleicht eine Sorge. Bei erstaunlich vielen Leuten könnte, so wie bei der Migrationskrise, der Eindruck entstehen, dass wir auch nur Teil eines von oben gesteuerten „Schickeria-Journalismus“ (Norbert Hofer) sind, der nicht „nach unten“ schaut. Daher haben wir eine Bringschuld: wir müssen offen legen, warum wir berichten, wie wir berichten und wieso wir manches nicht berichten (konnten). Sonst droht ein Vertrauensverlust gegenüber der freien Presse. Und der nützt, wie die letzten Jahre zeigten, den Feinden der Demokratie.“ (Florian Klenk 22.4.2020)

 Ja, und obwohl alles so widersprüchlich ist, war ich heute nach dem Frühstück mit Jamiro im Bauhaus (trotz meiner eingeredeten und auch echten Angst!), um Spotlights für unseren neuen Flur zu kaufen – natürlich haben wir die falschen gekauft (ich mag diesen Laden sowieso nicht), aber immerhin ist nun das neue Basilikum und die Lauchzwiebeln in schönen Terrakottablumentöpfe eingepflanzt. Die Töpfe habe ich dort auch noch gekauft.

Die Leute standen schlangenweise mit ihren Wagen vor dem Bauhaus am Halensee an, aber dann ging alles sehr schnell. Alle tragen Masken und sind gut gelaunt, ihre Masken tragen sie meist zum Kinn zurückgezogen… Wir hier in Wilmersdorf sind weit ab von Endzeitstimmung, aber sonst verändern die Leute sich nicht sonderlich, wie es den Anschein im Internet hat. Auch vorher guckten die Leute eher in die Regale als in die Gesichter der Menschen – das ist jetzt zwar schade, aber, wie gesagt, war vorher auch nicht besser. Das hat nix mit Corona zu tun, dass die meisten Menschen meist einen Tunnelblick haben.

Eine Welt, in der der Youtuber Rezo den Henri Nannen Preis gewinnt, kann gar nicht so schrecklich sein!

Ich blicke da gerade aber dennoch nicht durch. Menschen, die ich für idealistisch hielt, driften auf einmal in nationalistische und menschenverachtende Richtungen ab, die ich nicht akzeptieren kann… Ich bin so traurig.

 

Langsam, aber tatsächlich nur langsam, kommen wir in die Phase der Komik, des Galgenhumors (wie ich ihn hatte, als ich dachte, dass ich sterben müsste; da habe ich alle beruhigt und auch noch obendrein nette Anekdoten aus dem Alltag erzählt).

 

 

3.5.2020

Jetzt erst ist mir klargeworden, warum die Quarantäne so heißt, wie sie heißt. Lisa Hellmann erklärt es, etymologisch abgeleitet ist das Wort vom Volkslateinischen für vierzig. Vierzig Tage für Isolation und Heilung durch die Trennung von gesunden und kranken Menschen, um sie vor hochansteckenden Krankheiten mit hoher Sterblichkeit zu bewahren. Reisesperre. Venedig verbot bereits 1374 die Hafeneinfahrt für pestverdächtige Schiffe (vgl. Hellmann 23.4.2020).

Heute ist der 5. Mai. Am 8. März habe ich mit der Quarantäne angefangen, also ist heute mein 57. Tag der Quarantäne, das ist schon fast zwei Monate… Das hätte ich jetzt nicht so gedacht, eine lange Zeit ist das. Sie kommt mir kürzer vor. Aber ich bin ja, wie gesagt, Quarantäne-Situationen eigentlich schon durch meine Krankheiten und meine Doktorarbeit gewohnt. Rückzüge aus dem Leben, um das Leben zu bewahren und dabei zu reflektieren und neu zu schaffen. Die Camarinhas erinnern mich im Prinzip auch daran, eine Zeit des Sich-Verinnerlichens und Kennenlernens mit der oder dem eigenen Orixá. Sie waren aber immer sehr kurz, nur drei Tage, und für mich – weil ich ja so unspirituell sei – auch nie so intensiv angelegt.

Es herrscht wohl Uneinigkeit darüber, welches Ausmaß die Pest hatte, ob die Sterblichkeit 5 oder 60 Prozent der Weltbevölkerung umfasste (ebd.). Wenn letzteres stimmen sollte, wäre das ja mehr als die Hälfte der Bevölkerung gewesen!

„Doch eines lehren die Maßnahmen gegen die Pest: Der Kampf gegen die Ausbreitung und Ansteckung war – damals wie heute – ein ständiges Abwägen zwischen den wirtschaftlichen Einbußen des Handels, den Kontakten mit der Umgebung und der Angst vor dem Tod.“ (Lisa Hellmann 23.4.2020)

Hellmann drückt ihre Erleichterung darüber aus, dass heutzutage keine einzelnen Bevölkerungsschichten in die Quarantäne-Isolation geschickt werden wie damals, obwohl das gerade sehr eifrig diskutiert wird – auch mit einen möglichen Immunitätsausweis (vgl. Ringelstein 3.5.2020)!! – warum sich nun eine ganze Gesellschaft solidarisch zeigen soll, um eine bestimmte Gruppe an alten und vorerkrankten Menschen zu schützen. Dann kommen wir wirklich zu einer Zweiklassengesellschaft, in der zwischen „gesunden“ und „kranken“ Menschen unterschieden wird. Jens Spahn spinnt!

„Doch gerade deshalb sind die folgenden Fragen elementar und bedürfen einer immer wieder neuen Begutachtung: Wer kann unter Quarantäne gestellt werden, wer muss es? Wer muss geschützt werden und wen kann man womöglich schutzlos lassen? Wessen Bewegung kann eingeschränkt werden und wenn ja zu welchem Preis? Ist grenzüberschreitendes Reisen eine Bedrohung oder eine Möglichkeit? Unterzieht man diese Fragen keiner regelmäßigen Neubewertung und ihre Antworten nicht regelmäßigen Anpassungen, wird unsere Gesellschaft in ihren Grundwerten erschüttert.

Ansteckende Krankheiten und insbesondere Pandemien setzen eine Gesellschaft unter Druck. Die Art und Weise, wie wir in solchen Situationen agieren, bringt somit nicht nur die Werte und Ressourcen einer Gesellschaft zum Vorschein, sondern auch die Risse und Ungleichheiten tief in ihrem sozialen Inneren.“ (Lisa Hellmann 23.4.2020)

Ich stimme ihr vollkommen zu. Behinderte und vorerkrankte Menschen werden hierzulande als marginal angesehen. Dass genau dieser Diskurs am Anfang der Pandemie mit solidarischen Gedanken verknüpft wurde, habe ich verwundert und beglückt wahrgenommen, aber diese Tendenz kippt nun wieder in eine alte „Normalität“, in der sozialdarwinistisch wieder nur der „Stärkere“ den Ton angibt.

Heute habe ich einen Kursus über meine Nichte angefangen, der 21 Tage geht und von dem in Kalifornien lebenden indischen Arzt Deepak Chopra angeleitet wird. Es geht um Abundância (ein wundervoll klingendes Wort des brasilianischen Portugiesisch), um Fülle und Wohlstand. Auf einmal meditiere ich, obwohl ich das vorher nie getan habe. Namaste. Ich bin ja immer skeptisch und denke zu negativ über mich selbst, aber jedes Mal, wenn ich mich denn doch auf eine spirituelle Praxis einlasse, klappt es wunderbar. Ich muss mich nicht mit „So Ham“ zum Nichts-Denken bringen, denn das klappt auch so. Ich sehe wunderbare abstrakte Bilder von Licht in Gelb und Weiß, mein inneres Auge wird davon überflutet.

Ich habe in den letzten Tagen festgestellt, dass ich wundervoll wohne! Das war mir vorher wirklich nicht klar. Ich fand unsere Wohnung immer zu klein und relativ in der Nähe der Autobahn eher peinlich, aber jetzt, wo ich hier die ganze Zeit so viel zu Hause bin, habe ich auch viel fotografiert und bin eben nur in der unmittelbaren Umgebung spazieren gewesen.

Blick vom Balkon in der Nähe des Heidelberger Platzes. Foto: ISdS.

Obwohl wir nahe der Autobahn wohnen, die ich wegen meiner Schwerhörigkeit aber eh nicht höre und wir auch Schallschutzfenster haben (und also auch hörende Personen in unserer Wohnung nichts von der Autobahn hören), ist der Streifen zwischen unserer eher schmalen Straße und der Autobahn mit Bäumen bewachsen. Da wir oben im vierten Stock wohnen, haben wir von unserem Sofa aus gesehen eh einen Blick in den Himmel. Aber letztens habe ich ein Foto von unserem kleinen Balkon in Richtung Steglitz gemacht und auf Instagram gepostet, da sah es so verwunschen und schön aus! So grün! Ich dachte dann, also das ist eben Dein Blick, denn er könnte auch ganz anders sein – mit Stau auf der Autobahn und beengten Verhältnissen – aber es hat tatsächlich manchmal etwas mit dem Blick zu tun; ich will nicht sagen, immer…

Aber wir sind seit diesem Lockdown tatsächlich so friedlich zusammen, dass es schon fast komisch ist. Langsam, aber tatsächlich nur langsam, kommen wir in die Phase der Komik, des Galgenhumors (wie ich ihn hatte, als ich dachte, dass ich sterben müsste; da habe ich alle beruhigt und auch noch obendrein nette Anekdoten aus dem Alltag erzählt). Oder auch nicht, vielleicht wird es nicht so ernst, dann können wir uns glücklich schätzen. Aber auch wenn es so sein sollte – was ich nicht glaube – dann sollten wir einfach als Herzensmenschen die anderen in Brasilien und in New York nicht vergessen. Scheiße, wieso haben sie diese Idioten nur gewählt!!!? Aber hier kann sich das Blatt auch wenden.

Dieses Foto ist neben vielen anderen tatsächlich sehr wichtig für mich. Hier gibt es so viel Natur, so viele Bäume. Den ganzen Tag gibt es so viele Vögel auf unserem Balkon, die sich auf der Rankhilfe niederlassen, als hätte ich es für sie gekauft. Die Kohlmeisen brüten und lenken die Spatzen ab, die sich auch an den dargebotenen Sonnenblumenkernen laben.

Es ist so schön hier in dieser kleinen, hohen Wohnung nahe den Wolken, mittig in Berlin mit Blick auf die S-Bahn und die Autobahn und doch mit einem so weiten und so grünen Blick. Das ist ein wunderschönes Berlin.

[…]

Dann finde ich einen Artikel über Covid-19 aus der Sicht der Quantentheorie, der mir sehr gut gefällt, weil er den Gegensatz zwischen einer als objektiv wahrgenommenen Realität und subjektiven Gedanken oder Gefühlen überwindet und vielmehr als eine Entsprechung und Entgrenzung auffasst (vgl. Winiecki 13.4.2020). Der Autor Martin Winiecki bezieht sich in diesem Denken auch auf C.G. Jung, der Ereignisse als Verkörperung tieferer Seelenteile auf einer kollektiven Ebene versteht.

„Von einer spirituell geprägten holistischen Weltschau kommend, erwäge ich die Möglichkeit, dass wir als Menschheit – oder ein tieferer Teil unserer selbst, bewusst oder unbewusst – diesen Moment in die Existenz geträumt haben, als Katalysator für unsere kollektive Evolution. Wenn das wahr wäre, wie würden wir dann handeln und reagieren? Covid-19 könnte dann für uns eine unwahrscheinliche Gelegenheit für kollektives Erwachen und weitreichenden Systemwechsel bereithalten.“ (Martin Winiecki 13.4.2020)

Martin Winiecki leitet seit 2013 das Institut für globale Friedensarbeit, das bei Tamera in Relíquias / Alentejo / Portugal angesiedelt ist, und setzt sich für einen „sacred activism“ ein.

„Ich bin mir bewusst, dass wir in Zeiten eines schnellen und sich beschleunigenden Wandels leben. Neben dem unvorstellbaren Leiden von Menschen, Tieren und der Natur, findet in der Welt auch ein revolutionäres Erwachen statt. Ich glaube, dass wir die weltweiten Kriege und Ungerechtigkeiten beenden können, wenn die vielen Gruppen, die für eine bessere Welt arbeiten, in einer gemeinsamen Vision für die Zukunft zusammenkommen und für deren Verwirklichung zusammenarbeiten.“ (Martin Winiecki 13.4.2020, https://www.tamera.org/de/martin-winiecki/#, Abruf am 3.5.2020.

 

4.5.2020.

Ich sehe da Verbindungen von Franz Regglis Buch über die Pest (den Winiecki in seinem Artikel zitiert), auch wenn ich Ethnologin und nicht Psychotherapeutin bin wie er, und meiner Doktorarbeit über ›Trauma als Wissensarchiv‹, indem ich individuelle und kollektive Dimensionen von Trauma – oder in seinem Beispiel Fall Krankheit wie Pest oder Covid-19 – zusammen denke, also im Grunde genommen Kulturgeschichte mit Psychoanalyse. Mir wurde diese These, wie ich meine, durch einen ›Grounded Theory‹ Ansatz gewissermaßen vom Feld selbst „herangetragen“, so dass ich dieses Thema eher ethnographisch als psychologisch analysiere.

In seinem Buch ›Selbstzerstörung aus Verlassenheit‹ schreibt Renggli der Pest im 14. Jahrhundert dem Ausbruch einer Massenpsychose zu und findet die Gründe hierfür in der Erziehung von Kindern im Jahrhundert davor, angewiesen von der katholischen Kirche, sich von ihren Kindern getrennt zu halten. Kinder, die im 13. und 14. Jahrhundert aufwuchsen, litten daher, so Regglis Argumentation, an einem kollektiven Trauma von früher Abweisung und Verlassenheit (vgl. Renggli 1992). Auch wenn diese Verknüpfung von Thesen ziemlich abenteuerlich klingt und vielleicht auch ganz klug von mir selbst nicht direkt psychologisch auf mein Thema beantwortet wird, ist immerhin die Frage von Winiecki gut gestellt, wieso nun ausgerechnet Corona und nicht vorher schon andere lebendbedrohliche Umstände in unserer Welt, wie Klimakatastrophe und Kriege, einen solchen Anklang in der Weltbevölkerung findet: Winiecki fragt: „Wie konnte das Gespenst von Covid-19 die Menschheit derartig tyrannisieren und im Nullkommanichts zum Stillstand zu bringen?“

Ich selbst habe es so empfunden, dass wir aus unserem schnelllebigen, resultats- (statt prozess-) orientierten Leben herausgeworfen worden sind, um zur Langsamkeit und Stille zurückzukehren und zu begreifen, dass wir ohne unsere Natur – die in uns und um uns bzw. mit uns – nicht leben können, mit Bäumen, Luft, unserem Körper, den Wolken, den Vögeln, allem. Wir haben es zugelassen und lassen es weiter zu, dass die Artenvielfalt ausgerottet wird. Winiecki beschreibt dies als Angst und Verzweiflung, die sich unterbewusst schon lange in der Menschheit aufgestaut haben soll (ebd.).

Interessant, diese Diskussion geht ja durchaus einen konstruktiven Weg von Spiritualität und Politik ein, der so gar nicht in die gängigen gesellschaftskritischen Überlegungen passen und für einige sicherlich abwegig erscheinen. Ich finde, dass es hier einen großen Unterschied zu den Meinungen gibt, die mir vorher über den Weg liefen (Bhakdi, Dahlke), da er den Virus und die damit ausgelöste Angst nicht verleumdet und verteufelt, sondern sie in ihrer Dramatik und Klarheit anerkennt, aber eben damit konstruktiv arbeitet. Daraus entsteht bei mir der Impuls, anzuhalten – auch im Sinne einer gesellschaftlichen Quarantäne und in Gedenken an die Toten – und innezuhalten, nicht sofort in einen neuen Aktionismus zu geraten, sondern mal tatsächlich wahrnehmend und reflektierend die Tage in der häuslichen Isolation anzunehmen.

Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum sich ausgerechnet Covid-19 auch mental so global verbreitet, während es doch andere Tote und Massenverbrechen gibt, die sonst einfach hingenommen worden sind. In diesem Aufschrei steckt auch, so verstehe ich es, der Wunsch nach Heilung auf einer weltweiten Ebene und sollte eben keine Trennungen herbeiführen zwischen verschiedenen Ländern und Menschengruppen. Winiecki meint, dass jedes Leben heilig sei und führt aus:

„Lasst und diese Zeit der sozialen Distanzierung solidarisch zusammenstehen, insbesondere mit Minderheiten und Randgruppen, und jede Propaganda ablehnen, die soziale Gruppen gegeneinander auszuspielen versucht.“ (Martin Winiecki 13.4.2020)

Als eine der Zukunftsszenarien imaginiert er: „Nach vielen Monaten in Ausgangssperren haben die Menschen das neue Zeitalter der Quarantäne-Existenz akzeptiert.“, bislang ist das hier aber nicht der Fall. Jamiro und Ariu musste ich auch schon vor der Quarantäne fast zwingen, mal nach draußen zu gehen… also habe ich heute, als die Sonne so bezaubernd am frühen Abend herauskam, alleine einen kleinen Abendspaziergang zum Rüdesheimer Platz gemacht, um wieder aussortierte Bücher in die Bücherbox zu bringen.

Standfigur der Mosel am Rüdesheimer Platz, Foto: ISdS.

Ich meistere diese Krise viel besser als die Zeit, als ich um mein Überleben gekämpft habe, aber ich habe ja auch keine Schmerzen. Der menschliche Körper ist so intelligent, dass ich mich nicht mehr an die vielen, langen und großen Schmerzen erinnere – aber ich bin auch eine Kämpferin und Überlebende – aber ich weiß, dass sie existierten. Deshalb erinnern mich die Situationen, aber sie fühlen sich anders an.

Auch ich bin von der Unsichtbarkeit verwirrt, obwohl ich sie eigentlich so gut kenne. Morgen gehe ich wohl doch mit meinem Mann zu Ikea, um neue Leuchten für unsere Wohnung zu kaufen, der zweite Anlauf… Ob ich leichtsinnig mit der Situation umgehe, mich von anderen beeinflussen lasse, dass das, was unsichtbar ist, doch auch nur die „anderen“ angeht? Ich weiß es nicht. Vielleicht bleibe ich doch zu Hause.

 

4.5.2020

Heute bin ich schlapp und müde, tatenlos, auch irgendwie traurig. Ich habe das Gefühl, nichts zu schaffen. Der Himmel ist verhangen, es ist eisig kalt draußen. Die Vögel auf meinen Balkon sind total süß.

 

Ist die Corona-Zeit eine Episode oder eine echte gesellschaftliche Transition zu einer veränderten Realität?

 

 

5.5.2020

Ich habe mich für Anfang Juni für einen Workshop über audismuskritisches Denken bei ›Diversity Arts Culture‹ angemeldet, stehe aber leider nur auf der Warteliste. Die Einladung kam heute am Morgen, aber nun sind schon alle Plätze belegt. Es scheint ja tatsächlich einen Nerv bzw. eine bedeutende Lücke zu füllen.

Ich hatte immer gedacht, dass es angemessener sei, das Wort „gehörlos“ zu sagen – wobei mir dann immer auffiel, dass es für uns SchwerHörige (vgl. Scharf da Silva 2015) keinen passenden Begriff gab… – und dann sagte Mãe Gabriele, als sie im Februar 2018 zu mir (als sie von Köln auf einer Reise nach Berlin war und wir uns in meinem Atelier trafen), dass ich „Taub“ sei, als ich meine Behinderung mal wieder umständlich zu formulieren versuchte. Der Blick, mit dem sie mich ansah, bewirkte so viel in mir! Es war ein verständnisvoller, anerkennender Blick und ich wusste sofort, dass er mir das Privileg gab, zu einer Gruppe zu gehören und nicht alleine zu sein. Sabine, die wie ich über PROMI (Promotion Inklusive, Universität zu Köln) gefördert wird und resthörend ist (während ich hochgradig schwerhörig bin), hat mir beigebracht, diese blöden graduellen Unterscheidungen über das Maß des schweren Hörens über Bord zu werfen, was für mich ein langer und heilender Prozess war, da ich ja immer aus allen Kategorien herausgefallen bin oder mir immer nett meinend und paternalistisch übergriffig gesagt wurde, dass es „ja nicht so schlimm“ sei. Genau dies trifft eines der wesentlichen Punkte für Ableismus bzw. Audismus; die angebliche Vereinzelung bestimmter Personen. Aber ich bin trotz allem, trotz vieler Workshops und Lektüre, weit weg davon, wirklich selbstbewusst zu sein. Dennoch: Natürlich bin ich Taub! Also Taub mit einem großen Buchstaben!

„Taub ist eine positive Selbstbezeichnung nicht hörender Menschen, unabhängig davon ob sie taub, resthörig oder schwerhörig sind. Damit wird auch gezeigt, dass Taubheit nicht als Defizit angesehen wird. Es handelt sich hierbei um die Wiederaneignung eines Begriffs, der lange Zeit als abwertende Beschreibung verwendet wurde (reclaiming). Einige Mitglieder der Tauben Community verwenden inzwischen wieder das Wort ‚Taub‘ für sich, weil es im Gegensatz zum Begriff ‚gehörlos‘ nicht schon im Wort selbst einen Mangel (-los) benennt.

Der Begriff ‚taub‘ wird von vielen Hörenden noch als negativ besetzt wahrgenommen, da sie ihn mit umgangssprachlichen Abwertungen für nicht-hören verbinden. Die abwertende und diskriminierende Haltung gegenüber Tauben Menschen oder die Marginalisierung von Gebärdensprache wird Audismus genannt.

Viele nicht hörende Menschen bezeichnen sich auch als gehörlos oder benutzen beide Begriffe. Um eine respektvolle Kommunikation zu ermöglichen, sollte immer erfragt werden, wie Taube Menschen genannt werden wollen und welche Kommunikationsmittel sie bevorzugen.“ (Silvia Gegenfurtner, 2020: „Taub“ [online]. Berlin: Diversity Arts Culture, http://www.diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/taub, Abruf am 5.5.2020)

Jetzt, beim Schreiben, wird es mir klar, dass es vielleicht nicht an mir lag, sondern einfach am Umstand, dass ich eben schon immer bzw. seit meinem zweiten Lebensjahr schwerHörig bin, dass ich mit all diesen Worten hadere… Vielleicht brauche ich wirklich erst meinen Doktortitel, um mich so nennen zu können, weil ich damit endlich zeigen kann, dass ich nicht so blöd bin wie es andere von mir so oft gedacht hatten. Jetzt gibt es auf einmal eine Kulturszene dafür!

Und heute habe ich das erste Mal, endlich…, an einer Zoom-Veranstaltung teilgenommen, „Solidarität zwischen Pest und Corona und danach“, organisiert von der Uni Bremen (vgl. Universität Bremen 5.5.2020), angekündigt u.a. mit den Worten von Christine Dietze:

„Covid-19 lässt bestehende Ungleichheiten noch deutlicher hervortreten. Gleichzeitig wird Solidarität gefordert und gefeiert in einer Zeit, die als Krise beschrieben und nicht selten bereits als Zeitenwende prognostiziert wird“ (Christine Dietze, Universität Bremen 5.5.2020)

Zoom im Home Office, Foto: ISdS.

Ausgangspunkt ist das 2019 erschienene Buch über Solidarität (Die Zukunft einer großen Idee) von Heinz Bude im Sinne einer Idee von „Eine Uni, ein Buch“ (2018) gewesen. Ich bin sehr erleichtert gewesen, dass endlich mal jemand – Heinz Bude im Zoom-Gespräch – das sagt, was ich bemerke: dass sich die Menschen nicht einschüchtern lassen und voller Angst erstarren, sondern sehr bewusst sind. Ich finde ja, dass sie fahrlässig mit ihrer Gesundheit und der von „anderen“ (wie mir) umgehen, nicht aber mit ihrem demokratischen Verständnis. Das ist gut, obwohl natürlich auch hier in Berlin sich so manche Querbündnisse vor der Volksbühne zwischen „Esoteriker[n], Altlinke[n] und Reichbürger[n]“ ergeben, die sich „selbst als neue Friedensbewegung, die weder links noch rechts sei“ beschreibt, wie es Christoph Kluge im Tagesspiegel ganz richtig schreibt (vgl. Kluge 1.5.2020). Die Demonstrant*innen betrachten ihre Protestform als „zivilen Ungehorsam“ und warnen vor dem „Aufbau eines Corona-Polizeistaats“ (ebd.). Das ist ja ein gar nicht so neues Format, da die AfD sich ja auch als „alternativ“ benennt. Sie verwenden wie Extinction Rebellion, die sich auf den zivilen Ungehorsam von Henry Thoreau, Mahatma Gandhi und Martin Luther King beziehen, die gleichen Worte wie die Afd sich auch als „alternativ“ benennt, wie es die Vorgängerpartei der Grünen der Alternativen Liste, tut; fürchterlich. Das ist eine Vergewaltigung der Sprache. Mir ist bewusst, dass dies nicht mehr neu ist, dennoch erschreckt es mich immer noch.

Es ist, wie es ist, alles sehr komplex und verwoben; es gibt nicht nur verschiedene Interessensgruppen, sondern auch verschiedene Wellen an Meinungsbildung. Ich glaube, das ist meine Schwierigkeit mit meinem Artikel, aber genau das sollte natürlich der Ausgangspunkt von jeder wissenschaftlichen und journalistischen Tätigkeit sein, nicht alle über einen Kamm zu scheren, sondern die Vielfalt an Meinungsbildungen aufzuzeigen.

Bude bezeichnet die Solidarität, wie er sie in seinem im Buch diskutiert, als einen globalen Imperativ, den er aber eher nostalgisch begriff, da er in Vor-Corona-Zeiten schon als obsolet galt. So habe ich es auch empfunden, als ich in meiner Feldforschung über Solidarität zwischen europäischen und brasilianischen Umbandist*innen schrieb und sprach. Dies wurde dann eher abgewunken und ich wurde gefragt, auf welches Konzept ich mich denn da „eigentlich“ berufen würde. Doch geht

„Solidarität immer mit Fragen der Differenz und Schuld einher […]. Kurz zusammengefasst: Was schulden wir dem Anderen? Und in welchen wechselseitigen Beziehungen stehen Individuum und Kollektiv zueinander, das Ich und Wir.“ (Smarzoch 20.5.2019).

Darum ging es mir, um ein Bewusstsein der kolonialen Verschränkung unserer Lebenswelten in globalen Norden und Süden. Auch wenn die Umbandist*innen dieser Umbanda-Gemeinschaft das tendenziell eher ablehnen, weil wir ja alle „in einer Welt“ leben (was als Ideal natürlich total nett ist, aber irgendwie leider auch an der Realität vorbeigeht), sympathisieren sie doch mit der Idee der Solidarität, die ja auf dieser Grundordnung basiert. Es steckt also ein innerer Widerspruch in dieser Aussage. Wenn wir alle friedfertig in einer Welt leben würden, bräuchten wir keine Solidarität, oder? Sondern einfach Dialog, Austausch. Stimmt mein Gedankengang?

Ich schreibe hier mal spontan das auf, was ich an Mitschriften und eigen Gedachtem mitgenommen habe. Bude meint, dass die alten Formen der Vergemeinschaftung im Sinne von Solidarität von sozial ausgegrenzten Personengruppen (wie in der Arbeiterbewegung), die sich einer Entwürdigung entgegenstellten, nicht mehr in dieser generalisierten Form gibt, weil die Unterdrückung heutzutage in dieser historischen Dimension weggefallen ist. (Habe ich das richtig verstanden? Hm… Also wenn ich an Brasilien denke, gibt es das schon noch… Er bezieht sich wohl auf die deutsche Situation, wo geradezu jeder Mensch ein Recht auf Unterkunft und Nahrung hat? Das müsste ich wohl in seinem Buch nachlesen, zu dem ich gerade keinen Zugang habe.)

„Totalitäre Systeme entscheiden wiederum darüber, wer gut genug ist, für die Solidarität zu leben und wer in ihrem Namen vernichtet werden muss. Aus diesen Betrachtungen resultiert, dass Solidarität zwangsläufig auch immer Exklusion bedeutet.“ (Smarzoch 20.5.2019).

Dann führt er weiter aus, dass er sich also, da es diese Form ja nicht mehr gibt, auf die Durckheimsche Vorstellung von Solidarität als Grundbestand der Gesellschaft bezieht. Jedenfalls befinden wir uns, auch ohne Corona (was vielleicht einfach die Sichtbarmachung der Krise ist?), in einer Umbruchssituation, in der neue Gesellschaftsentwürfe geschaffen werden. Bude meint, dass sich die gegenwärtige und zukünftige Bedeutung dieses Wortes nicht mehr im kollektiven Sinne, sondern in einer individuellen Einsicht, auf Freiwilligkeit berufende Haltung bezieht.

Seit Trump auf die politische Arena getragen bzw. hineingewählt wurde, ist die alte Vorstellung von Solidarität nicht mehr plausibel, da sie nicht mehr Freiheit, sondern Schutz beinhalte (Habe ich das so richtig verstanden?). In Deutschland jedenfalls habe die Bundesregierung, so Bude im Gespräch, in der Corona-Krise mit dem Modell der Eindämmung und nicht mit Drohungen gearbeitet und für die Verantwortung der Bürger*innen plädiert, für sich selbst, aber eben vor allem auch für andere – für alte und vorerkrankte Menschen – einzugestehen. Merkel und Söder haben nicht moralisch argumentiert, keine Angst verbreitet, kein Obrigkeitsdenken befördert, wie es ihnen jetzt unterstellt wird. Das Motiv der Solidarität wurde in der Anfangszeit von Corona auf einmal sehr stark und sehr positiv einem praktischen Test unterzogen.

So genau habe ich es auch empfunden. Aber jetzt kippt die Stimmung, oder? Oder bahnen sich einfach andere Stimmen ihre Wege in die Öffentlichkeit? Wahrscheinlich passiert eher letzteres.

Christine Dietze, die hinzugeschaltet wird und damit vorgestellt wird, dass sie sich mit Diversitätskonzepten beschäftigt, bemerkt, dass sich eine Veränderung ereignet hat, da nun auf einmal alle gleich verletzlich wegen dieses neuartigen Corona-Virus seien, sich damit anzustecken. Das zeige das Beispiel von Johnson in England. Sind wir also alle gleich? Nein, nicht ganz; nun werden, so Dietze, Ungleichheiten sichtbar, da Vorerkrankte verletzlicher sind als andere; auch diejenigen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, dabei wenig verdienen und also auch keine Entscheidung darüber haben, ob sie arbeiten oder nicht.

Ich als direkt betroffene Person habe mich über diese erste Solidaritäts-Welle gewundert (und auch gefreut, wenn ich ihr auch nicht trauen konnte), weil ich sie in dieser Form noch gar nicht kannte. Und jetzt reagieren die Leute eher aggressiv darauf, dass sie solidarisch zu sein haben, weil es ihnen eigentlich egal ist, was mit anderen passiert…

Jeannette Ehrmann wird hinzugeschaltet und geht unter anderem auf das Privileg, eine gute Wohnung zu haben, ein, aber auch auf die sich immer weiter verstärkende „globale Color-Linie“ und der sich bahnbrechenden Gleichgültigkeit der Mehrheitsgesellschaft darüber, dass People of Color in den USA vermehrt an Corona sterben im Vergleich zur Weißen Bevölkerung. Die Triage ist rassistisch.

Kaschuba wird zugeschaltet. Er meinte, dass die Situation sich gerade verändert, weil die Gefahr sonst den als „anderen“ Bezeichneten – die Migrant*innen, die Natur, der Krieg – nun wir selber seien. Wir nehmen Gesellschaft gerade wie in Zeitlupe wahr. U-Bahn-Fahrer*innen, Aldiverkäufer*innen, Krankenschwestern und Krankenpfleger rücken nun ins Licht der Aufmerksamkeit und zeigen einen empathischen Blick unserer Gesellschaft auf diese sonst nicht sonderlich beachtete Berufsgruppen. Solidarisch sei auch die nachbarschaftliche bewusste Unterstützung. Er würde Bude aber widersprechen, dass eine starke Individualisierung als Gegenteil zu einer moralischen Dimension zu erleben sei, da diese neuen zu beobachtender normativer Werter zu einer gelingenden Gesellschaft beitragen. Es sei zu fragen, welches diese transitorischen Elemente genau seien und ob sie neue Potenziale zutage fördern werde.

Im Chat wird geschrieben, ob es angesichts der NSU-Morde und Hanaus nicht zynisch sei, Gefahr und Gewalt als von außen kommend zu beschreiben.

Warum hat ausgerechnet Corona so viel Aufmerksamkeit erfahren und nicht zum Beispiel die Klimakatastrophe (oder andere globale Katastrophen)? Eben weil auf einmal auch wir (als der Westen?) verletzlich sind, so Bude; Merkel hat in diesem Zusammenhang ganz passend den Vergleich zu 1945 gezogen, einem Moment der experimentellen Nullstellung.

Ist die Corona-Zeit eine Episode oder eine echte gesellschaftliche Transition zu einer veränderten Realität?

Dietze meint, dass sie diese Zeit eher als Zeitraffer beschreiben würde, in der die Geschwindigkeit der Gefahr sehr präsent sei. Sie lege einen Mangel offen. Privilegierte Personen erfahren auf einmal die Ohnmacht, auf einmal selbst betroffen zu sein. Das Klatschen auf dem Balkon und andere Gesten spiegeln eher den puren Egoismus statt einer (Pseudo-)Solidarität dieser gesellschaftlichen Gruppen wider; sie sei ein Ausdruck der Herrschenden. Kaschuba sagt: Wir können vor dieser Gefahr von Corona nicht flüchten.

Ehrmann fragt, ob Corona tatsächlich eine globale Krise sei? (oder nur auf die westlichen Länder beschränkt? Verstehe ich nicht.). Zeigt sich in ihr eine Krise der Demokratie?

Ich habe Lust, von nun an mehr Zoom-Veranstaltungen zu besuchen. Da ich jetzt keine eingeschriebene Doktorandin und Studentin der HU mehr bin, auch keine wissenschaftliche Mitarbeiterin, habe ich keinen Zugang mehr zu all diesen Services – nur wenn es von einer anderen Stelle, wie es im Solidaritäts-Zoom von der Universität Bremen war, schon. Ärgerlich. Ich dachte ja, dass ich nun als Post-Doc wieder neu an der HU angesiedelt wäre. Ich würde schon gerne in Budes Buch gucken.

 

6.5.2020

Heute gab es ein Ritual für Oxumaré im Casa St. Michael in Köln, dem Haus des reinen Wassers, der gemeinsam mit seiner Schwester Euá für den Zyklus steht, für den Regenbogen, den Übergängen, den Abschlüssen von Altem und dem Beginn von Neuem. Arro Boboi Oxumaré!

Kerzen für Oxumaré, Foto: ISdS.

Kerzen für Oxumaré, Foto: ISdS.

Er ist der Auslöser und Repräsentant von Transformation. Ich zünde zwei Kerzen an, eine hellgrüne (in Ermangelung einer regenbogenfarbenen) und eine weiße, die eben alle Farben in sich bündelt, singe ein Lied für ihn und frage mich, was abgeschlossen werden will? Welche Knoten sollen sich lösen? Wovon soll ich loslassen? Ich denke, dass ich aus diesem tieftraurigen und gleichzeitig ruhigen und wundervollen Zyklus der Quarantäne gehen sollte, mich wieder bewegen sollte, anders, aber zum Beispiel ins Atelier. In Zoom-Räume. Meine Disputation endlich annehmend und reden.

 

7.5.2020

Ich würde ja sagen, dass ich in den letzten zwei Monaten mal eben einen Crash-Kursus in Lehre unternommen habe, gewissermaßen als ›Living Fieldwork‹[12]! Oder sollte ich sagen, learning by doing? Ob ich nun will oder nicht, da muss ich durch. Oder ich werde nach Corona Berufs-Coach, weil ich nun sämtliche Lernblätter mit Apuan ausgefüllt habe, wie und warum er gerne Fachinformatiker werden möchte… Oder ich sage Regina, dass ich jetzt doch einfach ad hoc unterrichten kann, weil ich jetzt so viel geübt habe… Haha!

Heute Morgen schrieb die Klassenlehrerin von Apuan uns Eltern eine Nachricht, dass etliche Schüler*innen nun gar nichts mehr abgeben würden und werden nun in die Schule zitiert. Einige wenige seien aber sehr fleißig und hätten nun sogar bessere Noten als in der Schule. Hm… meine Rede! Ariu gehört zur letzteren Gruppe. Ich nerve zwar etwas wegen dem Design des Blattes herum – Name, Datum, Absätze gestalten und so – aber inhaltlich ist es ja doch alles von ihm. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, dass ich so viel hinterher bin, weil er es doch aus eigenen Stücken und Interesse tun sollte – so ist zumindest mein pädagogisches Idealbild – aber ich gebe, ganz in Montessoris Sinne (soweit ich es verstanden habe, habe mich wirklich nicht in aller Tiefe mit ihren Schriften befasst), einfach die Rahmenbedingungen – die Zeit, Ruhe, Ort – vor, damit er gut arbeiten kann und auch eine Ansprechpartnerin hat. Wir reden dann immer etwas sehr viel, d.h. eigentlich redet Ariu wie ein Wasserfall, und ich versuche, dass er diese ganzen Reflexionen auch mal zu Papier bringt – wie zum Beispiel im Corona-Tagebuch. Er schreibt nämlich seit vorgestern auch ein Corona-Tagebuch, was als Grundlage für eine größere interdisziplinäre Aufgabe dient.

[…]

Später: Arius Klassenlehrerin schreibt, dass alle der achten Schulklasse wieder für einmal in der Woche in die Schule kommen müssen, um jeweils für zwei Stunden in der Woche am Mathe- und Deutschunterricht im Präsenzbetrieb teilzunehmen. Ich frage nach, ob es da auch eine Ausnahme gegen kann, da ich chronisch krank bin; Ariu würde auch extra Aufgaben übernehmen. Die Antwort kam prompt: Klar, Ariu ist entschuldigt.

Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich bin so erleichtert, aber das beschreibt es nicht im Mindesten. Es geht mir nicht gut. Aber es ist egal, die Leute wollen Freude, Aufregung, Begegnungen. Sie können der Ruhe nichts abgewinnen. Und sie glauben tatsächlich, dass sie sicher sind, ich aber nicht. Das ist ihnen egal! Mignolo sagt: “there is no safe place” (Mignolo 2011: The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options. London: 62f.). Er meint es, so empfinde ich es, absolut, nicht romantisch verklärt, sondern so, wie ich es fühle und weiß. Wir sind alle Lebewesen und stehen selbstverständlich miteinander im Dialog und Gleichgewicht. Es ist ein Trugschluss zu denken, dass lediglich eine oder einer stirbt oder überlebt, das hängt alles zusammen. Eigentlich können wir alle so viel tanzen, lachen und uns trotzdem umarmen, aber wir sind einfach nicht sicher. Ob nun Bill Gates, die Chinesen, die Amerikaner oder sonst wer daran schuld ist, meinetwegen auch die Pharmaindustrie mit teuren Impfmitteln, ist scheißegal, wir als einfache Menschen sterben.

 

8.5.2020

Gestern bin ich so traurig schlafen gegangen, weil ich eine erneute Absage, dieses Mal für die Impact-Förderung der Berliner Senatsverwaltung für meine Kunstinstallation „Vielschichtigkeit“ erhalten habe… Ich fühle mich elendig, sehr traurig und betrübt. Ohne dieses Geld werde ich mein Projekt nicht umsetzen können; es wäre aber auch gut zur Aufmunterung gewesen, jenseits eines finanziellen Nutzens und abgesehen von einer Umsetzung meiner Idee… Sehr traurig.

Mich macht das sehr empfindlich. Was nutzt mir mein scheiß Idealismus, mein summa cum laude (wovon keiner in meinem Umfeld überhaupt weiß, was es heißt!), wenn ich nicht leben kann? Jamiro malt immer weiter, über alle Grenzen hinweg, aber ich schreibe nur hier. Das will wahrscheinlich auch niemand lesen. Menschen. Ach, ich bin schrecklich traurig! Ich weine und weine und weine. Ich meditiere heute nicht, was soll das! Immerzu soll ich meine Welt selbst erschaffen! Natürlich ist das wichtig, aber es muss auch ein Gegenüber geben!!!

Zu allem Überfluss hat mir eine Freundin geschrieben, dass ich mich „nicht mental in ein Gefängnis aus Angst katapultieren lassen“ soll, weil ich meinte, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich Ende des Monats mit ihr im Freibad schwimmen gehen werde. Sie fragt mich nicht, wie oder warum es mir irgendwie geht, sondern folgert es einfach selbst. Hm. Mir scheint, dass sie da Worte hinterherplappert, die sie von anderen gehört hat, weil ich nicht recht sehe, was das mit mir zu tun hat.

Ich rede lange mit meinem Sohn darüber, weil er immer so gute, empathische und einfache Antworten hat. Er sagt: „Komisch, das hört sich für mich an wie eine Mutprobe der Freundschaft. Ich an deiner Stelle würde mich fragen, ob du eigentlich ihre Freundin bist, wenn es ihr egal ist, ob du tot oder lebendig bist. Stell Dir vor, dass sie Dir sagt, dass Du vor einen fahrenden Zug rennen solltest, um Deine Freundschaft zu bestätigen… Würdest Du das tun? Nein, natürlich nicht!“ Er schließt an: „Ich bin mit Dir solidarisch und bleibe mit Dir in Quarantäne, weil Du besonders verletzlich bist. Aber ich tue es auch für mich selbst, weil, wenn ich mich schütze, ich dann auch die Gesellschaft unterstütze, sich heilen zu können.“ Ich wusste, dass er philosophisch ist…

„Solidarisch zu sein bedeutet über das Verhältnis zum anderen, sich selbst verstehen zu lernen und dabei die eigene Selbstachtung zu kultivieren. Es geht nicht darum zu geben, sondern zu teilen und gemeinsam am großen Ganzen zu arbeiten.“ (Smarzoch 20.5.2019).

Falls ich also weiterhin arbeitslos bleiben sollte, habe ich wenigstens eine Sache in meinem Leben gutgetan, einen jungen Menschen in eine humanistische Richtung zu schicken.

 

9.5.2020

In Brasilien sterben immer mehr Menschen – und das ist erst der Anfang. Bolsonaro macht lieber eine Grillparty, als sich um sein Volk zu kümmern. Gleichzeitig demonstrieren hier die Menschen haufenweise gegen die Corona-Maßnahmen und haben keinen Anstand, sich 75 Jahre nach der Befreiung von der Nazi-Diktatur neben Rechtsradikale zu stellen.

 

10.5.2020

Ariu hat jetzt noch ein weiteres Lernsystem für Englisch, sehr cool – damit kann er verschiedenste Filme für den Unterricht abrufen (während der andere Unterricht eigentlich noch mit den altmodischen Zetteln arbeitet, eben einfach nur online) und auch Vokabeln in einem ausgeklüngelten und sehr überzeugenden System üben.

In dieser Quarantäne gab es eine erste Welle kurz nach Ostern, als es an der Zeit war, dass die Schule wieder regulär geöffnet werden sollte – da wurde mir klar, dass es zeitlich nicht zu fassen ist, was da gerade passiert. Ob wir behutsam unser öffentliches Leben retten und gleichzeitig verändert herausgehen oder nicht.

Und jetzt kommt die zweite Welle, die mir eigentlich mehr Sorge macht als die Anfangsphase der Pandemie… vielleicht ist das Quatsch und ich schreibe es mir hier nur von der Seele. Hoffentlich. Aber dass jetzt Tausende auf den Straßen stehen und sich in der angeblichen Verteidigung ihrer Meinungsfreiheit gegen die Corona-Maßnahmen stellen und dabei diese krude Vermischung von rechtsradikalem Gedankengut mit der Angst vor einer Impf-Diktatur, „natürlichem“ Sterben und gegen jegliche Menschlichkeit offenlegen, wie ich sie hier in meinem Tagebuch ratlos und minutiös, gleichzeitig ungläubig staunend dokumentiert habe ist zwar eine logische Schlussfolgerung dieses merkwürdigen und schrecklichen Menschenbilds, aber dennoch unglaublich. Natürlich ist es gut, sich damit auseinanderzusetzen, aber mir wird es seelisch gerade zu viel – auch weil ich ja persönlich angegriffen werde. Das wird in Zukunft vielleicht eher zu- als abnehmen.

So hat eine Bevölkerungsstudie zur Risikowahrnehmung der Menschen in der Corona-Krise und ihren Bewältigungsstrategien von Anfang April ergeben, dass die meisten in Deutschland lebenden Menschen wegen der aktuellen Corona-Pandemie zwar beunruhigt sind, aber keine Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus haben – nur 28%! (vgl. Gerhold / Peperhove 1.4.2020).

Blick vom Rheingauviertel auf den Heidelberger Platz, Foto: ISdS.

Ich werde mich wappnen müssen. Also, da ich ja eh wie ein Kaninchen vor dem Fuchs stehe, nehme ich mir jetzt vor, mich vor dieser populären und empirisch superinteressanten Welt von Facebook, Natur-Tagebüchern, YouTube-Videos etc. abzuwenden und mich mehr akademischen Texten zum Thema Covid-19 zuzuwenden; vielleicht gibt mir das Halt. Also zum Beispiel eine Serie der Freien Universität Berlin ›Corona Pandemie– Fragen an die Wissenschaft‹ (vgl. Freie Universität Berlin 2020), Bernd Scherer vom Haus der Kulturen der Welt (vgl. Scherer 29.4.2020), der Blog der Medizinanthropologie ›Witnessing Corona‹ (vgl. Witnessing Corona 10.5.2020) und die Zoom-Interviews des Futuriums.

Der Historiker Paul Nolte meint, dass die Corona-Pandemie eine „tiefe historische Zäsur“ erkennbar machen lasse (vgl. Nolte 27.3.2020).

„Am meisten Sorge macht mir, dass eine so dramatische Alltagskrise nicht ohne traumatische Folgen bleiben kann, individuell, aber auch in der kollektiven Erinnerung. Wir werden jahrzehntelang an diesem Trauma, an dieser Erinnerung zu knacken haben.“ (Paul Nolte 27.3.2020)

Aber er sagt auch, dass die liberalen Demokratien Stärke und Führungsfähigkeit in der Krise gezeigt haben und dies möglicherweise ein Signal für den Abstieg des Populismus sei. Im Moment sieht es ja gar nicht danach aus, aber wollen wir hoffen, dass er Recht hat (ebd.). Martin Voss der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität mahnt, dass in Deutschland nicht global gedacht worden ist und

„unsere Gesellschaft [sich] nicht genügend darum [kümmert], wie es in anderen Ländern aussieht. Diese Ignoranz rächt sich nun bitter. Aber vielleicht lernen wir jetzt, dass wir tatsächlich alle Familienmitglieder sind in einer auf das Engste vernetzten Welt. Es ist damit auch eine historische, sogar epochale Chance. Wir müssen auch nach Afrika und Asien schauen. Was passiert, wenn das Virus in den Slums ankommt? Ich fürchte hier das Allerschlimmste – und das wird uns ebenfalls einholen.“ (Martin Voss 26.3.2020)

 Ich bin damit einfach auch ganz direkt über meinen Mann und seine Familie mit verbunden; es ist meine ausgelagerte Wirklichkeit […] Mir ist klar, dass diese Abfolge von Zitaten irgendwie etwas weg vom Tagebuch-Charakter geht, aber ich muss das einfach mal einschieben, um nicht an meinen eigenen Sinnen zu zweifeln. Aber ich muss da wohl noch tiefer einsteigen, damit es eine Wirkung zeigt.

Mara hat mir heute Morgen geschrieben, dass sie unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen möchte. Gut, ich werde ihr freundlich antworten, aber ich denke, dass es mir noch nicht so schlecht geht, dass ich gleich mein Leben aufs Spiel setzen müsste.

Ich habe mich heute einfach mal hingesetzt und total verrückte und übermalte Collagen angefertigt; also auch ganz banal. Mit ausgeschnittenen Schriften (Haut, ist Denken, See, Geschichte, King Size, Schönstpersönlich, Blick) und Bildern aus Illustrierten von Blumen, übermalten Haaren und Gesichtern, Wellen, Herzchen.

Ich brauche ganz viel innere Kraft, um mich aus dieser Situation zu befreien, aber ich werde es schon schaffen. Eines der Bilder ist Iemanjá geworden, das andere Oxum, ganz klar. Die blonde Schönheit als Modell ist von mir mit Gesichtsbemalung überdeckt worden, dadurch wurde ihr trauriger Blick hervorgehoben.

 

11.5.2020

Der Tag fing langsam an. Ich träume sehr intensiv, aber nichts Verwunderliches wie meine umbandistischen Freudinnen (von attackierenden Reptilien), sondern eher skurril nahe. Wir frühstücken und Jamiro meint, dass er wahrscheinlich Corona hat, weil er Halskratzen hat. […] Wir chatten mit der Techniker Krankenkasse, die uns an die Corona Hotline von Berlin verweist, die meinen, dass wir unter unseren Umständen gar kein Corona haben können – in Quarantäne und nur im Supermarkt einkaufend. Die Hausärztin geht erst gar nicht ans Telefon.

Den Tag verbringen wir, da es ja schon fünf vor zwölf ist, damit, Arius Kunstordner über sein Idol zusammenzustellen. Der Tisch im mit lauter Stiften, Papieren und Ideen überhäuft. Zwischendurch wird gegessen, Schupfnudeln mit Sauerkraut und Vanilleeis mit Erdbeeren und Schlagsahne! Mara antwortet total süß und ist total erleichtert, dass wir weiterhin befreundet sind. Und ich falle jetzt ins Bett, es ist Mitternacht!

 

12.5.2020

Ich sitze mit Ariu in seinem Zimmer, er tanzt und ich schreibe seine Hausaufgaben auf dem Laptop. Er erzählt mir, was ich schreiben soll. Also: Falls diese Corona-Krise mal vorbeigehen sollte, wird Jamiro Koch, Ariu wird Tänzer und ich werde Schriftstellerin! Ariu liest mit, während ich dies schreibe und lacht!

Jedenfalls werde ich kein Berufs-Coach!! Oh je, so viel Berufswahlaufgaben, davon werde ich total irre! Die Kunst-Mappe gestern war auf jeden Fall besser… Aber es stehen noch so viele Aufgaben an und es zieht sich alles in die Länge…

Es gibt Essen, Jamiro hat Paella gekocht.

 

13.5.2020

Als Kind wollte ich Clown werden, als Jugendliche Pierrot. Da wir immer Fasching gefeiert haben, konnte ich es immerhin ein Mal im Jahr leben, dieses lustig-traurige Dasein mit einem weiß geschminkten Gesicht. Es war für mich eine Maske oder eine Sichtbarmachung von Gefühlen, ohne die Lautsprachen nutzen zu müssen. Clowns und Pierrots sprechen auch ohne, dass sie die üblichen Formen von Lautsprachen nutzen, häufig erscheinen sie im Zirkus oder in Stummfilmen. Jean-Louis Deburau im Film ›Kinder des Olymps‹ von 1945 hat mich als ca. 15-Jährige sehr beeindruckt; ich sah den Film mit meiner Mutter im Kino. Ich habe mir geschworen, nie meine Einsamkeit von damals zu vergessen und nie aus irgendeinem anderen Grund als aus Liebe zu heiraten, wenn ich überhaupt heiraten würde, als ich diesen Film sah. Das habe ich getan.

Ist schon kurios. Jetzt bin ich Ethnologin und schreibe viel, das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Aber ich vermute, dass in diesem Wunsch bei mir die Sehnsucht steckte, mich ausdrücken zu können, da ich ja wenig hören und wegen meiner grottenschlechten Hörgeräte noch viel weniger verstehen konnte.

Ich habe mich eine Weile gefragt, ob ich überhaupt einen Berufswunsch hatte, weil ich ja mit Ariu so viel über dieses Thema nachdenken muss, weil es die Schule so viel vorgibt. Er geht ja auf eine Sekundarschule, die erst einmal kein Gymnasium vorsieht und also die Jugendlichen auf einen praktischen Beruf vorbereitet. Ich dachte, dass ich mir nichts gewünscht habe, aber ich hatte es verdrängt, weil es ja so unpraktisch ist, Clown werden zu wollen. […]

Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht wieder vor irgendeinen Karren spannen lasse, sondern einfach für mein eigenes Überleben meinen Weg in der Wissenschaft gehen sollte, auch ohne passenden Habitus. Im Grunde genommen sind das nebensächliche Dinge, die im Alltag natürlich übergroß daherkommen, aber ich sollte mich wirklich als Subjekt wahrnehmen und nicht als Rad im Getriebe. Natürlich muss ich mein Unwissen eingestehen, aber ich kann nicht anders, als meinem Herzen zu folgen. Mal sehen, ob das Schicksal mir diese Türen öffnet.

Mit Ariu Englisch zu üben ist nicht einfach. Er ist in seinem Wesen so süß, aber hampelt so viel herum… und scheinbar hat er von dem Unterricht nicht viel mitbekommen. Wenn wir aber gemeinsam Filme sehen und darüber reden, Englischvokabeln üben, dann ist er häufig viel besser als ich es zuerst denke.

Früher wollten sie ihm Ritalin geben, das werde ich nie vergessen. Die Klassenlehrerin, eine Psychologin, eine Logopädin und ich saßen zusammen, weil mein Mann das so wollte, dass er Hilfe brauche. Das Resultat war immer das Fazit, dass er so kindlich sei und Ritalin brauche. Ich habe das immer als eine sehr armselige Antwort empfunden. Ich habe viel geredet und war eigentlich sehr offen, wollte in den Dialog kommen, aber trotz all dieser Power-Frauen um mich herum kam es mir nicht so vor, als würde dies gelingen. Ich stellte mich quer und meinte, dass mein Kind kein Ritalin brauche. Er ist ein Kind gewesen. Dass er sozial ist, gerne Lachs mit Bratkartoffeln isst und die Oper liebt, habe ich als meinen guten Einfluss gewertet, also konnten die anderen doch für gute Mathe- und Deutschkenntnisse sorgen, oder? Nein, alles wird der Mutter angehängt! Am liebsten hätte ich gesagt, dass sie wohl einem unbewussten Nazibild von Mutter anhängen. Aber ich habe es nicht gesagt.

Jetzt hat mich Corona tatsächlich dazu gebracht, keine Karriere zu machen, sondern mit meinem Sohn Hausaufgaben. Übermorgen hat er einen mündlichen Test über Zoom auf Englisch über „The Deep South“. Martin Luther King, Rosa Parks, the Native Americans; immerhin ein sehr interessantes Thema.

 

14.5.2020

Eben hat mein Laptop meinen ganzen Text von heute verschluckt und ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich vor rund einer Stunde geschrieben habe. Nur, dass es viel und gut war.

Heute war kein guter Tag. Und doch. Ich schiebe die Vorbereitung zur Disputation vor mir her, weil ich denke, dass sie mich Hochhaus durchfallen lassen, weil ich nicht reden kann, summa cum laude hin oder her.

Ich würde so gerne zuerst eine Zusage für meine letzte noch offene Bewerbung erhalten, um mich bestätigt und sicher zu fühlen und dann erst meine Disputation mit Leichtigkeit zu verteidigen. Im Gutachten meiner Doktormutter gab es nicht einen einzigen Punkt, gegen den ich mich verteidigen könnte […]. Vielleicht ist es eine blöde Betitelung – Verteidigung? Soll ich erläutern und mit auf einen Weg der Erkenntnis nehmen oder mich verteidigen? Gegen was oder wen? Ich bin ja für Streit, gedanklich, nur emotional nicht.

Ich wünsche mir eine positive Antwort, um in diesem System leben und überleben zu können. Arbeiten tue ich ja eh. […] Ich möchte Teil dieser akademischen Welt sein. Ich bin es schon, aber ich möchte auch dafür so bezahlt werden, um meine Familie durch diese unsichere Welt zu hieven.

Heute Abend gab es ein Ritual für Iemanjá und Nanã, zwei Muttergöttinnen. Ihre Kerzen brennen jetzt nach sechs Stunden noch immer. Ich habe eine Madonna-Figur dazugestellt, die ich vor Jahren in der Nähe von Genua in der Region gekauft habe, als ich die Schwester meines (sozialen, da angeheirateten) Opas mit ihrer Familie besucht habe. Heutzutage ist diese Region ein Hotspot von Corona-Toten.

 

15.5.2020

[…]

 

16.5.2020

Heute bin ich endlich wieder spazieren gegangen, wieder einmal Bücher in die Bücherbox am Rüdesheimer Platz bringen, wo ich gleich gesehen habe, dass meine anderen Bücher alle mitgenommen worden sind, was mich sehr freut. Ich wollte dann eine andere Schrebergartenkolonie ansehen als die, wo ich schon gewesen bin – die Johannisburger – aber dann bin ich doch dort gelandet. Das ist schon verrückt, irgendwie wusste ich, dass es hier in der unmittelbaren Umgebung lauter Schrebergärtenkolonien gibt, habe sie aber nicht besucht. Ich hatte nie die Zeit dazu.

Schrebergarten Johannisberg, Berlin-Friedenau, Foto: ISdS.

Als ich dort rauskam, aus dem dichten Grün mit lauter zirpenden und zwitschernden Vögeln, wo alles wie in Bullerbü aussieht, ging ich die Johannisburger Straße in Richtung Heidelberger Platz und kam an dem Gebäude vorbei, wo der Cornelsen Verlag haust. Von jedem der Balkone hing Efeu hinab, auf allen waren Bäume gepflanzt. Ich kam mir vor wie im Futurium; die Zukunft des Bauens liegt gleich nebenan!

Bäume auf Balkonen, Cornelsen Verlag in Berlin-Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Ich fotografiere viel hier bei meinen kleinen Ausflügen in die unmittelbare Umgebung; es ist schon eine kleine, stille ethnographische Studie daraus geworden.

Aber ich muss wieder in Gang kommen. Vor der Pandemie habe ich fünf Mal in der Woche Sport gemacht, drei Mal im Sportstudio und zwei Mal jeweils eine Stunde schwimmen. Am Anfang der Ausgangsbeschränkungen dachte ich noch sehr positiv und dachte, dass ich einfach zu Hause Sport machen würde, habe es auch, aber die Zeit vergeht und das Sofa war näher.

Heute Nachmittag habe ich wieder Hausaufgaben mit Ariu gemacht; dieses Mal sein Service Center Tagebuch, also sein soziales Praktikum, das er in einem Jugendfreizeitheim in der Nähe absolviert hat. Wegen der Corona-Krise musste es in der Mitte beendet werden.

Eigentlich wollte ich noch seine Deutsch- und Englischaufgaben mit ihm schaffen, aber es war einfach nicht möglich¸ die Zeit war zu kurz. Aber was soll’s? Es ist, wie es ist. Also haben wir getanzt, wir haben Kniebeugen gemacht und ich war doch auf dem stehenden Fahrrad, wie auch immer das sonst genannt wird. Mein Mann hatte ein Interview als Künstler auf Instagram, sehr schön. Ich habe derweilen gelesen, was die Kids so über die sexuelle Vielfalt in den Schulen lernen und was die Weltreligionen zur Sexualität sagen; hochinteressant!

Ich muss endlich dazu kommen, meine Gedanken per Zoom oder irgendwie anders aufgenommen – Mumble – darstellen zu können; vielleicht bin ich ja doch nicht so schrecklich wie ich es denke. Diese neue Form der Kommunikation ist eigentlich sehr schön, da tatsächlich einer Person volle Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und es ist sehr lustig zu sehen, wer chaotische und wer aufgeräumte Bücherregale hat!

 

Alle sind sorglos privilegiert.

 

 

17.5.2020

Dank der heutig abzugebenden Hausaufgaben weiß ich jetzt, dass mein Sohn gerne Fachinformatiker, Erzieher (das war ja schon klar) oder Naturpädagoge werden will und kein Wissenschaftler, Künstler oder Koch. Klassische Abnabelung würde ich sagen (schließlich will er nichts werden, was wir als seine Eltern sind).

Heute war ich wieder einmal draußen in der großen weiten Welt, wie des Öfteren schon zu unserem Haussee, dem Fennsee. Eigentlich gab und gibt es visuell in Berlin gar kein Corona, ganz offensichtlich. Alle sind sorglos privilegiert. Ich finde immer wieder neue Motive zum Fotografieren und treffe auf die Entenfamilie, wo die Entchen schon ziemlich gewachsen sind. Sonst sind auch andere Familien mit ganz frisch geschlüpften Entchen unterwegs. Der Fennsee wirkt auf mich aus meiner speziellen Perspektive wie ein Urwald und Refugium. Jetzt ist alles dicht grün, schon fast sommerlich.

Jetzt bin ich ziemlich fertig und müde. Beim Wäscheaufhängen bin ich in Tränen ausgebrochen, weil mein Vater mir bei der Eierübergabe (den frischen Eiern aus der Uckermark) erzählt hat, dass er gerade im Tagesspiegel gelesen hat, dass die HU keine neuen Verträge mehr abschließt. Also meinen auch nicht? Ich stehe ziemlich unter Strom, fühle mich alt und ausweglos. Ich verliere mich selbst.

 

18.5.2020

Ich bin so erleichtert zu lesen, dass Birgit Meyer ihr Dossier Corona zwar als intellektuelle Auseinandersetzung der aktuellen Situation ankündigt, aber auch, „wenn auch nur, um die geistige Gesundheit zu bewahren oder wiederzugewinnen“ (Meyer 21.4.2020). So fühlt es sich gerade für mich an.

Zoom zu Hause, Foto: ISdS.

Meyer versteht diesen Beitrag als einen Auftakt für andere Beiträge, die auf diesem Blog folgen, und versteht Corona darin als “total social fact”, die nach einer „thorough diagnostics“ ruft. Sie schreibt, dass diese Krise

„does not imply that all that happens now is so special and beyond our expertise that we are doomed to remain silent, isolating ourselves in secluded home offices and struggling to keep our academic work going via digital means. Corona calls our attention and it is important – if only to retain or regain sanity – to somehow get our heads around it as intellectuals.” (Birgit Meyer 21.4.2020)

Ja… Hier zu Hause ist zwar alles chaotisch, aber liebevoll. Eigentlich sind wir angespannt angesichts der dramatischen Lage in Brasilien und verstehen besonders aus dieser Perspektive diese Demonstranten in Deutschland nicht. Übersättigte, ichbezogene Leute sind das, privilegiert oder sich privilegiert ansehend, arrogant! Ich habe keine Lust mehr zum Schreiben.

 

Mir ist klar geworden, dass ich das die ganze lange Zeit in der Quarantäne nicht getan habe, einfach ruhig dazusitzen und ein Buch zu lesen.

 

 

19.5.2020

Heute hatte ich einen Rappel und habe mich ganz bewusst gezwungen – tatsächlich, es war nicht einfach – sowohl mein Handy mit dem virtuellen Tagesspiegel und sozialen Medien und auch mein Laptop mit Internet und E-Mails ausgeschaltet zu lassen und einfach mal ein Buch zu lesen, ›In welcher Welt leben?‹ von Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro (vgl. Danowski / Viveiros de Castro 2019). Ich habe auch meine Hörgeräte rausgenommen und die Stille genossen. Jamiro saß in der Küche und malte an seiner Love Letter Serie, Ariu war in seinem Zimmer und zockte wahrscheinlich oder unterhielt sich mit seinen Freunden.

Die kleinen und großen Kohlmeisen fliegen immer noch auf unserem Balkon herum, obwohl es so scheint, als ob die jung Geschlüpften schon flügge sind. Sie treffen sich meistens auf einer Rankhilfe für meinen Efeu, der jetzt an einer anderen Stelle steht (eher in einer Ecke) und dort gar nicht rankt, und sitzen obendrauf, während ein Elternteil ein Junges füttert. Mir ist klar geworden, dass ich das die ganze lange Zeit in der Quarantäne nicht getan habe, einfach ruhig dazusitzen und ein Buch zu lesen.

 

20.5.2020

In Brasilien sterben täglich über 1000 Menschen pro Tag an dem Corona-Virus, mein (brasilianischer) Mann sagt über 1.500 (vgl. Samuel / Käufer 19.5.2020). Und hier konstatiert ›Der Tagesspiegel‹ auf einmal, dass in Deutschland 97% Menschen mit Vorerkrankungen an Covid-19 gestorben sind (vgl. Trappe 19.5.2020). Nun, da können ja alle Normalen kräftig aufatmen! Verdammt!

Heute bin ich stundenlang mit Jamiro durch die Gegend gelaufen; ich wollte unbedingt mal nicht in unseren hübschen dichten grünen Dschungel des Fennsees, sondern auf die andere Seite des Volksparks gehen. So sind wir bis nach Schöneberg ›Zum goldenen Hirschen‹ durch den ganzen Park über die Schwingbrücke der Bundesallee gelaufen.

Der goldene Hirsch im Volkspark Schöneberg, Foto: ISdS.

Dort liefen frisch vermählte Paare mit ihren Freund*innen lang, die im Rathaus Schöneberg geheiratet haben. Es war, wie immer in den letzten Monaten, ein sonniger Tag mit sorglosen Menschen; Corona ist eindeutig abgeschafft worden. Nur wir laufen wie futuristische Zombies mit unseren Mund- und Nasen-Masken in rosa-kariert und blau-gestreift rum und sehen wahrscheinlich total merkwürdig unter lauter so befreiten und glückseligen Menschen aus.

Springbrunnen am Goldenen Hirschen im Volkspark Schöneber in Berlin, Foto: ISdS.

Das Wetter ist so absurd traumhaft schön; mit lauter vereinzelten puffigen Wolken am klarblauen Himmel.

„Mit unbewussten Ängsten, sich mit Behinderung zu kontaminieren, erklärte ich mir die verstörten Blicke der Leute. Wenn ich denn überhaupt mal rausging. […] Mit dem Wissen über symptomlose Überträgerinnen blieb ich die meiste Zeit schön zu Hause. […] Jetzt ist die Maske kein Stigma mehr, die Maskenpflicht hat dieses Kleidungsstück binnen kürzester Zeit zur Normalität werden lassen. Ich bin erleichtert und kann mir vorstellen, mich wieder in die Öffentlichkeit zu begeben.“ (Rebecca Maskos 14.5.2020).

Meiner Meinung nach wohnt Rebecca in Neukölln. Ist es da anders als in Wilmersdorf? Ich weiß es nicht, vielleicht frage ich sie einfach mal.

Heute Abend gibt es in Köln ein großes Ciganas und Ciganos-Ritual.

„Großes Ciganos Ritual. Mi 20.5.2020. Mit Anleitung.

Teilnahme nur von zu Hause.

Bitte verbindet Euch um 18 Uhr mit uns.

Zündet eine bunte Kerze Eurer Wahl an.

Betet und singt für die Zigeuner.

Gebet für die Ciganos

Salve Zigeuner

Ori Baba

Liebe Zigeuner, ich bitte Euch:

alles, was in meiner Ordnung nicht stimmig ist

von mir zu nehmen,

damit eine neue Ordnung in mein Leben einkehrt.

Damit ich einen Platz finde, der mir zugehörig ist;

dass ich ins Gleichgewicht komme

von Frieden zu mir selbst und zu allen anderen.

Bitte schneidet alle Bänder von mir,

die mich noch gefangen halten,

durch Neid, Eifersucht und Missgunst.

Schneidet bitte auch meinen Neid, meine Missgunst

und meine Unzulänglichkeiten von mir ab.

Liebe Zigeuner,

bitte bringt mir in meine neue Ordnung Freude, Liebe und Hoffnung.

Macht mich leichter für das Leben, was jetzt beginnt.

Ich bin bereit, mich hinzugeben

für das Leben, für die Liebe und für die Lebensfreude.

Danke.

Salve Zigeuner

Ori Baba

Axé

Lasst die Kerzen bitte abbrennen.

Wer namentlich in die Arbeit aufgenommen werden möchte,

der wird gebeten, sich per Mail oder telefonisch bei uns zu melden.

WIR BITTEN ALS AUSGLEICH UM DEINE UNTERSTÜTZUNG FÜR DAS HAUS.

Durch die momentane Situation durch „Corona“ und die Auflagen, die Wirtschaft und Gemeinschaften auferlegt werden, sind wir zu einer Zwangspause verpflichtet. Das bedeutet für uns eine extreme finanzielle Durststrecke.

Anders als andere Religionsgemeinschaften erhalten wir keine Gelder. Um das Haus weiter halten zu können, sind wir JETZT AUF DEINE UNTERSTÜTZUNG ANGEWIESEN!

Es geht um Solidarität, bitte unterstütze unsere Arbeit, damit wir auch nach dieser Krise weiter für dich da sein können.

(Köln: Umbanda Casa St. Michael, https://www.facebook.com/events/1026622664399423/, Abruf am 21.5.2020)

 

Kerzen für die Ciganas und Ciganos, Foto: ISdS.

Ich nehme daran teil, indem ich meinen Schreibtisch in einen Altar verwandle. Ich lege ein rot-schwarzes Tuch darüber, lege meine Umbanda-Ketten aus Brasilien an und später auf diesen improvisierten Altar, zünde eine Kerze an, stelle eine Figur von Iansã daneben. Meine Cigana ist sofort da, sobald ich sie rufe, für sie bete, mit und durch sie rede. Sie meint, dass ich aufrechter stehen und gehen sollte. Sie befreit mich von Neid und Missgunst, arbeitet energetisch an meinem Körper. Sie lacht und freut sich, mich zu treffen. Ihr Herz ist groß.

 

21.5.2020

Es ist schon komisch, dass ich so langsam bin, aber erst heute habe ich ein Programm aus dem Internet heruntergeladen, um Videos von mir selbst aufzeichnen zu können. Auslöser ist der Call for Papers der Theologischen Sozietät von Professor Feldtkeller, des Zweitbetreuers meiner Doktorarbeit. Ich habe einmal einen Vortrag im November 2018 auf einer vergangenen Sozietät im Gebäude gegenüber des Deutschen Doms gehalten, nachdem ich auf einer Sozietät in Weimar dabei war. Obwohl es nicht lange her ist – es muss wohl 2017 gewesen sein – kann ich mich erinnern, dass ich tagsüber zwar das Programm mitmachen konnte inklusive Spaziergänge, Essen gehen mit den Kolleg*innen in Weimar, aber abends einfach sehr früh völlig erschöpft ins Bett gefallen bin, während die anderen nach dem Abendessen noch einen Trinken gegangen sind. Komisch… war es noch meine Fatigue oder die Überflutung von Gehörtem, was mich so umgehauen hatte? Wahrscheinlich war es beides.

Vorbereitung für Zoom, Selfie, Foto: ISdS.

 

Die Medien suggerieren mir, dass wir in einem Lockdown leben, aber in meiner unmittelbaren Umgebung sind wir als Familie tatsächlich die absolute Ausnahme und werden mit unseren selbstgenähten Masken als Alien angeguckt. Immerhin werden wir hier in Wilmersdorf noch nicht von „selbst ernannten Rebellen gegen Medien, Politik und Konzerne“ (Minkmar 19.5.2020) verprügelt, wie es vielleicht andernorts der Fall ist…

 

 

Jedenfalls werde ich nun einen 20-minutigen Vortrag aufnehmen und dann an einem Zoom-Meeting teilnehmen. Ich möchte es vorher aufnehmen, weil unser Internet zwar meist sehr gut ist, aber manchmal wirklich aussetzt; wahrscheinlich wegen der Überbelastung. Ja, wieso habe ich das wieder zugesagt, auch wenn es mich stresst? Hm, ich denke, dass ich ein bisschen positiven Stress ganz gut vertragen kann, um nun endlich mal meine Disputation wirklich tatkräftig denken zu können – auch wenn sich bislang noch keine bürokratische Lösung abzeichnet. Aber die könnte ja ganz spontan klappen und ich muss dann gewappnet sein.

Die Medien suggerieren mir, dass wir in einem Lockdown leben, aber in meiner unmittelbaren Umgebung sind wir als Familie tatsächlich die absolute Ausnahme und werden mit unseren selbstgenähten Masken als Alien angeguckt. Immerhin werden wir hier in Wilmersdorf noch nicht von „selbst ernannten Rebellen gegen Medien, Politik und Konzerne“ (Minkmar 19.5.2020) verprügelt, wie es vielleicht andernorts der Fall ist…

Katja Triplett berichtet darüber, wie die kleineren Einrichtungen asiatischer Heilpraktiken zu Corona-Zeiten um ihre Existenz bangen und um solidarische Spenden über Online-Angebote bitten. Genau wie das Umbanda-Haus in Köln. Oder das Machmit! Kindermuseum, wo mein Mann arbeitet, die nach und nach einige Objekte wie den Berliner Buddy Bären verkaufen, um finanziell überleben zu können.

Heil und Heilung. Ob es das geben wird? Ich weiß, dass es besser ist, positiv zu denken, aber ich vermute, dass diese Pandemie eher der Anfang vom Ende als eine neue Welt sein wird, auch wenn ich es mir natürlich anders erhoffe.

[…]

„Doch in einigen Gemeinschaften herrscht der Glaube, das sündenbedingte Rest-Risiko einer Ansteckung lasse sich durch Gebet und Reue wirksamer bekämpfen als durch social distancing oder einen Impfstoff.“ (Christoph Kleine 9.5.2020)

 

22.5.2020

Heute hat Ariu mal wieder mit uns gefrühstückt, weil es aufgebackene Croissants gab. Sonst schläft er länger als wir, so, dass wir meist nur einmal am Tag gemeinsam essen – – und später am Abend noch etwas zusammen wie Sandwich oder frisch gemachtes Popcorn snacken. Dann sind Jamiro und ich Flaschen wegwerfen und zum Reformhaus (Zylinder für unser Sprudelwasser) und zu Rossmann einkaufen gegangen. Wie immer liefen wir auf dem Nachhauseweg am Fennsee vorbei, der ja mittlerweile zu unserem fast täglich besuchten Haussee geworden ist. Wir setzten uns wie ein altes Pärchen auf eine Parkbank und sahen die an uns vorbeilaufenden Leute an. Sahen die Entenfamilien, die zankten und ihre schon ziemlich ausgewachsenen Jungtiere um sich herum scharten. Bzw. sind es ja lediglich die Weibchen, die mit ihren Kindern herumschwimmen. Ich fühle mich überhaupt nicht alt, aber so sehr auf meine Familie begrenzt zu sein, lässt mich alt fühlen. Vorher hatte ich gar keine Zeit, darüber nachzudenken, aber jetzt komme ich mir irgendwie wie eine Rentnerin vor.

Weg am Fennsee in Berlin-Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Die neue Welt zieht an uns vorbei und wir sind altmodisch händchenhaltend und mit Maske. In den Medien reden so viele über Masken, aber hier gibt es kaum jemanden mit Masken auf den Straßen. Ich kann es gar nicht oft genug wiederholen, aber hier ist wenigstens visuell die Pandemie mitsamt Virus abgeschafft worden; die Menschen hier in Berlin Wilmersdorf ignorieren die Weltlage einfach.

Als wir nach Hause kommen, beginnt gerade die Online-Veranstaltung ›Von Alu-Bommel bis Judenstern. Bestandsaufnahme der Verschwörungsmythen rund um Covid-19‹, die von der Amadeu Antonio Stiftung über Facebook angekündigt und über Zoom und YouTube in Umlauf gebracht wurde (vgl. Amadeu Antonio Stiftung 22.5.2020).

In Zeiten der COVID-19-Pandemie erreichen Verschwörungsmythen im Netz ein Millionenpublikum. Seit ein paar Wochen begibt sich der Unmut über die vermeintliche Verschwörung der Mächtigen auf die Straße. Die Behauptung, das Corona-Virus sei eine Lüge, um eine Diktatur zu errichten, mündet in Antisemitismus und NS-Vergleiche: Ein Beispiel hierfür ist das Tragen eines „Judensterns“ mit der Inschrift „Nicht Geimpft“. Der Livestream widmet sich Verschwörungsmythen, die sowohl im Netz als auch auf der Straße verbreitet werden. Es beleuchtet die Rolle prominenter Akteur*innen wie Attila Hildmann und Xavier Naidoo, einflussreicher YouTuber*innen wie Oliver Janich und Ken Jebsen und Parteien wie AfD sowie der Bewegung Widerstand2020. Im Fokus des Webinars stehen die beiden Fragen: Wie artikuliert sich der Protest und welchen Effekt hat die Macht der Bilder auf die Radikalisierung des Protests? Wir diskutieren mit: Miro Dittrich (dehate / Amadeu Antonio Stiftung) Tuija Wigard (Vorstand von democ. e.V.“) Nikolai Schreiter (RIAS Bayern) Moderation: Kira Ayyadi (Amadeu Antonio Stiftung 22.5.2020)

Es macht Sinn für mich, dass Leute den Kontrollverlust über ihre als sicher geglaubte Wirklichkeit nicht ertragen können und deswegen einfachen Antworten auf die aktuellen Fragen Glauben schenken. Aber die Leute, die ich kenne, habe ich immer für halbwegs gebildet anerkannt. Und es sind viele unter ihnen, die Umbandist*innen sind und den Kontrollverlust ja über die spirituelle Trance in der religiösen Praxis kennen und am eigenen Leib erfahren, wie passt das zusammen? Ich hatte immer durch meine eigene Erfahrung gedacht, dass diese Entgrenzung der Sinne die einzelnen Personen darin bestärken würden, dass die diese Ambivalenz aushalten könnten. Aber dem scheint nicht so zu sein.

Ich habe alte Briefe von mir und Stefan Gelberg, dem Herausgeber der Kinderzeitschrift ›Der Bunte Hund‹, aus den Jahren 1983 bis 1986 mitsamt meinen Geschichten und Gedichte in einer alten Schachtel gefunden, von denen auch einige veröffentlicht wurden. Ich fühle mich wieder alt und muss schmunzeln, dass ich schon mit 11 Jahren geschrieben habe.

Wenn ich die letzten Tage so überfliege, ist mir mein gewünschter Abstand zu den sozialen Medien nicht gelungen.

Ich mache mir Sorgen, dass auf einmal das ganze öffentliche Leben ganz normal läuft und ich die einzig Blöde bin, die sich da rausklinkt, weil ich meine seltene Autoimmunerkrankung habe.

 

Eine Krise ist eben tatsächlich eine Verstärkung von sozialen Tatsachen, die auch vorher schon galten, aber sich umso deutlicher hervorheben.

 

 

23.5.2020

Irgendwie bin ich jetzt auf den Geschmack gekommen, an Zoom- oder YouTube-Diskussionen teilzunehmen oder Konzerte anzuhören. Ich bin auch etwas ratlos, wie ich meinen Freund*innen gegenübertrete, die mich als hysterisch abstempeln, aber denen ich nicht nur meine eigene Position vermitteln möchte, sondern sie auch gerne etwas zum Denken inmitten dieser Infodemie anregen möchte (Fake News im Familienchat – Was kann ich tun?, vgl. Saal 7.5.2020) – vielleicht kann ich mir dabei Hilfe holen? Das interessante ist ja, dass sämtliche Diskurse umgedreht werden; dass also gerade mir unterstellt wird, dass ich nicht nachdenken würde. Das „alternativ“ von gestern ist etwas ganz Anderes als das von heute (Alternative Liste oder Alternative für Deutschland), auch Widerstand. Das ist verwirrend und sicherlich absichtlich so verwirrend gemeint.

Gestern spät abends habe ich mir auf dem Sofa sitzend ein paar Beiträge der Komischen Oper Berlin angehört; vor allem die jiddischen Lieder haben mir gut gefallen.

Gleich, als ich morgens aufwachte und die neuesten Nachrichten checkte, las ich einen Artikel, der mir aus der Seele sprach, weil er über die Unsichtbarkeit in Pandemie-Zeiten spricht (vgl. Sturm 20.5.2020). Es ist wohl nicht von ungefähr, dass ich mich in dieser Zeit mehr denn je den Schwerbehinderten zurechne. Eine Krise ist eben tatsächlich eine Verstärkung von sozialen Tatsachen, die auch vorher schon galten, aber sich umso deutlicher hervorheben.

Ich habe auch stundenlang mit meinen Eltern telefoniert, die voller Sehnsucht danach sind, uns zu treffen und uns am liebsten morgen zum Essengehen im griechischen Restaurant und nächste Woche zu Pfingsten in der Uckermark treffen möchten… Nun ist es wieder so spät geworden und ich habe es noch gar nicht mit meiner Familie besprochen… Arius Freund Lucas, mit dem er im August auf eine Jugendreise über ›Kinder brauchen Matsch‹ verreisen wollte, möchte die Reise schon absagen, weil Ariu ja nicht mitfahren wird, aber mir ist das alles zu schnell. Irgendwie kann ich gerade nicht planen… wer weiß schon, wie sich alles entwickelt? Ich bin ja dafür, Freund*innen und Familie zu treffen, zu verreisen, in die Welt zu laufen, Grenzen offen zu halten – aber jetzt ganz schnell, alles auf einmal?

Heute ist ohne mein Zutun ein großer, alter Spiegel zerdeppert, als ich auf der anderen Seite im Bad geputzt habe. Er fiel schwer und laut scheppernd an mir vorbei, verletzte mich nicht, aber ist sicherlich über 100 Jahre alt. Veränderung.

 

Jetzt, nur zwei Monate später, kommt mir so viel Ernüchterung entgegen. Es kann alles besser werden, aber eben auch viel schlimmer.

 

 

24.5.2020

Morgen werde ich endlich mal wieder ins Atelier gehen, das nehme ich mir ganz fest vor. Der Maler wird morgens wieder in unser zu Hause kommen und die Flurwände ein zweites Mal dunkelsmaragdgrün überstreichen und der Elektriker wird Spotlights in die neu eingezogenen Rigipsdecke einsetzen; wahrscheinlich werden erst am Dienstag die Türrahmen noch einmal weiß überstrichen, aber nächste Woche wird wohl irgendwann alles fertig sein. Dann ist die Baustelle seit Februar endlich vorbei und wir können erst einmal etwas geruhsamer und ordentlicher wohnen. (Danach fehlt noch die Küche, aber wie wir das praktisch anstellen, ist uns gerade noch ein Rätsel…). Es ist ein Frida Kahlo Stil mit nordischem Touch geworden. Das hatten wir vorher auch schon, aber ist jetzt klarer und stärker. Jamiro wird dann mal alleine mit den Handwerkern hier zu Hause sein und ich werde endlich auch mal beruflich oder irgendwie tätig und nicht nur spazierengehend außer Haus gehen. Mal sehen, ob ich es einhalte…

Mein Eindruck ist, dass wir sehr langsam sind. Irgendwie stört mich die Ruhe der Quarantäne gar nicht, komisch…

Ich lese viel über die Situation in Brasilien und habe große Schwierigkeiten, irgendetwas davon hier aufzuschreiben. Es ist zu groß, zu schrecklich. So viele Tote, so viel Elend, zu viel Zerstörung des Amazonaswaldes. Aber es gibt Politiker wie Haddad, Lula, d’Ávila. Der brasilianischen Familie in Recife geht es gut, sie richten sich mit ihren Familien in der Quarantäne ein, halten zusammen wie wir. Meine Schwiegermutter hat heute, genau wie meine Doktormutter, Geburtstag und alle treffen sich im Chat-Raum. Das ist sehr lustig, alle reden durcheinander und winken einander zu. Je länger das Herumwinken anhält, umso mehr gehen einzelne aus dem Chat heraus und alle reden über Politik und die jeweilige Situation in den respektiven Ländern. Jamiros Schwester Maria lebt mit ihrem Ehemann in Turin in der Nähe von Mailand in Italien, Melina wohnt in Greifensee in der Nähe von Zürich in der Schweiz, Jamiro wohnt mit uns in Berlin in Deutschland, seine Nichte Laura (die Tochter von Maira) wohnt in Paris in Frankreich; alle anderen wohnen in Recife in Pernambuco in Brasilien. Brasilien, Italien, Schweiz, Frankreich, Deutschland. Sonst haben sie sich nicht im virtuellen Chat getroffen, aber jetzt zum Geburtstag ihrer Mutter und Großmutter. Dona Lourdes weint vor Rührung, als wir alle gemeinsam für sie zum Geburtstag singen.

Indien, Südafrika, die USA, Iran… und hier wird über den Sommerurlaub in der Türkei gesprochen; das ist wirklich nicht auszuhalten. Auch wenn ich ein offener, lieber Mensch bin, weiß ich nicht, ob ich solche Leute aushalte, die so arrogant und selbstbezogen sind.

Am Anfang der Pandemie hier in Deutschland im März hatten wir das Gefühl, als Menschheit alle am gleichen Strang zu ziehen und solidarisch zu sein.

„Covid-19 is showing us that when humanity is united in common cause, phenomenally rapid change is possible. […] A few months ago, a proposal to halt commercial air travel would have seemed preposterous. Likewise for the radical changes we are making in our social behavior, economy, and the role of government in our lives. Covid demonstrates the power of our collective will when we agree on what is important. What else might we achieve, in coherency?“ (Charles Einstein 3/2020).

Jetzt, nur zwei Monate später, kommt mir so viel Ernüchterung entgegen. Es kann alles besser werden, aber eben auch viel schlimmer.

Meine Eltern gehen heute Abend in ihrem griechischen Lieblingsrestaurant essen, aber draußen regnet es… Sie werden wohl drinnen sitzen, was wegen Corona nicht so ungefährlich ist. Meine Mutter hat immerhin Parkinson und Asthma, aber was kann ich tun? Nur reden.

„we are also hearing a lot about a “new normal”; that is to say, the changes may not be temporary at all. Since the threat of infectious disease, like the threat of terrorism, never goes away, control measures can easily become permanent.“ (Charles Einstein 3/2020)

Ja… Ich werde hier zu Hause ja genug umarmt, meine Eltern können sich auch gegenseitig umarmen, daher berühren mich diese Geschichten des Fehlens an Umarmungen irgendwie nicht so richtig – und die Singles sind ja auch alle nicht nur dazu gezwungen worden, sondern haben es sich so ausgesucht (vielleicht ist das auch zu kurz von mir gedacht, aber jegliche Lebensform kann genauso gut unglücklich sein wie glücklich, egal, wie sich jede*r es ausgesucht und erträumt hat, das ist natürlich klar) – aber was mich umtreibt ist tatsächlich diese Frage, wie es weitergeht. Ein paar Monate sind total in Ordnung, aber darüber hinaus? Wenn wir jetzt immer in Wellen leben – nicht der Liebe und des Meeres, sondern in Wellen von Krankheit?

 

Gerade wenn sich Menschen ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst sind, bewahren sie Leben – das eine schließt doch nicht das andere aus.

 

Was ich gerade so merkwürdig in den Medien finde ist, dass sich wohl Leute in einem Restaurant und in einer Kirche angesteckt haben, aber nicht hier in Berlin, während sie alle Corona-Partys auf den Wiesen feiern und sich weiterhin in den Supermärkten drängeln? Das verstehe ich nicht. Aber wie Charles Einstein sagt: „What is going on here? Again, I don’t know, and neither do you.“ (ebd.). Genau darum geht es, die Ambivalenzen des Lebens auszuhalten. Vieles zu wissen und vieles nicht wissen zu können.

„I have my opinions, but if there is one thing I have learned through the course of this emergency is that I don’t really know what is happening. I don’t see how anyone can, amidst the seething farrago of news, fake news, rumors, suppressed information, conspiracy theories, propaganda, and politicized narratives that fill the Internet. I wish a lot more people would embrace not knowing.“ (Charles Einstein 3/2020)

Danach kann ich Einsteins Gedankengang nicht mehr folgen. Immerzu diese Bezüge zu außereuropäischen Schamanen; das scheint schick zu sein, um die eigene Position zu untermauern. Das ist doch eine Hypothese und nicht gesagt, dass der Schamane den Tod so einfach hinnimmt, nur, weil er die eigene Sterblichkeit nicht aus seinem Leben ausklammert. Ich würde sagen, dass das Povo de Santo in Brasilien, was ja auch solch eine Schablone für „das Andere“ sein könnte, durchaus Leben bewahren möchte und die Ungerechtigkeit anprangert, dass vor allem die arme Bevölkerung eher stirbt als die reichen Brasilianer*innen. Sie werden nicht einfach Opfer von Machtinteressen und nehmen damit weise den Tod an, so etwas Absurdes!

Mein Eindruck ist, dass diese Argumentation hinkt und irgendwie selbst zusammengebastelt ist. Gerade wenn sich Menschen ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst sind, bewahren sie Leben – das eine schließt doch nicht das andere aus. Das mag für einige wenige stimmen, für andere und die breite Mehrheit aber nicht.

“How much of life do we want to sacrifice at the altar of security? If it keeps us safer, do we want to live in a world where human beings never congregate? Do we want to wear masks in public all the time? Do we want to be medically examined every time we travel, if that will save some number of lives a year? Are we willing to accept the medicalization of life in general, handing over final sovereignty over our bodies to medical authorities (as selected by political ones)? Do we want every event to be a virtual event? How much are we willing to live in fear?“ (Charles Einstein 3/2020)

Vielleicht habe ich in dieser Diskussion um Sterblichkeit und das Bewusstsein um den Tod wirklich etwas nicht verstanden… Ich bin ratlos. Vor allem sehe ich nirgendwo, wovon Einstein schreibt, dass

„Public life, communal life, the life of shared physicality has been dwindling over several generations. Instead of shopping at stores, we get things delivered to our homes. Instead of packs of kids playing outside, we have play dates and digital adventures. Instead of the public square, we have the online forum. Do we want to continue to isolate ourselves still further from each other and the world?“ (Charles Einstein 3/2020)

Natürlich sagt er vieles, was richtig ist, aber im Großen und Ganzen finde ich nicht, dass die Menschen irgendwie unkörperlicher und unkuschliger werden… weder hier zu Hause noch, wenn ich auf die Straße gehe. Mich persönlich nerven eher die ewig drängelnden Leute z.B. beim Einkaufen, weil es doch nichts bringt.

Nun denn, ich finde einfach, dass zwei Monate eine eher kurze Zeit sind, um schon so weit in eine unkuschlige Zukunft zu sehen. Irgendwie macht mir das weniger Angst als die politischen Bewegungen weltweit. („After thousands of years, millions of years, of touch, contact, and togetherness, is the pinnacle of human progress to be that we cease such activities because they are too risky?“ ebd., das klingt irgendwie sehr pathetisch, oder?)

Spielplatz im Volkspark Wilmersdorf, Foto: ISdS.

Die Krönung seines Denkens scheint dann aber doch die Solidarität zu sein… Ich lese weiter. Zwischendurch fand ich das Lesen etwas anstrengend, aber jetzt wird es wieder interessanter. Verletzlichkeit, Mitgefühl. Huch, welche Wendung! Solidarität, Heilung von Trauma. Ok, da kann ich dann doch mitgehen. „At each junction, we can be aware of what we follow: fear or love, self-preservation or generosity.“ (ebd.). Hm, wieso sollte das ein Gegensatz darstellen? Sollte es nicht ›Angst und Liebe‹ statt ›Angst oder Liebe‹ heißen? „These are not all-or-nothing questions, all fear or all love. […] It treasures life, while accepting death.“ (ebd.). Dann ist die erste Frage falsch gestellt…

„[…] terrain of separation and trauma: inherited trauma, childhood trauma, violence, war, abuse, neglect, shame, punishment, poverty, and the muted, normalized trauma that affects nearly everyone who lives in a monetized economy, undergoes modern schooling, or lives without community or connection to place.“ (Charles Einstein 3/2020)

Und weiter: “The popular name for the pandemic offers a clue: coronavirus. A corona is a crown.” (ebd.). Interessanterweise heißt die Initiation in der Umbanda Krönung, aber das nur nebenbei.

Nun, diesen Text muss ich erst noch verdauen. Die Hausaufgaben von Ariu stehen an, Insekten für Nawi und Englisch, heute gibt es eine Zusammenfassung des Films ›Green Book‹, den wir bereits auf Englisch angesehen haben, gleich sehen wir ›Amistad‹. Englisch üben.

Die Apotheke, an der wir gestern vorbeigegangen sind, hatte draußen ein Schild aufgestellt, worauf zu lesen war: „Abstand hat nichts mit Distanz zu tun. Wir sind weiter für sie da“. So sehe ich das auch.

 

Optiker am Rüdesheimer Platz, Foto: ISdS.

25.5.2020

Bis ungefähr 13 Uhr bin ich so träge gewesen, schrecklich. Jamiro wollte dann wegen irgendetwas zum Atelier gehen und ich bin mitgegangen. Ich habe gerade ein überlebensgroßes Bild angefangen, was schon sehr gut aussieht, nur müsste ich weiter malen. Morgen?

Wir haben eines von Jamiros abstrakten Bildern mit nach Hause genommen und an die neue grüne Wand gehängt, sieht wunderbar aus. Langsam kleidet sich unsere Wohnung neu. […]

 

26.5.2020

Ich möchte meine Eltern wiedersehen, tue es ja auch immer wieder kurz. Aber dennoch, ich würde gerne mit ihnen nach Polßen in die Uckermark fahren, wo sie ihr Ferienhäuschen haben, einfach Zeit verbringen, stundenlang spazieren gehen, reden.

 

27.5.2020

Gestern Abend habe ich zwar keine offizielle, aber eine inoffizielle Absage (über meine Doktormutter) auf meine letzte noch offene Bewerbung an der Humboldt Universität erhalten; jetzt kann ich mich kaum mehr motivieren, weiter zu arbeiten (immerhin habe ich einem Vortrag der Theologischen Sozietät zugesagt…). Eigentlich steckt den ganzen Tag ein Kloß in meinem Hals, aber ich weine nicht. […]

Ich will mich ja nicht beschweren. Ich lebe nicht in unberechenbaren und trostlosen Zuständen, sondern recht gut. Aber es kostet mich immer wieder so viel Kraft, weiterzumachen. Wenn ich ganz frei wäre und es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe, würde ich womöglich wieder Gedichte schreiben. Heute, da ich ja herumprokrastriniere und nun meine vielen alten Ordner aussortiere – bzw. es nicht schaffe, sondern nur mal hier und mal da einen Text aussortiere und alles andere behalte (es ist zum Haare raufen!) – habe ich alte Gedichte und Geschichten von mir gefunden; sehr schön.

Inmost seclusion

As her eyes sink inward

her smile seems flowing away

on a tranquil pond

in the middle of her heart

with tears dropping slowly

endlessly

on the clearblue water

of her soul

leaving widening rings

(1989)

oder:

ich

bin

stummlos

mundtot

die

stummheit

möchte

aus

mir

herausfallen

(auch so ca. 1990)

Oder

Dunkel

Es ist nachts

ein einziges tiefdunkles Nichts

mit Sternen am Himmel

und Wind im Gefühl

Genau nach Wind fühle ich mich

Er zerbläst mir die Haare

zerbläst mir die Gedanken

nimmt mich mit

damit ich nirgendwo hingehöre

und niemand mich erreichen kann

Frei-heit, Frei sein. Frei

Und allein

(1989)

Etwas kitschig, aber passend für eine 18-Jährige, oder?

 

28.5.2020

Ariu wird wieder einen Englisch-Test über sein Handy (mit einem mir unbekannten Anbieter statt Zoom haben, den Ariu von seiner Schule erhalten und installiert hat) machen, während die anderen dies vor Ort in der Schule tun. Seine Lehrerin hat sich so freudig bei mir wegen der vielen gut gemachten Hausaufgaben bei mir gemeldet, was mich wirklich sehr freut. Er hatte sonst jahrelang eine 5 auf dem Zeugnis (seine einzige, sonst hat er 2en und 3en…) und hätte wohl auch vorher schon diese intensive Unterstützung durch mich benötigt. […]

Heute habe ich mir auch noch einmal den Anfang des Vortrags von Professor Grünschloss der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen angehört, den er im Rahmen der virtuellen Ringvorlesung ›Ein Virus verändert die Zeit‹ auf YouTube ins Netz gestellt hat und in dem er auf die spirituell basierte Resilienz eines esoterischen Umgangs mit der Corona-Pandemie eingegangen ist (vgl. Grünschloss 18.5.2020) und den ich vor rund 10 Tagen schon einmal angehört hatte. Er kommt meinen Erfahrungen, wenngleich nur aus der isolierten Quarantäne-Situation heraus und nicht im direkten persönlichen Austausch mit den religiösen Akteur*innen, nahe. Ich kann ihn ja eventuell als Referenz für meinen Vortrag für die Theologische Sozietät von Professor Feldtkeller verwenden.

 

29.5.2020

Ariu hat eine 1- in seinem heutigen Englisch-Test über Video-Call geschafft!! Wow! Von einer 5 auf eine 1. Und jetzt muss er noch ein Insekt basteln, nachdem ich nun mit ihm alles über Bienchen, Ameisen und Insekten und Spinnen gelernt habe… Morgen werde ich wohl endlich meinen Vortrag schreiben und einspielen müssen, zumindest es mal technisch durchspielen, da ich in zwei Wochen dran bin… Pfingsten fällt aus!

 

30.5.2020

Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn alles anders wäre. Wenn es keine Pandemie gegeben hätte, würden wir jetzt schon an der Kohlbatzer Mühle sein und mit unseren Freund*innen und anderen als Familie zelten, gemeinsam grillen, paddeln, die Zehen in den Sand wühlen, zusammen am Lagerfeuer zur Gitarre brasilianische Lieder singen. Wie letztes Jahr zu Pfingsten.

Jetzt sitze ich auf dem Sofa und frage mich, ob nicht doch ganz viele andere schöne Dinge tun und nur wir hier blöd herumsitzen. Da wir diesen kleinen Ausflug ins Umland abgesagt haben, haben auch alle unsere Freund*innen abgesagt, so ist es nicht. Immerhin ist es ein Bekanntenkreis mit vielen Brasilianer*innen, die schon lange oder kurz hier in Berlin leben und den Kopf nicht in den Sand stecken, sondern durchaus global gut informiert sind. Vielleicht sollten wir gerade jetzt den Frühling und Sommer genießen, um uns auf einen Herbst und Winter drinnen vorzubereiten, wenn alles noch gar nicht ausgestanden ist.

Vielleicht hatten wir ja schon Corona, als ich ganz am Anfang der Pandemie eine dicke Erkältung mit Halskratzen (aber ohne Fieber und Geschmacksverlust) mit aus Bayern mitgebracht und meine Familie mit angesteckt habe? Wir wollten uns testen lassen, die Techniker Krankenkasse hat uns das dann auch sogar empfohlen, aber die Teststellen in Berlin haben uns abgewiesen.

Wenn ich die Übergangsstelle für ein Jahr bekommen hätte, sähe auch alles anders aus. Ich könnte die Gardinen für Ariu kaufen, die er sich wünscht. Die neue Lampe für den Flur. Wir könnten überlegen, ob wir doch für eine Woche in den Sommerferien nach Graal-Müritz an die Ostsee fahren würden – oder auch woanders hin, raus? So erledigt sich das gleich zwei Mal; Pandemie und kein Geld. Ich kann stattdessen endlich mal die Räder meines Fahrrads aufpumpen lassen und wir fahren mit den Rädern zum Grunewald.

Vielleicht sollte ich das nicht tun, nicht so nostalgisch und sehnsüchtig sein, sondern einfach das wahrnehmen, was gut ist. Eine frisch renovierte Wohnung mit einer neuen Küche in Aussicht, eine lustige Familie, ein Atelier gleich um die Ecke, Vorträge in Aussicht – dieses Mal anders, aber sicherlich sehr interessant vorher gefilmt und dann über Zoom besprochen, einen kochenden Ehemann, einen schulisch aufblühenden Sohn dank meiner Aufmerksamkeit und praktischen Schulhilfe. Ich sollte einfach jetzt, wo wieder Platz in der Wohnung ist, zu Hause Sport machen (habe ich noch nie, deswegen habe ich mich dazu immer verabredet…). Jamiro und Ariu machen Männersport, Liegestützen…, da passe ich nicht dazu.

Wieso bin ich so schlecht gelaunt? Ich bin so frustriert und muss diese Energie loswerden.

Ich bin doch trotz allem privilegiert. Mich bringt niemand auf der Straße einfach so um, weil ich Schwarz bin, weil ich Weiß bin. Es ist, als hätte ich meine Doktorarbeit vorausschauend geschrieben. Trauma als Wissensarchiv. Die alten Geschichten, der alte Hass, die Traumen, brechen hervor. Arius gestriger Englischtest ging über Rosa Parks Bus-Boykott in Alabama, über Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1960er Jahren. Wir haben gemeinsam den Film „Mississippi Burning“ gesehen¸ auch „Green Book“.

Birgit Meyer meldet sich nicht wegen des dritten Gutachtens. Vielleicht ist sie anderer Meinung?

Wenn schon die Frauenförderung meine Bewerbung ablehnt, wie wird es dann mit der DFG aussehen? Habe ich überhaupt eine reelle Chance? Regina meint ja.

Meine Mutter meint, ja, viele Wege hast Du nicht mehr. Du bist einfach zu unpraktisch, um einen dieser gewöhnlichen Berufe aufzunehmen. Das finde ich ja sympathisch, dass sie das so sieht.

Als ich früher wegen der Geburt von Ariu arbeitslos war, musste ich immer diese endlos langen Fragebögen vom Arbeitsamt ausfüllen, wo unter „Fähigkeiten“ immer eine dünne, kleine Zeile frei war. Da schrieb ich immer „malen und schreiben“ hin, für mehr war eh kein Platz da und es war den Bürokrat*innen eh nur wichtig, dass die Lücke ausgefüllt war, egal, was ich hingeschrieben hatte.

Meine Eltern wollen uns am Montag in ihr griechisches Lieblingsrestaurant einladen, wo wir regelmäßig gemeinsam essen waren, und draußen mit Abstand mit uns sitzen. Jamiro und Ariu sind dagegen, weil wir dafür ja in einen Bus steigen müssten. Wir könnten natürlich mal hier bei uns um die Ecke essen gehen, aber das wollen meine Eltern wahrscheinlich nicht… Das ist alles sehr kompliziert…

Später: Ich habe mir eine App auf mein Handy geladen und meinen Sohn als Personal Trainer organisiert und eine Stunde Gymnastik gemacht, das hat gutgetan. Mein Mann hat eines seiner brasilianischen Lieblingsessen, Cozido com Pirão, für uns gekocht, Beinscheibe mit Aubergine, Spitzkohl, Kürbis, Kartoffeln, Paprika und Brokkoli gedünstet, dazu Reis und einen angedickten Mandiokamus. Ich habe es vegetarisch gegessen, weil ich diese Beinscheibe nicht mag, aber es war gerade so sehr köstlich.

Meine Mutter erzählt mir am Telefon auf einmal ganz zusammenhangslos von der Spanischen Grippe, die meine Urgroßmutter Hermine 1919 noch miterlebt und dank Ihrer Vorsorge auch überlebt hat. Nach dem Ersten Weltkrieg, als schon so viele Menschen ihr Leben gelassen haben, kam auch noch dieses Massensterben durch eine Pandemie daher. Sie forderte mehr Menschenleben (50-100 Millionen Menschenleben weltweit) wie es der Erste Weltkrieg gefordert hatte (17 Millionen) … Danach lese ich etwas darüber: Sie ist wohl von China (so Wikipedia, vgl. Wikipedia Spanische Grippe 30.5.2020) oder den USA (so meine Mutter, aber auch später im Artikel Wikipedia) ausgegangen, erschien mit ersten Opfern in Europa in Spanien (deshalb ihr Name) und sollte durch diese Regionalisierung auch in ihrer Ausbreitung vertuscht werden. Sie verlief über drei Wellen; eine Frühlings- und eine Herbstwelle und dann noch lokale Herde.

Das war ja in dem Jahr, als es die erste Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Republik in Deutschland gegeben hat.

Es geht mir gut und es geht mir nicht gut, beides stimmt. Das scheint so ein Grundtenor meines Lebens zu sein, diese Ambivalenz. Ich sehe die Schönheit und das Grauen, immer beides gleichzeitig.

 

Um Ostern kam dann in einer zweiten Phase die Einsicht, dass es sich nicht nur um eine Zäsur handelt, sondern dass dieser Zustand erst einmal anhält und vielleicht auch wirklich nachhaltig die Welt ändert.

 

 

31.5.2020

Morgen gehen wir am Pfingstmontag mit meinen Eltern essen! Da der Landauer am Rüdesheimer Platz (in Wilmersdorf bei uns um die Ecke) nur drinnen und nicht draußen reserviert, werden uns meine Eltern doch mit dem Auto abholen und wir fahren gemeinsam zum griechischen Restaurant in Charlottenburg und essen draußen. Ich bin die Coolste, Ariu der Vorsichtigste. Er besteht darauf, nur mit Maske und offenen Fenstern im Auto mit seinen Großeltern zu fahren.

Ich sehe uns zu wie in einem Film, wieso ist das so? Hat es ihn so tiefgreifend geprägt, mit einer kranken und behinderten Mutter aufgewachsen zu sein? Wenn ich ihm zuhöre, scheint es so zu sein, weil er sich noch immer an alle Details daran erinnert, wie ich wegen meiner Operationen im Krankenhaus war und er mich als Vier- und Sechsjähriger so sehr vermisst hat.

Ansonsten ist er sehr lustig. Dass ich ihn als Personal Trainer benannt habe, fand er klasse und ist wirklich ermutigend und lieb. Da ich vorher ja schon recht viel Sport getrieben habe, fünf Mal die Woche, läuft auch alles sehr gut.

Heute ist der letzte Tag meines Tagebuchs im Mai, dann habe ich fast drei Monate mein Corona-Tagebuch geführt (weil ich ja erst am 19.3. angefangen habe). Wenn ich jetzt zurückblicke, würde ich diese Zeit in Wellen oder Phasen unterteilen:

Zuerst die Retraumatisierung durch den so plötzlichen Lockdown als sogenannte „Risikoperson“. Das Unsichtbare bricht ins eigene Leben ein, von außen kommen Zuschreibungen von „Angst!“ und im gesellschaftlichen Raum von Solidarität. Ich habe mit einer selbstverordneten und vor dem offiziellen Lockdown beginnenden Quarantäne reagiert.

Finanziell hat uns der Corona-Zuschuss gerettet. Da wir ja kaum Geld ausgeben außer für die Miete und den Supermarkt, leben wir immer noch recht gut davon. Zu Hause war die oberste Priorität, dass alle friedlich und nett miteinander umgingen – was erstaunlicherweise auch klappte. Jeder tat, was er wollte und wie lange er wollte. Tag und Nachtzeiten wurden durcheinandergewirbelt, jeder hat ausgiebig gelesen und gespielt und wir haben auch ausgiebig gekocht.

Um Ostern kam dann in einer zweiten Phase die Einsicht, dass es sich nicht nur um eine Zäsur handelt, sondern dass dieser Zustand erst einmal anhält und vielleicht auch wirklich nachhaltig die Welt ändert. Es kamen so viele positive Gedanken in meinem Umfeld auf, weil klar wurde, was für eine Kraft die Menschheit gemeinsam entwickeln kann. Gleichzeitig kippte es aber in die entgegengesetzte Richtung, da die Krankheitsentwicklung von China aus über Europa nun auch die Amerikas – die USA, Brasilien und andere Länder – packte und dort umso heftiger wütet. Meine persönliche Reaktion waren ausgedehnte und sehr schöne Spaziergänge in der unmittelbaren Umgebung, die ich entgegen des allgemeinen Verhaltens immer mit Mundschutz und Abstand zu anderen umsetzte. Die Aufgaben aus der Schule wurden anspruchsvoller und nahmen mehr Zeit ein, gaben auch Raum für lange Unterhaltungen und lustige Hausaufgaben-vor-Mitternacht-Aktionen als Countdown der Pünktlichkeit mit Vanilleeis und frischen Erdbeeren. Sie resultierten darin, dass sich Ariu zu einem Schüler mit richtig guten Noten entwickelte.

Dann – wann war das genau? – kamen in einer dritten Phase die Wutbürger zum Vorschein, die Leugner:innen und gleichzeitig auch die Rassist*innen – zeitgleich mit den öffentlichen Lockerungen. Auf einmal redeten die wenigsten mehr von Gesundheit und alle über die Wichtigkeit der Wirtschaft.

Dabei gucken wir gerade alle neugierig in den Sommer und hoffen, dass der Spuk nun doch vorbei sei. Darin mischt sich für die, die nicht wütend werden, Nostalgie, Wehmut und Sehnsucht nach einer Zeit, wie sie war und nicht zurückgeholt werden kann. Meine verloren geglaubten Freundinnen melden sich wieder mit Nachsicht und wollen mich mit allem Respekt vor meinen Entscheidungen, die sie anfangs so sehr verurteilt haben, in die Welt hinauslocken. Für mich wird diese Krisensituation sich wahrscheinlich erst ändern, wenn bzw. falls ich eine neue Arbeit habe. Momentan ist es für mich eher schwer, da einen klaren Abschluss zu finden, da es Corona ja durchaus noch gibt und sich eben an meiner Lebenswirklichkeit gerade gar nichts ändert. Nicht einmal meine Disputation ist mir richtig bewusst, obwohl ich die ganze Zeit unter Strom stehe…

Wieso bin ich keine Aufbegeherin und anfällig für Verschwörungstheorien? Das wundert mich schon, immerhin komme ich aus solch einem Freundeskreis… Scheinbar klappt mein normaler Menschenverstand noch und außerdem könnte ich nie sagen, dass ich „das Recht habe, auch den Virus zu bekommen“, weil ich weiß, wie es ist, schwer krank zu sein. Nein danke, lieber nie wieder!

[…]

Irgendwie hat mir der Rückzug gutgetan, aber ich möchte auch wieder raus – vielleicht und wahrscheinlich anders, aber ich möchte gerne teil am gesellschaftlichen und akademischen Leben haben. Ob mir das vergönnt ist?

„It is no shock that universities were unprepared for the problems of illness and disablement that they routinely disavow, through a multitude of individualistic policies, processes and practices which render questions of inclusion as bothersome ‘special needs’. Now, as we move inexorably towards a reorganised model of HE, it is already clear that disabled people, as the smallest and most under-employed group in HE, and other marginalised groups who tend to predominate in the temporary or casualised HE workforce (AdvanceHE, 2019) are, or will be, the first to be pushed out. Yet more knowledge disappears.“ (Wilde / Ryan / Woodin 21.5.2020)

Hoffentlich nicht!

 

1.6.2020

Unser erster Gang ins öffentliche Leben war eigentlich eher skurril, weil sich alle außer uns irgendwie wie auf einem außerordentlichen Trip befanden, frei und lustig, und im Charlottenburger Kiez im griechischen Restaurant Santorini die Gehwege mit dichtbesetzten Tischen bevölkerten und tellerweise Gyros, Souvlaki und Moussaka aßen, wir auch. Retsina, Ouzo dazu, Salate als Vorspeise, Eis als Nachspeise, ein üppiges Leben. Keiner trägt Mundschutz, auch die Bedienung nicht.

Meine Eltern beschwichtigen uns die ganze Zeit, dass die Toten auf der Welt nicht so dramatisch seien wie es klingen würde, weil die Zahlen ja alle prozentual zu verstehen seien. Jamiro und Ariu waren sichtlich distanziert, unterhaltsam und freundlich, aber eben auf Abstand bedacht.

Die Leute sind wie beschwipst vom Leben, übermütig, privilegiert oder sich privilegiert fühlend, achtlos, haltlos.

 

2.6.2020

Nachdem wir uns erfolgreich durch das Schuljahr gefunden haben, stoßen wir auf ein fächerübergreifendes Projekt über Corona! Dafür gibt es etliche Filme auf dem Padlet, u.a. von „Mr. Wissen to go“ (Was für ein Name! Ariu kennt ihn schon und findet ihn gut) sowie Professor Martin Lindner, der über Seuchen erzählt (wo Ariu wegen des bebrillten älteren Herren sofort abdreht und keine Lust hat, überhaupt die ersten fünf Minuten anzuhören…), auch einen Bericht über die Spanische Grippe (Max Weber ist wohl daran gestorben) (vgl. Schneider 2.5.2020) und einem Corona-Tagebuch! Tja, so fleißig und eigenständig ist Ariu dann wohl nicht gewesen, als dass er das schon vorher entdeckt hätte… ist bis Freitag zu erledigen.

Ich mache mit bei den schwarzen Bildschirmen auf Instagram und Facebook für den ermordeten Afroamerikaner George Floyd.

 

Vielleicht ist es gut, wenn ich es erst einmal hier in mein Tagebuch schreibe, damit es einen Schritt weiter in meiner inneren Verarbeitung geht.

 

 

3.6.2020

Heute war ich vier Stunden virtuell in einem Zoom-Workshop über „Audismuskritisch denken lernen. Vom Privileg zu hören“ von Diversity Arts Culture (worüber ich schon vor einiger Zeit im Tagebuch geschrieben habe). Es hat super geklappt, technisch mitsamt meiner über den Streamer verbundenen Hörgeräte an meinen Laptop. Als ich es meinem Vater erzählte, redete er gleich über das gängige Vorurteil, dass derartige Veranstaltungen ja so unpersönlich und schwierig seien (das muss er wohl so gelesen haben, da er selbst ja nicht in Zoom-Räume geht), aber dem muss ich wirklich widersprechen. Ich sehe die gleichen Chancen und gleichen Probleme wie im Face-to-Face-Kontakt, nur, dass sich die Positionen etwas verschieben.

So gab es wie immer bei derartigen Workshops eine Einleitung der Kursleiterin (eine gehörlose Frau, deren Gebärdensprache uns Unkundigen von Dolmetscherinnen tonal übersetzt wurde), dann eine Vorstellungsrunde (jeder spricht in seinem kleinen Kästchen auf dem Bildschirm), mehrere informative Vorträge von Silvia Gegenfurtner, drei kleinere Gesprächsrunden (wofür wir automatisch in verschiedene Gruppen von je vier Personen zugeteilt wurden), Feedback. Neben dem Ablösen in der Redefunktion, die eben immer als Kästchen auf dem Bildschirm erschienen, gab es auch die Möglichkeit, etwas in den Chat zu schreiben.

Das funktionierte alles wunderbar und war auch recht emotional. Ich verstehe ja die Argumentation gar nicht – sonst ist es doch oberstes Anliegen, dass es eben nicht emotional zugehe… Sicherlich gibt es sonst Pausen, in denen die Beteiligten miteinander essen oder einen Kaffee trinken gehen, was es eben persönlicher macht, aber sonst ist es ein geschützter und offener Raum zum Reden.

Ich bin die einzige Taube Person neben der Vortragenden und Kursleiterin inmitten einer Gruppe von hörenden Teilnehmer*innen gewesen, die diesen Kursus für das Jüdische Museum, das Schwule Museum, die Freie Universität und ihre Kunstpraxis im Bereich der Bildenden Kunst und als Choreographin von Tanz und Theater nutzen wollten und teilweise aus einer queeren Kulturszene kamen.

Ich habe mich so kompetent, geachtet und gut gefühlt und musste daran denken, dass eine Freundin am Anfang der Pandemie zu mir sagte, dass ich mich wohl mit allem überfordert fühle… Wahrscheinlich hat sie Recht, da ich nicht den ganzen Tag hören kann, sondern auch Pausen vom Hören brauche, die ich zu Hause ja durchaus habe.

Ich kann mich ruhig Taub mit einem großen „T“ nennen und muss mich nicht so zieren. Sicherlich wird das bei hörenden Personen auch wieder zu Unverständnis beitragen, da sie sagen werden, dass ich doch höre und für sie „ganz normal“ bin, aber eigentlich passiert das ja mit jedem oder auch in der Abwesenheit von Worten, also bin ich doch ziemlich frei in der Wahl.

Ich sitze morgens auf dem Balkon und schreibe auf meinem Laptop. Die Vögel – Kohlmeisen und Spatzen – kommen immer wieder angeflogen, um sich Futter zu holen oder ihre Jungen im Vogelhäuschen zu füttern (ist das jetzt schon die zweite Generation oder bleiben sie tatsächlich sooo lange da drin? Muss ich echt mal nachlesen…) und sind dann ganz überrascht, dass ich hier sitze. Dann fliegen sie weg, kommen aber immer wieder, sehr niedlich ist das. Wenn wir hier draußen essen, fliegen sie dann doch einfach irgendwann ins Häuschen, da wir ihnen ja augenscheinlich nichts tun.

Einige Freundinnen haben jetzt ganz lieb bei mir nachgefragt, ob ich wieder rausgehe und Leute treffe – und ob wir uns treffen wollten. Drei möchten mit mir in den Wald, eine andere, um eine gerade in Berlin gestrandete Mãe-de-Santo aus Brasilien zu treffen. Ich habe solche große Lust und würde sonst einfach gehen. Nun hocke ich hier aber zu Hause so nahe mit Jamiro und Ariu zusammen, die das beide vollkommen unmöglich finden. Da ich immer Christian Drostens Podcast höre, denke ich, dass wir es im Somme ruhig mit einzelnen bedachten Ausflügen versuchen sollten, um dann für den Herbst und Winter gerüstet zu sein. Ich meine damit keine U-Bahnfahrten zu Stoßzeiten, sondern bedachte Ausflüge mit dem Fahrrad und draußen spazierengehend. Ja. Vielleicht ist es gut, wenn ich es erst einmal hier in mein Tagebuch schreibe, damit es einen Schritt weiter in meiner inneren Verarbeitung geht. Ariu ist ja immer sowieso offen, aber Jamiro reagiert schon eher heftig. Er geht ja raus, einkaufen und ins Atelier. Er hat auch Sehnsucht danach, im See schwimmen zu gehen, zu verreisen, aber es hält ihn trotzdem die Vorsicht davon ab. Von welcher Seite lasse ich mich gerade mehr beeinflussen? Vorher hatten wir ja auch andere Vorstellungen, aber dann habe ich einiges einfach getan und nicht viel darüber geredet – wie Leute treffen, die er sowieso blöd (weil sie in seinen Augen oberflächlich sind) findet. Mir ist das schnuppe, da ich Freundschaften auch einfach pflege, weil ich bestimmte Menschen mag; nicht, weil sie intelligent sind.

Hm… Irgendeinen Weg müssen wir für diesen Sommer finden. Noch ist Schulzeit, noch ein Haufen zu erledigen. Ich muss auch meine berufliche Situation klären – habe jetzt doch alle Unterlagen für eine „Eigene Stelle“ bei der DFG gesichtet und fülle sie nach und nach aus. Was kann ich schon verlieren? […]

Abends gab es dann, nachdem ich mit Ariu mal warm zu Mittag (und nicht erst abends) Spaghetti Bolognese auf dem Balkon gegessen habe, ein großes Omulu-Ritual, von zu Hause aus, bei dem wir uns mit dem Ritual vor Ort in Köln verbinden durften.

Am Mittwoch, den 03.05.2020 ab 18 Uhr-21 Uhr findet eine Arbeit für Omulu statt. Teilnahme nur von zu Hause. Bitte verbindet Euch um 18 Uhr mit uns. Zündet eine schwarze und eine weiße Kerze (alternativ nur eine weiße Kerze) an. Betet und singt für Omulu. Lasst die Kerzen bitte abbrennen. Wer namentlich in die Arbeit aufgenommen werden möchte, der wird gebeten, sich per Mail oder telefonisch bei uns zu melden.

Casa St. Michael – Haus des reinen Wassers.

Vielleicht wird da ja auch beibehalten, obwohl ab Juni wieder Rituale mit Gästen in Köln mit Maske und Mindestabstand stattfinden werden? Wie das bei einer Religion mit Inkorporationen funktionieren kann, ist mir zwar ein Rätzel, aber interessant. Terra Sagrada lässt wohl noch keine Rituale stattfinden. Es gab auch ein Gebet dafür:

GEBET für Abaluaê/Omulu

A totô, Abaluaê!

Lieber Vater Abaluaê!

Du bist der König der Erde, der Herr der Krankheiten und der Heilung.

Bitte heile meinen Körper, meine Seele und meinen Geist und erhalte sie gesund.

Segne mich, damit negative Gedanken, Worte und Gefühle in meinem Leben keine Kraft mehr haben.

Segne mich, damit ich nicht mehr aus dem Schmerz und der Negativität heraus handele.

Segne mich, damit ich dem Leben keinen Widerstand mehr entgegensetze.

Lieber Vater Abaluaê, hilf mir, die göttliche Gegenwart in mir und in meinen Mitmenschen wahrzunehmen und zu begreifen,

dass ich Licht bin und dieses Licht meinen Mitmenschen zur Verfügung stellen kann. Zum Wohle aller!

Danke, mein Vater!

Axé!

Der Pai de Santo Alexandre von Mãe Gabriele hat auf Facebook eine Diskussion in den Raum geworfen, weil er seine Umbanda als antifaschistisch benennt. Ich finde das wunderbar. Ich bin ganz der Meinung, dass es unmöglich ist, gleichzeitig umbandistisch und faschistisch zu sein – das ist ein Grundsatzthema und keine Auseinandersetzung mit verschiedenen politischen Positionen.

 

4.6.2020

Ariu muss bis morgen sein Corona-Tagebuch für die Schule abgeben. Er hätte es tatsächlich auch täglich schreiben können – was ich vor drei Monaten schon mit ihm vorhatte, aber da kam zu viel Widerwillen entgegen, dass ich es nicht ermöglichen konnte – aber eigentlich ist es doch etwas Anderes – und darin auch sehr gut und interessant, weil lauter kleine Fragen an die Schüler*innen gestellt werden, emotionaler, politischer, gesellschaftskritischer, humaner, alltäglicher Art. Ich habe ihn also interviewt. Dazu kommen viele Videos von „Mr. Wissen to go“, wie ihn Ariu nennt, der auch einen richtigen Namen hat.

Unisono kam bei ihm heraus, dass er total gechillt ist und sich der Aufmerksamkeit durch mich erfreut. Das ist schön und ist auch traurig. Schön, weil er so entspannt auf diese Quarantäne-Zeit reagiert und traurig, weil sich darin so viel Sehnsucht zeigt. Sonst hatte ich wegen des alltäglichen Stresses eben nicht die Kraft und Zeit dafür, ihm diese Aufmerksamkeit zu geben. So ist diese Situation hier zu Hause eigentlich für uns alle sehr gut. Da steckt schon etwas Ironie darin. Wo ja alle so sehr über das Eingesperrtsein schimpfen und sich nach Umarmungen sehnen; sich unmündig fühlen… da passiert bei uns das Gegenteil; endlich können wir uns in uns und unsere innere Kraft zentrieren und müssen unsere Energie nicht immer nach außen abgeben, dem Druck von außen, den Erwartungen von anderen.

 

5.6.2020

Ich muss das einfach mal zitieren, sonst glaubt mir womöglich niemand:

„Merkel kündigt jahrelange Masken- und Abstandspflicht an! Ich wollte eigentlich nichts mehr zu diesem Thema schreiben, aber seit Frau Merkels Interview heute sollte auch dem Letzten klar geworden sein, was hier läuft.

Machtausbau der globalen Eliten und totale Kontrolle.

Hier ging es zu keinem Zeitpunkt um irgendein Virus. Wer das noch nicht verstanden hat, dem kann man nicht mehr helfen.

Insbesondere richte ich mich mit diesem Posting an diejenigen, die immer noch dieses Virusmärchen glauben oder glaubten.

[…]

Keine Impfplicht? Das ist gelogen. Alleine die Aussage, dass wir Masken tragen sollen, bis ein Impfstoff oder ein Medikament zur Verfügung steht, widerlegt das bereits.

Und all diese sinnlosen „Auflagen“ und „Maßnahmen“ beweisen es.

Wir stehen in der Tat erst am Anfang. Aber nicht am Anfang einer Epidemie oder gar „Pandemie“, sondern am Beginn einer katastrophalen Entwicklung – falls die Weltbevölkerung das hinnimmt.

Ich habe von Anfang an gesagt, messt sie an ihren Taten, nicht an ihren Worten. Und die dauerhafte Beseitigung der Grundrechte ist nun ein Fakt. Wir haben nun seit 39 Tagen Maskenpflicht, ich werde weiterhin keine tragen und den Konsumboykott fortsetzen, für alle, was mit Masken und „Hygienemaßnahmen“ zusammenhängt.

Seit 3 Monaten werden die Kinder von Bildung ferngehalten und gleichzeitig traumatisiert.

Wie lange noch?“ (Conny Tulke, 4.6.2020, gepostet um 23:25, Facebook)

Totale Kontrolle über Mundschutz? […] oder habe ich es falsch gelesen?

 

6.6.2020

Bis morgen muss ich meinen Vortrag für die Theologische Sozietät fertig haben… Es ist noch etwas Puffer da, alle sind total liebevoll, aber es war ja wirklich meine Idee, als Erste zu sprechen, um über meinen eigenen Schatten zu springen. Hab zu tun…

 

7.6.2020

Apuan hat ein paar Deutschnoten für sein Home Schooling erhalten: eine 1 und zwei 1+. Und wir haben seinen Insekten-Ordner nun doch ganz fertiggestellt mitsamt selbst gebasteltem dadaistischem Insekt sowie sein Corona-Tagebuch.

 

8.6.2020

Wie immer vor Vorträgen habe ich die größten Zweifel an meinen Gedanken, es ist zum Heulen. Aber das muss ich jetzt durch…

 

9.6.2020

Meine Ankündigung für den Vortrag auf der Theologischen Sozietät von Professor Feldtkeller steht, auch der Vortrag selbst – jetzt muss ich ihn nur noch aufnehmen. Ich erhalte keine Antwort auf meinen Werkvertrag und auch keine offizielle Absage auf meine zweite Bewerbung bei der Frauenförderung der HU, auf die erste auch nicht… das macht mich wirklich fertig, immerhin hängt mein Alltag, mein Leben, mein Wohlbefinden und meine Kreativität zu denken davon ab. Ich kann die Quarantäne, das Home Schooling und das Zusammensein mit meiner Familie auf engem Raum alles gut verarbeiten und entgegen der allgemeinen Tendenz für gut befinden, alles blüht und gedeiht hier zu Hause, aber diese Nicht-Achtung kann ich wirklich nicht nachvollziehen. Wo bleibt da die Intersektionalität und Frauenachtung?

Derweilen lese ich die vielen Kommentare auf Ydraggsil über den Mittelbau, sehr erbauend. Ja, vielleicht bin ich ja gar nicht tauglich.

 

10.6.2020

Ich habe meinen Vortrag über religiöse Visionen und gesellschaftliche Transformation für die Theologische Sozietät im Kasten bzw. im Internet und Ariu hat 4x eine 1+ für Ethik, Geschichte, Politik und Geographie!

Spontanes Arrangement auf der Straße, Foto: ISdS.

 

11.6.2020

Heute war ich nach so langer Zeit endlich mal wieder im Atelier und habe gemalt. Und jetzt weiß ich auch, warum – der Druck wegen Arius Hausaufgaben ist weg, bald kommen die Zeugnisse und die Sommerferien. Das war eine schöne Zeit mit ihm, aber ich fühle mich schon ziemlich befreit. Und Regina gibt mir einen Werkvertag bis September.

Ich bin nicht in Schreiblaune. Diese Ruhe der letzten Monate war eigentlich genau das gewesen, was ich mir die ganze Zeit gewünscht habe (ohne Tote natürlich).

Gleich gibt es ein Ritual für Oxum und Iansã.

Das Gebet für Iansã

Èpà Hey Iansã | Veränderung: deine Wege sind tiefgründig, stets gegenwärtig. | Immer in Bewegung. | Du arbeitest mit Drama, | lässt es donnern und blitzen und rauschen, | kehrst alles von unten nach oben. | Du arbeitest im Hintergrund, | schiebst und schubst, | verschleißt und erschöpfst. | Du wirbelst und beutest uns | spritzt uns voll und drückst uns platt; | Du entsetzt und wiegst. | Du machst den Weg frei für das, was kommt. | Kannst zierlich sein oder von überwältigender Fülle, | kurz oder von Dauer, aufbrüllend oder aufwallend. | Es gibt keinen Weg an dir vorbei. | Du bist die Gebieterin aller Elemente im Universum, | die Göttin der Wildnis. | die allgewaltige Wasser-, Feuer- und Sturmgöttin | Du bist das tropische Wärmegewitter, der Wirbelsturm, die Abendbrise. | Du liebst Donner und Blitz. | Du bist der Marktplatz, die Erde. | Du bist eine gewiefte Geschäftsfrau. | Du bist die Göttin des Tanzes, |die schöne, wehrhafte Kriegerin. | Hüterin der Friedenspforte. | Bezwingerin der Totengeister. | Beschützerin der Tiere. | Du bist die Beschützerin der Frauen. | Der weibliche Zorn.

Salve Iansã!

Kerzen für Iansã und Oxum, Foto: ISdS.

Das Gebet von Mãe Gabriele für Oxum

Ora yê yê mamãe oxum! | Meine liebste Mutter Oxum, wir rufen Dich! | Bitte erfülle unsere Herzen mit Deinem Licht der Liebe. | Nimm den Egoismus von uns allen, damit wir verstehen, was wir damit anrichten. | Lass dein Wasser durch uns fließen und reinige alle. | Öffne und spüle unsere Augen mit reinem Wasser und lass uns das Wesentliche sehen. | Erfülle uns mit Selbstliebe und hilf uns, sie auszudehnen: ein genährter Mensch hat einen liebevollen Blick auf alle. | Zeige uns, was zum Wohle aller hilft. | Gib uns die Möglichkeit, uns durch Deine Liebe zu Gott zu verbinden. | Reinige unser Herz von allen Zweifeln, die zwischen uns und unserer Liebe zu Gott stehen. | Lass uns an deinem Urvertrauen teilhaben und unsere Herzen von Reichtum überlaufen. | Danke minha mãe.

 

12.6.2020

Ich habe wieder einmal die Erfahrung gemacht, dass ich mich deplatziert und unpassend finde. Und ich weiß nicht einmal, ob das stimmt oder nicht, weil viele in der Sozietät meinten, dass mein Thema sehr spannend und interessant sei und unbedingt ausgebaut werden könne.

Ich hatte mich vorher mit Veronika über dieses Exposé unterhalten und das war sehr inspirierend und gut gewesen. In der Runde hatte sie noch die Frage, ob ich mich für eine Transformation der religiösen Bewegungen oder die Transformation der Bewegungen auf die Gesellschaft interessiere – das fand ich spannend! Ich hatte gedacht, dass das schon klar wäre, dass ich mich für letzteres interessiere bzw. darauf meinen Fokus setzen möchte. Das sind Nachfragen, die mich weiterbringen, weil ich dies dann auch im Text klarer benennen kann.

Es kam kein wirkliches Gespräch zustande. Prof. Feldtkeller hat dann eigentlich meine Fragen beantwortet und mir wurden einige Forschungscluster genannt, die sich mit ähnlichen Themen befassen, was auf jeden Fall gut und sinnvoll für mich ist. Er hat mir auch ein paar Fragen genannt, die sehr gut für mein weiteres Vorgehen passen können – etwa die Grenze zu finden, in welchen religiösen Gruppen die Vorsorge bzw. das „gute Leben“ im Sinne von Care vorherrscht und in welchen die Kraft des Glaubens und die dazugehörige Leugnung des Corona-Virus verläuft und also meine Lage anders zu kartieren. Obwohl ich finde, dass die Corona-Frage in meinem Vortrag nur die Lage verstärkt und als Ort der Krise verstanden werden sollte, aber nicht, um meine ganze Forschung daran zu orientieren; das wäre eine zu einfache Ordnung in „konservativ“ und caring versus „spirituell“ und selbstbezogen – auch wenn ich das gerade sehr viel erfahre. Aber es gibt wohl alles in diesem religiösen Feld, das will ich doch hoffen. Oder dass auch der Begriff der Ethik im Hinblick auf meine Überlegungen über „das gute Leben“ wichtig für meine Forschung ist.

Ich habe es jetzt so verstanden, dass die angewandte praktische Theologie kein spezifisches Konzept hat, was mit dem Konzept der ethnologischen Feldforschung als Pendant angesehen werden könnte, sondern dass es eher ein ziemlich offener Ansatz ist.

Dann kam, wie er es immer sicherlich ganz im positiven Sinn meint (immerhin war er es, der mich für die Tanz-Tagung in Neuendettelsau vorgeschlagen hat), Gabriel und hat mich aufgefordert, noch mehr über die anthropologische Zukunftsforschung zu sagen – und in diesen Situationen fühle ich mich dann meistens geprüft und mir fällt nichts mehr ein… Solche Blackouts passiert mir leider häufig und sind mir total peinlich, obwohl ich um ihren psychologischen Ursprung weiß, ich muss wieder und wieder daran arbeiten… Wahrscheinlich soll es einfach dazu dienen, eine Diskussion in Gang zu bringen, aber innerlich frage ich mich in diesen Momenten, ob sie nicht vorher zugehört haben? Soll ich alles noch einmal sagen, nur anders? […] Vor allem frage ich mich natürlich, wie ich meine eigene Disputation überstehen kann… Vielleicht sollte ich das psychologisch so sehen, dass es ein Gespräch ist und keine „Verteidigung“? Keine Ahnung, was da psychologisch bei mir abgeht, sicherlich all die Erniedrigung und Entmündigungen, die ich mein ganzes Leben lang ertragen musste, ganz abgesehen auch von der Gewalt.

Ich kann es nicht vergessen, dass mir meine Mutter vor ein paar Jahre erzählt hat, wie ich von dem Nachbarjungen aus meinem Haus in der Schule mit meinem Kopf an die Wand geschlagen wurde, um mich zu demütigen. Ich konnte mich nicht daran erinnern… aber doch an die Momente danach, dass Benommen Sein, das Verwundert Sein und an meine Wunde. Das Schlimmste an dieser Geschichte fand ich, dass ich sie vergessen hatte bzw. mich auch jetzt nicht an diesen Vorfall erinnern kann. Das muss so schlimm für mich gewesen sein, dass ich es bis heute nicht erinnern kann. Ich weiß nur, dass ICH gefragt wurde, ob ich in ein Krankenhaus wolle oder nicht. Komisch… Ich stand wohl unter Schock, wieso wurde ich das gefragt? Das ist absurd.

Manchmal denke ich, dass ich meine Geschichten nicht schreiben, sondern sagen sollte. Vielleicht könnte ich sie aufnehmen, wie ich meinen Vortrag aufgenommen habe?

Gabriel meinte, ich solle die Epistemologie des Wortes Transformation ergründen, „was bewegt die Akteure, so zu denken, wie sie denken“ – aber das hatte ich doch selbst als Frage gestellt. Das ist doch eigentlich die Grundlage jeder Forschung, oder? So sehe ich das. Aber eine Forschung, die noch gar nicht empirisch angefangen hat, kann doch erst einmal nur diese Frage stellen und noch nicht beantworten? Ich verstehe einfach nicht, was er damit tatsächlich sagen wollte. Mir ging es ja eher darum, spezifische theoretische Ansätze dafür zu finden.

Meine persönliche Erfahrung ist eine andere: sicherlich kommt jede*r mit bestimmten theoretischen Ideen in ein bestimmtes Feld und wird dann von den Menschen – der Empirie, der Erfahrung – überrascht und schreibt alles neu. Und genau dies ist der Moment der Erkenntnis und eigentlich das, warum es mich immer wieder reizt, weiter zu forschen. Würde mir alles im Feld bestätigt werden, was ich vorher auch schon gedacht habe, fände ich es ziemlich langweilig.

Eigentlich fühle ich mich elendig und zweifle wieder an meiner Kompetenz, in dieser akademischen Welt zu bestehen, weil ich nicht diesen Habitus und diese verschrobene Art und Weise zu reden habe… Ich verstehe manchmal wirklich nicht, was sie meinen und frage dann nicht nach, weil ich den Eindruck habe, dass es eben einfach an mir liegt.

Eine der Teilnehmenden habe ich dann konkret per E-Mail angeschrieben, was sie damit meinte, dass sie sich unter Zukunftsforschung etwas ganz Anderes vorgestellt habe und dass es ja schon „einen feststehenden, konnotierten Begriff“ dafür gebe, den ich eben so gar nicht bediene. Ich fragte sie, in welche gewöhnliche Richtung denn diese Forschungen und Diskurse gehen würde, an denen ich vorbeirede und da meinte sie, „ich bin mir nicht sicher, ob ich Dir wirklich helfen kann. Gerne würde ich allerdings mit Dir das Gespräch darüber suchen. Ich finde Deine Überlegungen sehr, sehr spannend!“, was ja total nett klingt. Aber warum hat sie das dann gesagt? Ich finde das so undurchdringlich. Und was ich gar nicht daran verstehe ist der Umstand, dass es wohl die Annahme besteht, dass ein jede*r wohl doch das bereits Gedachte nur erweitern solle… Ich dachte immer, dass innovative Forschungen eben innovativ sein sollten und sich vom bereits Gedachten abheben und neu kartieren sollten? Insofern wäre es doch gut, wenn ich die Zukunftsforschung auch anders denke…

[…]

 

13.6.2020

Heute Morgen, als wir uns mit unserem Kaffee auf den Balkon setzen wollten, sah ich unter meinem Stuhl ein kleines graues Bündel und wunderte mich. Erst als ich näher herantrat erkannte ich, dass es ein kleiner Jungvogel aus dem Vogelhäuschen auf unserem Balkon war. Er fing auch gleich an zu piepsen und guckte uns treuherzig an.

Wir haben und kundig gemacht und ihn mit ein bisschen Wasser und Körnern auf dem Balkon gelassen. Nach einiger Zeit kamen auch tatsächlich seine Eltern an und fütterten ihn. Er übte fleißig zu fliegen.

 

Auf dem Balkon, Foto: ISdS.

14.6.2020

Heute war ich im Atelier und habe etwas an der mythologischen Szene Iansã weitergemalt, aber vor allem an dem Drachenbild für Ariu, das er sich in sein neu renoviertes Zimmer hängen möchte.

Ich finde es ganz natürlich, so als sei es gestern erst gewesen, dass ich wieder mal draußen und im Atelier war – obwohl es ein paar Monate her ist. Ich habe eher das Gefühl, als ob ich gut geschlafen und mich ausgeruht hätte und nun eben wieder in der Welt sei. Und alle verhalten sich so, als ob nichts geschehen sei, keine Pandemie, kein Rassismus, alles ist friedlich und nett. Total skurril.

 

15.6.2020

Der kleine Vogel ist heute, nachdem er zwei Tage Flugübungen auf unserem Balkon und auf den Abtrennungen der Stühle gemacht hat, bis nach oben auf die Balkonbrüstung geflogen, stand dort ein paar Minuten und sah auf die umliegenden Bäume. Er drehte sein Köpfchen zu uns und flog dann davon. Das war so niedlich und so erhaben.

 

Mir kommt es vor, als würden diese Masken gerade wie Einkaufstaschen eingesetzt – zerknüllt, herausgeholt, wieder weggesteckt.

 

 

16.6.2020

„Die Unke von Unkenbilk No. 2387

Heute traf ich eine nette Dame mit Hund. Die Dame meinte, „irgendwie ist doch alles kaputt, die ganze Welt liegt brach, wir leben in einer kaputten Gesellschaft, die Umwelt ist zerstört und wir denken an Urlaub und Kaffeeklatsch“. Klatschen, klatschen, ohne Kaffee klatschen. Das ist richtig. Wenn wir uns selbst nicht so wichtig nehmen und einfach einmal kurz innehalten, dann wissen wir doch alle, dass wir den Punkt überschritten haben. Einen Punkt zur Umkehr, für die Menschheit, für die Umwelt und den Planeten. Es ist zu spät und das hat nichts!!! mit Schwarzmalerei zu tun, das ist die Realität.

Wir dürfen alle von einer besseren Welt träumen aber wir alle werden diese nicht erleben. Das denke ich und bin nichtmal traurig. Lachen – herzlich lachen muss ich wenn ich sehe, dass die ersten Mallorca-Touristen gefeiert werden, wie kürzlich unser Pflegepersonal. Bin ich anders, anders doof oder warum finde ich das absolut lächerlich?

Bitte heute keine Kommentare wie: „die Welt ist doch schön“, „geh mal spazieren“, „denke an die schönen Dinge“.

Mir geht es gut, ich führe nur ein Online Tagebuch, für irgend etwas muss das doch gut sein hier“ (Art Schmacks, Facebook vom 16.6.2020, ein Künstlerkollege, den ich nie persönlich kennengelernt habe, aber mir irgendwie aus der Seele spricht; vor allem mit dem Angst vor dem Ende der Welt.)

Hier zu Hause wachsen und blühen die Pflanzen wie verrückt, als ob sie es bemerken würden, dass wir – vor allem ich (weil Jamiro und Ariu vor Corona-Zeiten ja viel zu Hause waren, nur ich nicht) – hier sind und so viel Aufmerksamkeit und Liebe in diese Räume bringen, dass sie gar nicht anders können als überschwänglich zu wachsen.

Ich musste den Härtefallantrag für unser Atelier des Berufsverbandes Bildender Künstler verlängern und gleich auch die Steuererklärung, die wahrscheinlich schon überfällig ist, erledigen, bin aber zwei Mal wegen Post (für meinen Werkvertrag) und Lavendel für den Balkon kaufen und zur Post gehen gegangen. Immerhin tragen alle in der Post Maske. Mir kommt es vor, als würden diese Masken gerade wie Einkaufstaschen eingesetzt – zerknüllt, herausgeholt, wieder weggesteckt. Sie sind schon da, nur eben auf der Straße gar nicht. Hinter mir bei Aldi steht ein sehr alter Mann, der auch vorher auf der Straße schon die Maske getragen hat und guckt mich mit freundlichen Augen an. Die ganze Solidarität vom Anfang der Pandemie ist weg, jetzt antworte nur ich.

Ja, wenn es Zeit ist zu gehen, ist das eben so. Das hat mir auch eine liebe Freundin gesagt und ich kann es respektieren – nur empfinde ich es eben nicht so. Nur weil ich verletzlich bin, will ich jetzt nicht sterben, sondern leben; ich habe noch so viel seelisch zu verarbeiten und zu sagen. Ich weiß, dass ich schrecklich langsam bin… aber so, gerade weil ich langsam bin, möchte ich weiterleben. Und das haben auch die Augen dieses alten Mannes hinter mir in der Schlange von Aldi gesagt, der mutig raus und einkaufen geht und den wir alle mitschützen sollten. Ich finde, dass es hier rau geworden ist unter diesen satt gegessenen Menschen, die sich mit ihren Wohlstandssorgen beschäftigen.

 

17.6.2020

Ich bin früh aufgestanden, um einer Disputation über Zoom an meinem Institut beizuwohnen, um mir mal den Ablauf des Ganzen anzusehen und mich seelisch darauf einzustimmen. Immerhin läuft alles so ab, wie ich es mir vorgestellt habe, das ist schon mal erleichternd. Ich muss nur dahin kommen, in der Fragerunde auch wirklich zu reden – diesen inneren Schweinehund überwinden und reden und nicht schon im vorneherein alles – damit meine ich vor allem meine eigene Kompetenz – in Frage zu stellen und abzuwehren.

Meine beiden Männer – mein Mann und mein Sohn – lagen wie immer noch lange im Bett und schliefen. Das ist schon komisch, diese Parallelwelten von Arbeit und Familie in einer kleinen Wohnung zu erleben. Statt mit den Kolleg*innen in die Mensa zu gehen, setze ich mich mit meiner Familie auf den Balkon und frühstücke.

Nachmittags sind wir mit einem Freund, den wir seit dem Anfang der Pandemie nicht mehr gesehen haben und der seine Mutter zu Hause pflegt, im Volkspark Wilmersdorf spazieren gegangen. Die Sonne lacht vom Himmel, wir reden, setzen uns auf die Wiese, essen ein Eis zusammen. Ich habe den Eindruck, als sei ich im Urlaub, alles ist gut.

 

Der Fennsee, Foto: ISdS.

18.6.2020

Was für ein Tag… Ich war die ganze Zeit nur mit bürokratischem Zeugs beschäftigt… Nun steht endlich die zweite Version des Antrags auf Verlängerung unserer Ateliermiete beim Berufsverband für Bildende Künstler und ich weiß, dass ich während der drei Monate Werkvertrag an der HU bei meinem Mann familienversichert bleiben kann. Aber ich bin schlecht gelaunt, dass das alles nicht schneller zu regeln geht.

 

19.6.2020

Ich habe selten so viel gelacht wie heute. Wir sind zu fünft im Auto – Jamiro, Ariu und ich zusammen mit meinen Eltern – zum Ferienhäuschen meiner Eltern in die Uckermark gefahren; Aerosole hin und Aerosole her… Also, ich würde sagen, dass es unmöglich ist, Menschen auf Abstand zu treffen. Ich dachte ja, dass das ginge und Zukunftsmusik sein könnte, um MIT der Pandemie zu leben, aber ich finde, dass das ein Trugschluss ist. Auch so im öffentlichen Raum ist es kaum umsetzbar – in Restaurants, Museen, in der Familie – aber das von Kindern und Jugendlichen in den Schulen zu erwarten ist eigentlich absurd.

 

Also, ich würde sagen, dass es unmöglich ist, Menschen auf Abstand zu treffen. Ich dachte ja, dass das ginge und Zukunftsmusik sein könnte, um MIT der Pandemie zu leben, aber ich finde, dass das ein Trugschluss ist.

 

 

Alleine die Autofahrt macht es doch unmöglich.

Und dann kamen wir in Polßen an und es regnete. Ich bin mit dem Regenschirm rausgegangen und habe mir die blühenden Rosensträucher angesehen, auch die angebauten Kartoffeln, Zucchini, Erdbeeren, grüne Bohnen, Pimpinelle, Petersilie, Zitronenmelisse. Alles ist überbordend, die Rosen lassen ihre Triebe bis in den Himmel wachsen. Der Garten meiner Eltern war schon immer paradiesisch und ein Tummelplatz für Insekten und freien, kreativen Wuchs für alle Pflanzen. Jetzt aber sehe ich, dass es für meinen älter werdenden Vater zu viel Arbeit wird.

Ariu und ich mussten die ganze Zeit lachen. Wir saßen alle zusammen, haben gegessen, saßen um den Tisch und spielten den ganzen Abend Canasta zusammen, ich habe mit meinem Vater in einem Team gespielt und haushoch verloren. Meine Mutter erzählt über ihre Lebenserfahrungen und all ihrer und unserer Vorfahr:innen so, als geschähe alles gerade jetzt und wäre gar nicht vergangen.

 

20.6.2020

Die ganze Zeit schien die Sonne und der Wetterbericht sagt, dass sie ab Montag auch wieder scheinen wird – und kaum sind wir einmal nach Monaten wieder draußen und in der Uckermark, da regnet es in Strippen! Unglaublich.

Und ich sitze hier die meiste Zeit auf dem Sofa, auf der einen Seite Ariu und auf der anderen Jamiro, die sich halb auf mich legen. Meine Eltern sind auch total auf mich fixiert. Gerade laufen alle auch mal woanders hin, aber sonst bin ich ständig im Zentrum des Interesses. Das sollte ich genießen, tue es auch, aber ich verstehe es nicht, warum sie sich nicht mal untereinander ausgiebig unterhalten können.

 

21.6.2020

Es ist echt ungerecht – kaum kamen wir in Polßen an, regnete es durchgängig bis zu unserer Abfahrt und kaum kamen wir in Berlin an, schien die Sonne. Wir gingen noch griechisch essen und saßen draußen. Ich selbst vergesse meine Maske, setze sie nur kurz auf, als wir aus dem Auto steigen und zum Restaurant laufen. Ich esse eine gemischte Vorspeiseplatte mit Aubergine, Zucchini, Tzaziki, trinke Retsina.

 

22.6.2020

Lucas ist mit seinem Fahrrad vorbeigekommen und hat Ariu für einen Tagesausflug abgeholt – die beiden sind dann mit der BVG durch die ganze Stadt gefahren, waren in der Friedrichstraße und auf der Museumsinsel. Da bin ich selbst seit Monaten nicht mehr gewesen, obwohl ich vor der Pandemie fast täglich dort herumspaziert bin, vom Institut in die Bibliothek – das Grimm-Zentrum – und zur Mensa, weil ich dort ja an der HU gearbeitet habe. Ariu hat erzählt, dass er zwei Mal darauf angesprochen wurde, dass er seine um den Hals hängende Maske tragen solle, total kurios! Hier in Wilmersdorf sind wir die Exoten schlechthin, wenn wir mit unseren Masken herumlaufen und in Mitte scheint die Welt ganz anders auszusehen. Eigentlich eine gute Idee, mal wieder in diese Richtung zu fahren, da es nun ja eigentlich keine Tourist*innen mehr geben sollte – oder kommen sie gerade wieder? Ariu hat sich wohl beides Male entschuldigt und bedankt, dass die anderen ihm gegenüber so aufmerksam waren. Er war wohl so euphorisch, dass er mal wieder unterwegs war, dass er es vergessen hat, sie aufzusetzen.

Lauter Freundinnen fragen mich, wann wir uns wieder treffen und ich bin geneigt, sie alle zu sehen – dabei sind noch nicht einmal die Räder meines Fahrrades aufgepumpt, aber das kann ich ja wirklich einmal morgen erledigen.

Jamiro hat heute Morgen zwei Stunden lang erfolglos bei seinem Gastroenterologen angerufen und ist dann am Nachmittag bei unserer Hausarztpraxis vorbeigegangen, wo er auch behandelt wurde. Ich bin mit ihm hingelaufen und saß derweilen auf einer Parkbank auf dem Rüdesheimer Platz. Er hat eine akute Gastritis, wahrscheinlich ausgelöst durch das Voltaren, was er wegen seines verrenkten Nackens für eine Woche eingenommen hat.

 

23.6.2020

In den USA überschlagen sich die Infektionszahlen mit Corona, in Brasilien werden sie gerade nicht einmal mehr offiziell genannt (jedenfalls nicht in den deutschen Medien, aber mein Mann hört den ganzen Tag brasilianische freie Nachrichten und erzählt sie mir) und in Deutschland gibt es vereinzelte Ausbrüche, in Nordrhein-Westfalen und auch in Berlin.

Mein Fahrrad ist endlich wieder fit und ich habe den Eindruck, als schieße wieder alle Energie in meinen Körper, wenn ich auf dem Fahrrad sitze. Höchste Zeit, wieder in Gang zu kommen! Nicht, dass mein einziger größerer Gang in die Natur der war, in der Uckermark im Regen zu sitzen… Wie wir uns doch schon mit unseren Wohlstandssorgen beschäftigen und kaum mehr empathisch sind… Aber vielleicht stimmt das nicht, vielleicht ist es einfach ein natürlicher Umgang mit der Welt. Die Anpassungsleistung oder Anpassungsfähigkeit, die mir von Psycholog*innen sonst so oft abgeschrieben wurde, um Formulare richtig auszufüllen. Mir haben die Therapien gutgetan, fand aber eben diese Beschreibungen immer sehr merkwürdig.

Als Jamiro versuchte, eines der Schläuche meines Fahrrads beim Fahrradladen aufzupumpen, schafft er es nicht mehr hochzukommen, weil er einen Hexenschuss hat. Der Arme, sein Körper bettelt wirklich darum, dass er sich ausruhen möge. Er hat sich dann aber doch noch bewegen können, wenn auch mit Schmerzen, und wir sind zum Atelier gegangen und er hat dort etwas Gymnastik gemacht bzw. sich auf dem Rücken liegend hin- und hergewiegt. Ich habe Schmerzmittel in der nahen liegenden Apotheke gekauft. Jetzt liegt er im Bett.

 

24.6.2020

Gestern war die eigentliche Zeugnisvergabe für die Schüler*innen, ausgerechnet in der Aula… komisch, sonst ist doch alles so wunderbar gelaufen und nun müssen sie als Abschluss vor den Sommerferien unbedingt noch einmal Aerosole in einem geschlossenen Raum mit vielen Menschen auf einmal austauschen? Vielleicht haben sie es ja anders gemacht, wir waren ja nicht da… aber es hätte schon auf dem Hof vergeben werden können, das wäre sicherer gewesen.

[…]

Ich habe gerade den Eindruck, dass es für mich wirklich schwieriger wird, doch wieder in diesem Sommer mehr raus zu gehen, weil eben alle so sorglos sind und sich auf den Straßen tummeln. Und der Schwarmeffekt bringt es ja mit sich, dass auch ich etwas kopflos werde – obwohl, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich nicht. Nur meinen Eltern bin ich zu nahegekommen, als wir in der Uckermark gemeinsam gegessen und Canasta am Essenstisch drinnen gespielt haben, weil es draußen ja gegossen hat. Eigentlich wollte ich nur mitfahren, weil ja Sommer ist und wir eh alle draußen im Garten sind und auch draußen auf der Terrasse essen – und dann kam alles anders. Jetzt scheint durchgehend wie zum Hohn die Sonne.

Heute ist São João in Pernambuco, das Johanni-Fest. Das St. Michael in Köln hat ein Ritual gefeiert und auf meinem Balkon steht jetzt eine weiße Kerze, daneben ein großer Stein mit Wasser in seinem Inneren. Für Xangô.

„Heute Mittwoch, den 24.06.2020 von 18:00 bis 21:00 findet eine Johannisritual statt.

Wir werden mit dem Johannisfeuer das alte Ritual zum Johannistag begehen, um Dämonen und Krankheiten auszutreiben.

Teilnahme nur von zu Hause.

Bitte verbindet Euch um 18 Uhr mit uns.

Zündet eine weiße Kerze an.

Betet und singt für Heilung und Klärung.

Lasst die Kerzen bitte abbrennen.“

Ich hatte den Eindruck, dass die Kerze dieses Mal draußen bei den Pflanzen stehen sollte, auf meinem wildbewachsenen, kleinen Balkon.

 

Da es unsichtbar ist und eine Normalität das angestrebte Glück der meisten ist, gibt es da kaum einen Ausweg für mich als entweder gute Hörgeräte zu haben und zwischendurch einfach nicht zu funktionieren und abzuschalten oder mich als Taub zu definieren und alle damit zu erschrecken!

 

 

25.6.2020

Ich merke gerade heute, wo ich wieder in der Welt war, dass ich mich selbst über allen Maßen überfordere und anstrenge. Mein Zahnarzt sagte mir einmal, dass ich abgeriebene Zähne hätte wie Menschen mit Migrationshintergrund, die mehr unter Druck stehen würden als Einheimische. Er fand das sehr verwunderlich, ich aber nicht. Ich bin zwar Berlinerin und von daher nicht weit gekommen, aber ich bin Taub und lasse es tagein tagaus zu, dass ich mit Lauten und Worten beschallt werde, die mir einfach zu viel sind. Ist eigentlich ganz logisch. Da es unsichtbar ist und eine Normalität das angestrebte Glück der meisten ist, gibt es da kaum einen Ausweg für mich als entweder gute Hörgeräte zu haben und zwischendurch einfach nicht zu funktionieren und abzuschalten oder mich als Taub zu definieren und alle damit zu erschrecken! Haha! Oder in Corona-Zeiten in der Quarantäne zu verschwinden. Aber da kann ich dann eben auch wieder an alle Technik künstlich angeschlossen werden, offiziell funktionieren und habe den Stress dann eben zu Hause.

Heute habe ich das erste Mal das Gefühl, dass ich mich ausgeruht habe – nach drei Monaten Quarantäne – und fand es wunderbar, mit meinen alten Eltern Hans Baluscheks Gemälde im Bröham-Museum anzusehen. Wenige Besucher*innen, alle liebevoll mit Masken, und Platz zum Verweilen, Gucken, Bewundern; was für ein großartiger Maler! Meine Mutter erzählt, dass er sein Atelier in der Ceruskerstraße in Schöneberg hatte und meine Oma ihn kannte und bewunderte; schließlich kam er aus der gleichen Arbeitergesinnung wie sie.

Mein Fahrrad ist wieder flott und ich gehe ins Museum. Eigentlich ist alles total normal, oder? Putin lässt seine Macht demonstrieren, Trump natürlich auch, aber er ist nicht ganz so nahe und nicht annähernd so versteckt wie Putin. Und die Geschichte von Baluschek zeigt doch, wie sich die politischen Begebenheiten langsam und unaufhaltsam entwickeln. Hungerswinter 1918, erster Weltkrieg, aber kein Wort von der spanischen Grippe, obwohl sie mehr Tote forderte als der Krieg.

Ich bin mit meinen Eltern noch einen Eiskaffee im Kiez trinken gegangen, die Sonne knallte vom Himmel. […]

Ich finde, dass ich gut geworden bin. Kein falscher Fuffziger, wie mein Opa sagen würde, sondern echt und gut. Als ich zu Hause ankam, habe ich mir ein Ticket fürs Schwimmen im Lochowbad gebucht, weil Corona-Viren ja im Chlorwasser sterben. Dass mir das nicht vorher aufgefallen ist. Ich vermute, dass ich echt diese Ruhe gebraucht habe. Aber nun ist es so heiß draußen geworden und das Wasser ruft.

 

Aber ich gebe mir keine Zeit, ich bin nicht gelassen. Ich möchte immer zwei Schritte voraus sein, bevor ich etwas tue oder mir etwas geschieht, ich möchte immer vorbereitet und gewappnet sein.

 

 

26.6.2020

Vormittags habe ich Jamiro auf einen Spaziergang zum Rüdesheimer Platz auf dem Weg zu seiner Arztpraxis begleitet und derweilen zwei neue Blumen für den Balkon gekauft. Der Rüdi ist ein so unwirkliches Idyll; alles sieht aus wie in einem Puppenhaus oder in der Schweiz. Ich empfinde es immer wieder als absurd und frage mich, ob es echt sei – und finde es gleichzeitig wunderschön. Jamiro hat ein Wärmepflaster gegen seinen Hexenschuss empfohlen bekommen und wir haben einen Kaffee mit Croissant im Biobackhaus genossen, das gleich vor dem Eingang zum Arzt am Platz liegt, saßen draußen in der Sonne. Hier haben sie alles so gemacht, wie ich es sonst nur in der Zeitung lese: mit unseren Namen und Adresse zur Rückverfolgung wegen eines möglichen Corona-Ausbruchs. Ist schon interessant, dass ich es als so surreal empfinde, immerhin bin ich ganz in der Nähe aufgewachsen.

Litfaßsäule Rüdesheimer Platz, Foto: ISdS.

Bei jedem Schritt und überall denke ich daran, dass wir sterblich sind und alles ein Ende haben wird. Seit dem Ausbruch meiner Krankheit ist dies eine so grundlegende Lebenserfahrung für mich. Sicherlich verändert das die Perspektive, dass ich nicht einfach irgendetwas so vor mich hintue und meinem Leben keine Wertschätzung entgegenbringe, sondern im Gegenteil, dass ich die Schönheit sehe. Aber ich gebe mir keine Zeit, ich bin nicht gelassen. Ich möchte immer zwei Schritte voraus sein, bevor ich etwas tue oder mir etwas geschieht, ich möchte immer vorbereitet und gewappnet sein.

Der Nachmittag war schwierig für mich. Ich schreibe es dem Wetter zu, da die ganze Zeit ein Gewitter angerollt kam, sich aber nur ein wenig und nicht wirklich richtig entladen hat, so dass es heiß und drückend blieb. Wir aßen gemeinsam auf unserem kleinen Balkon mit einer neuen Fuchsie und einer Nelke, die ich frisch zu der Blumenwiese und den Sonnenblumen hinzugepflanzt habe, die sonst dort stehen.

Unser Balkon, Foto: ISdS.

Das Essen gab mir Energie, um bei der Hitze nicht zu frieren, aber ich war wie niedergedrückt und schwach, konnte mich zu nichts aufraffen und habe letztendlich nur ein paar Ordner aussortiert, viele alte Texte weggeworfen, weil hier zu Hause nicht genug Platz dafür ist – und auch neuer Platz für neue Texte hermuss.

Eine Ankündigung für ein Buch, woran ich mitgeschrieben habe, plus des E-Books habe ich noch erhalten. Nach dem Interview mit Arjun Appadurai und Michael Lambeck ist meines des ersten Beitrags des Buches, was mich sehr überrascht und freut. Der Text basiert auf einem Vortrag, der schon gefühlt Ewigkeiten her ist… vom Februar 2017.

 

Aber eigentlich geht es doch nicht darum, dass wir nun alle vereinsamen, wie der Diskurs es uns wahrhaben lassen möchte, sondern eher um die Trennung vom öffentlichen und privaten Raum. Zu Hause umarme ich doch mein Kind und küsse meinen Mann – und das selbstverständlich ohne Maske.

 

 

27.6.2020

Das ist mit Abstand das Beste, was… Sogar in der deutschen Sprache gibt es positive Bezeichnungen für unsere aktuellen Abstandsempfehlungen! Haha! Natürlich kommt es daher, dass jemand andere hinter sich lässt, weil sie oder er so viel schneller und besser als andere ist, aber vielleicht geht es bei diesem Abstandhalten – was ja psychologisierend als so beklemmend und problematisch erachtet wird – tatsächlich darum, einfach mal anderen auch ihren Raum zu lassen?

Ich empfinde es hier so, dass es genau das ist, was die Leute im Alltag nicht schaffen und nicht wollen. An der Schlange bei Aldi zu stehen zeigt genau das – vor Corona habe ich anderen immer Raum gelassen und bin ihnen nicht mit meinem Wagen in die Hacken gefahren oder drängelte mich an die heran – und dann kamen andere und drängelten sich vor mit dem Eindruck, dass ich nur herumstehe. Auch jetzt passiert mir das wieder, obwohl lauter angeklebte Haltelinien auf dem Boden zu sehen sind, wo ich stehen darf ohne, dass ich von anderen überrumpelt werden sollte. Dieses Mal habe ich erstaunlicherweise etwas gesagt – und dann hat sich die Frau auch tatsächlich dafür entschuldigt, dass sie sich vordrängeln wollte. Das hat echt Seltenheitscharakter.

Aber eigentlich geht es doch nicht darum, dass wir nun alle vereinsamen, wie der Diskurs es uns wahrhaben lassen möchte, sondern eher um die Trennung vom öffentlichen und privaten Raum. Zu Hause umarme ich doch mein Kind und küsse meinen Mann – und das selbstverständlich ohne Maske.

Jamiro guckt sich gerade eine brasilianische Novela an, die er aber nur auf Spanisch gefunden hat. Ich gucke auch immer mal wieder mit, da sich vieles eh wiederholt und ich auch noch anderes tue und mal ganz froh bin, auch alleine in einem Zimmer sein zu können. Anfangs habe ich, da ich ja kein Spanisch (sondern Portugiesisch) kann, so gut wie gar nichts verstanden, aber das wird die Tage immer besser – gestern Abend habe ich fast alles verstanden, natürlich auch kombiniert mit meiner schwerHörigen Form, Gespräche zu verstehen – die Menschen und ihre Charaktere einzuschätzen sowie den Kontext mit dem Gesagten zu kombinieren. Ja, ich weiß, das machen alle Menschen, nicht nur SchwerHörige… aber der Unterschied ist eben, dass hörende Menschen auch so alles hören und ich nicht. Es ist für mich also eine Grundlage, in der Welt zu sein und mit anderen zu kommunizieren. Jedenfalls ist es sehr spannend wahrzunehmen, wie ich mich ins Spanische finde…

 

28.6.2020

Mir ist heiß und kalt, bin schlapp und schwach.

 

29.6.2020

Meine Mutter hat Geburtstag und wird heute 77 Jahre alt. Wir treffen uns als Familie – meine Mama, mein Papa, Jamiro, Ariu – mit Malte im Restaurant Landauer am Rüdesheimer Platz. Vorher bin ich ganz nervös, weil das Wetter stark wechselt und es kurz sogar regnet, weil wir ja draußen ohne Aerosole in der Luft, sondern mit einem Windchen um die Nasen, essen gehen wollen. Glücklicherweise ist es schönes Wetter, als wir ankommen, und wir sitzen draußen. Als wir zur Toilette gehen, sehen wir, dass drinnen kein einziger Mensch sitzt, aber draußen füllt es sich nach und nach immer mehr.

Restaurant Landauer Rüdesheimer Platz, Foto: ISdS.

Wir essen üppig und gut, stoßen auf sie an, feiern sie. Und sie sagt mir, die so sorglos durch die Gegend läuft, dass die zweite Welle kommt.

 

30.6.2020

Heute sollte das dritte Gutachten für meine Doktorarbeit fertig eingereicht sein und morgen fängt mein dreimonatiger Werkvertrag am Institut für Europäische Ethnologie an. Ich habe schon mit Jamiro besprochen, dass ich wieder ruhige Tage brauche, wo ich alleine zu Hause im Home-Office (mit Ariu) arbeiten kann. Das geht ja eigentlich ganz gemütlich, da er ins naheliegende Atelier gehen kann.

Ich bin am Überlegen, wie ich wieder Freund*innen treffen kann – eine sagt mir ab, da sie unfassbar viel arbeitet und es ihr gerade zu viel wird, mit einer anderen möchte ich am Wochenende eine Fahrradtour machen und nächste Woche möchte ich mal zum Tempelhofer Feld radeln; mal sehen, wie da gerade meine Fitness mitmacht… Eine Studie des Verlags De Gruyter, an der ich teilgenommen habe, bestätigt, dass die meisten viel mehr arbeiten als vorher (vgl. Watchorn / Heckendorf 17.6.2020). Komisch, dass es mir dabei anders geht als den meisten. Ich verliere zwar völlig das Maß dafür, wieviel ich tatsächlich arbeite und denke, dass es zu wenig ist, wenngleich auch das Gegenteil stimmen kann, aber ich finde die Abwesenheit vom Einkaufen und den ganzen Stress des sozialen Lebens schon als große Erleichterung. Das hindert mich natürlich auch daran, Nebensächliches zu kaufen oder mal mit einer Freundin essen zu gehen oder mir die Haare schneiden zu lassen. Wenn Jamiro alleinig einkaufen geht, ist alles viel günstiger… das trägt ja auch zur Nachhaltigkeit bei. Also, Männer auf zum Einkaufen!

Bislang haben wir überlebt, aber die Welt da draußen dreht durch – feiert Partys in den öffentlichen Parks (nichts dagegen, aber in Pandemie-Zeiten?) oder radikalisiert sich, der Permafrost in Russland schmilzt, die Wälder brennen. Mir kommt das alltägliche Leben zu schön, geradezu kitschig und romantisiert vor im Angesicht des Grauens.


Fußnoten

[1] Terreiro (brasil. port.: „Grundstück“): Bezeichnung für ein Haus bzw. eine Gemeinschaft afrobrasilianischer Religionen.

[2] Povo de Santo (bras. port.: “Volk im Heiligen”): Die Adept*innen in afrobrasilianischen Religionen.

[3] Aruanda: In der Umbanda wird die immaterielle Welt als Aruanda bezeichnet, wo sich die spirituellen Entitäten aufhalten, die verehrt und in religiösen Ritualen in personalen Medien durch Trance verkörpert werden.

[4] Alle Namen in diesem Text sind pseudonymisiert worden.

[5] Mãe –de-Santo (brasil. Portugies.): Mutter-im-Heiligen, eine spirituelle Leiterin.

[6] Ein Marinheiro ist eine spirituelle Entität eines Matrosen in der Umbanda Religion.

[7] Eine Gira ist eine umbandistische Zeremonie und bedeutet „sich drehen“ und tanzen.

[8] Iemanjá ist die Orixá, die Göttin des Meeres, in den afrobrasilianischen Religionen Umbanda und Candomblé.

[9] Eine Camarinha, was direkt aus dem Brasilianischen Portugiesisch übersetzt „Bettchen“ bedeutet, sind interne Rituale in den afrobrasilianischen Religionen, die in einem für eine bestimmte Zeit abgetrennten Räumlichkeiten in Stille begangen werden. Die einen spirituellen Prozess durchlaufenden Personen, meist Eingeweihte in die Religionen, werden dabei von anderen bedient; ihnen wird zu essen und zu trinken gebracht usw.

[10] Bogenhanf wird in Brasilien und auch hierzulande im Candomblé und der Umbanda als „Espada de Ogum“, als Schwert des Kriegsgott Ogum, bezeichnet. Da dieser Orixá kämpferisch daherkommt, trägt er bei sich ein Schwert, das die gleiche Form hat wie diese Pflanze.

[11] Xangô ist der Gott der Yorùbá des Feuers und des Donners, steht ein für Gerechtigkeit; seine Farbe ist das Rot (und das Weiß in Referenz an seinen Vater Oxalá). Er wird in den afroamerikanischen Religionen verehrt.

[12] Kubes, Tanja (2014): „Living Fieldwork – Feeling hostess. Leibliche Erfahrungen als Erkenntnisinstrument.” In: Arantes, Lydia Maria / Rieger, Elisa (Hg.): Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. Bielefeld: 111-126.

Dies. (2016): „Die Methode der Living Fieldwork – Autoethnographische multisensorische Erfahrung als Basis des Verstehens“. In: Ronald Hitzler / Simone Kreher / Angelika Poferl / Norbert Schröer (Hg.): Old School – New School? Zur Optimierung ethnographischer Datengenerierung. Essen: 285-296.


Bibliographie

AHMED, Sara (23.3.2020): „Complaint and survival“ [online], https://feministkilljoys.com/?blogsub=confirming#subscribe-blog, Abruf am 3.4.2020.

AMADEU ANTONIO STIFTUNG (22.5.2020): „Von Alu-Bommel bis Judenstern. Bestandsaufnahme der Verschwörungsmythen rund um Covid-19“. [online], https://www.facebook.com/events/535206470480710/, https://www.youtube.com/watch?v=BTui-WnqxWU, Abruf am 22.5.2020.

Arbeitsgruppe Medical Anthropology in der DGSKA e.V. (2020): „#Witnessing Corona“ [online], Medizinethnologie. Körper, Gesundheit und Heilung in einer globalisierten Welt, https://www.medizinethnologie.net/, Abruf am 10.5.2020.

BHAKDI, Sucharit (29.4.2020): „Talk Spezial mit Prof. Dr. Sucharit Bhakdi: Corona-Wahn ohne Ende?“ [online]. Servus TV, Interview von Ferdinand Wegscheider mit Sucharit Bhakdi, https://www.servustv.com/videos/aa-23ud73pbh1w12/, Abruf am 1.5.2020.

BOHMEYER, Michael (17.3.2020): „In der Coronakrise liegt auch eine unglaubliche Chance. Jetzt ist die Chance, das Grundeinkommen zu testen.https://www.mein-grundeinkommen.de/magazin/corona-grundeinkommen, Abruf am 1.4.2020.

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