02/12/20

„Corona ist draußen, vor der Tür“

Germany, Freiburg im Breisgau, 19. March – 13. April 2020

Ich bin Isa, 42 Jahre alt, ledig, kinderlos und lebe seit Januar 2016 in Freiburg im Breisgau, Baden-Württemberg. Ich bin Kulturwissenschaftlerin, was mich bei diesem Format insbesondere vor gewisse Herausforderungen stellt. Denn als ich das Projekt „Corona Diaries“ begann, wollte ich aus Erkenntnisinteresse für die Initiatoren ein authentisches Tagebuch schreiben – eine persönliche, sehr private Erzählung. So habe ich auch Gedanken und Empfindungen verschriftlicht, die im Konflikt mit meiner fachlichen Persona stehen. Doch darum geht es doch gerade beim Format „Tagebuch“, oder? Einen Platz zu haben für das, was die Welt mit einem anstellt, zur Vergegenwärtigung von Erlebnissen, zur Selbsttherapie, um Beobachtungen, Gedanken und Empfindungen auch mal ungefiltert festhalten zu können, soweit das möglich ist, und sie gegebenenfalls beim Schreiben zu reflektieren, aber ohne die Auflage, sie bis zum Ende durchdenken zu müssen. Ich werde über das Glück berichten, das mir Corona beschert hat. Ja, das gibt es auch. Aber ich werde auch Gedanken schildern, für die ich mich schäme gegenüber einer Öffentlichkeit, die sie nun lesen kann, und gegenüber Menschen, die mir sehr nah und teuer sind, auf die ich hier aber auch mal ungeniert negativ reagiere, ohne sie jedes Mal wieder in das ihnen angemessene Licht zu rücken. Deswegen habe ich mich zuletzt dafür entschieden, anonymisiert zu veröffentlichen. Weil es mir die Freiheit gibt, auch Peinlichkeiten und unschöne Facetten meiner Corona-Erfahrungen zu dokumentieren, bei denen ich mich mit den Grenzen meines Ideal-Ichs konfrontiert sehe. Diese Erzählung folgt nicht den Mechanismen eines Blogs. Sie folgt dem Format eines Tagebuchs, ist streckenweise für eine breite Leserschaft banal und unerheblich, vielleicht schamhaft, aber intim und ehrlich.

Weil ich als Kulturwissenschaftlerin gelernt habe, wie wichtig die persönliche Situiertheit für eventuelle spätere Auswertungen, aber auch für Lesende, und im Allgemeinen bei der Einordnung von Textfragmenten sein kann, möchte ich meine Situation zunächst etwas ausführlicher schildern: Aktuell bin ich wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni. Ich habe fünf Jahre ohne Atempause hinter mir. Das letzte Jahr, 2019, war das schlimmste. Ich habe eine dreijährige Beziehung beendet, in der ich gelernt habe, was die Bezeichnung toxische Partnerschaft bedeutet. Dabei schlugen die Nachwehen einer vorherigen sehr kränkenden Trennung durch, von einem Mann, von dem ich mal dachte, ich würde den Rest meines Lebens mit ihm verbringen und von dem ich mich am Ende nur noch verraten fühlte. Beruflich sah es nicht besser aus, ich steckte in einer Sackgasse. Trotz guter Leistungen und Auszeichnungen und der tiefen Überzeugung, das richtige Feld gefunden zu haben, wollten sich keine längerfristigen Beschäftigungsperspektiven ergeben. Ich wurde mal eben vor die Tür gesetzt, weil finanzielle Mittel fehlten, dann wieder eingestellt, es war ein Hin und Her mit wechselnden Stundenkontingenten. Ich fühlte mich privat wie beruflich gescheitert, hatte mit Depressionen und einem verkappten Burnout zu kämpfen. Ich konnte nicht mehr und das wollte ich irgendwie meinen Eltern erklären. So führte die ganze Misere schließlich dazu, dass ich einen 30 Jahre alten Riss in der Beziehung zu meinen Eltern kitten musste. Das gelang. Im September 2019 zogen wir zusammen den Splitter raus. In das Jahr 2020 bin ich mit einem 50% Vertrag für sechs Monate gestartet und zwei Vorhaben: 1. Die neue Qualität in der Beziehung zu meinen Eltern zu pflegen und 2. mit der halben Stelle im Rücken Strategien für meine berufliche Zukunft zu entwickeln. Dabei fällte ich auch eine Entscheidung: Ich wollte wegen meiner Eltern in dieser süddeutschen Stadt bleiben, die ich nicht sonderlich mag. Der Ruhrpott ist mir deutlich lieber.

Ich bin schon sehr oft umgezogen, habe x-mal irgendwo in Deutschland neu angefangen, wegen einem Mann, einem Job, einer Weiterbildung. Für mein berufliches Vorankommen wäre ein großer geografischer Radius vorteilhafter. Aber vor ein paar Jahren sind meine Eltern hierhin gezogen. Nach mehr oder weniger 70 Jahren haben sie ihre Heimatregion 400 km hinter sich gelassen, um im Alter wieder näher bei ihren Töchtern zu sein. Meine ältere Schwester lebt seit 12 Jahren in der Schweiz, nur 90 Kilometer entfernt kurz hinter der Grenze.

Die Entscheidung, in Freiburg zu bleiben und eine gesündere Eltern-Kind-Beziehung nachzuholen, tat mir gut. Ich nahm wieder Fahrt auf. Neben meiner Arbeit an der Uni arbeitete ich im Februar 2020 eine Strategie aus, um mich als Kommunikatorin im Palliativbereich zu platzieren. Am 20. Februar 2020 schickte ich einen Testballon los. Am darauffolgenden Samstag, den 22. Februar 2020, fragte mich Maik, den ich kaum kannte und der mich nicht interessierte, ob ich mit ihm zu einer Rosenmontagsparty gehen würde. Ich feier niemals Karneval, sagte aber zu, weil ich dachte, dass ich auf der Party vielleicht einen anderen interessanten Mann kennenlernen könnte. Dem war nicht so. Dafür war es mit Maik angenehmer als gedacht und wir landeten vor einem Jim Jarmusch Film auf seinem Sofa.

Corona kam, als ich gerade damit befasst war, meinen Quereinstieg ins Gesundheitswesen vorzubereiten, zwei Seminare für das Sommersemester zu konzipieren, die neue Beziehungsqualität zu meinen Eltern zu vertiefen und ich zum ersten Mal neben Maik aufgewacht war.

 

Donnerstag, 19. März 2020
Veränderung ist ein unangenehmer Besucher

Arbeitssituation:

Seit zwei Wochen bin ich wegen Corona im Homeoffice. Eigentlich konnte ich immer gut zuhause arbeiten. Im Büro erledige ich gerne Administratives, mache Ausdrucke und Kopien, bringe mich bei Zigarettenpausen mit Kollegen auf den neuesten Stand. Lesen, Schreiben, Seminarplanung habe ich schon immer besser zuhause gemacht. Aber seit Tagen geht nichts. Ich fühle mich niedergeschlagen, bin mit mir selbst unzufrieden. Ich fühle mich lahmgelegt und haltlos, finde nicht in meine Routinen zurück. Über allem schwebt die Ungewissheit, was da eigentlich gerade passiert und ob es überhaupt lohnt, heute zu arbeiten. Möglicherweise braucht diese Arbeit morgen niemand mehr. Sollten nicht gerade jetzt andere Dinge wichtiger sein als die Arbeit? Das soziale Engagement? Ich habe den Anspruch, diese Ausnahmesituation irgendwie zu gestalten, aber sie gestaltet mich und ich bin einfach nur passiv. Dass ich mit dieser Passivität reagiere, beschämt mich. Ich sollte doch pro-aktiv in die neue Situation hineingehen, kann sie aber nur aussitzen. Mir fehlt ein Handlungsleitfaden, ich bin ängstlich und besorgt, total blockiert. Ich war noch nie ein Angsthase, so kenne ich mich nicht. Was ist denn da los? Unsicherheit durch Ungewissheit.

Sozialleben:

Meine alten Eltern, die zwei Orte weiter wohnen, machen mir Sorgen. Wir haben einen engen Kontakt, normalerweise besuche ich sie jede Woche. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich darauf bestehen soll, für sie einkaufen zu gehen, oder darauf, direkten Kontakt in der nächsten Zeit konsequent zu vermeiden. Tut ihnen das weh? Enttäusche ich sie damit? Ich glaube nicht, dass, wenn wir uns erstmal gegenüberstehen oder ich einen Moment zu lange bleibe, wir die soziale Distanz von 1,50 m einhalten. Ein Reflex, eine Umarmung… Ich habe auch kein Auto. Das müsste ich erst bei ihnen abholen, sie haben zwei. Aber dazu müsste mich wiederum mein Vater erst mit dem einen Auto abholen, weil niemand aus meiner Familie, ich eingeschlossen, den ÖPNV benutzen will, und ich bin keine Radfahrerin, mein Rad ist seit Monaten in einem desolaten Zustand. Die 13 Kilometer bis zu meinen Eltern kommen mir sehr weit vor. Das ist mir alles schon zu kompliziert. Ich schäme mich, dass ich nicht sagen kann: Ich tue jetzt ALLES für euch. Sie entscheiden dann selbst. „Besser kein Kontakt“, sagt meine Mutter später am Telefon sehr niedergeschlagen. Sie ist traurig, meint, dass es keine schöne Welt mehr ist, in der wir leben.

Mein Kopf bleibt dumpf. Ich sollte einen wissenschaftlichen Artikel überarbeiten. Es braucht nur noch kleinste Änderungen, aber ich fühle mich nicht in der Lage dazu. Ich telefoniere mit einer Freundin. Alle haben jetzt so viel Zeit zum Telefonieren und ich bin froh, dass ich durch meine unzähligen Umzüge längst gelernt habe, Freundschaften über lange Distanzen durch intensive Telefonate aufrechtzuerhalten. Deswegen kommen mir die ausgedehnten Gespräche mit meinen Freundinnen nicht ungewöhnlich vor. Mir fällt nur auf, dass es jetzt noch mehr Telefonate sind. Die Freundin, mit der ich jetzt telefoniere, ist selbstständig und arbeitet unter anderem als Coach. Im Gespräch sprüht sie vor Energie, obwohl ihr alle Trainings, für die sie von verschiedenen Unternehmen gebucht war, weggebrochen sind. Die letzten Tage sei sie rund 500 km mit dem Rennrad gefahren. Gerade ist sie mit einem Blogbeitrag zum Thema Angst beschäftigt. Den hat sie noch schnell fertig gemacht und online gestellt, bevor sie mich angerufen hat. Ich fühle mich wieder schlecht, unproduktiv und nutzlos. Mit der zusätzlichen Zeit zuhause, in der einige meiner Freundinnen etwas Neues, Positives sehen, weiß ich nicht wirklich etwas anzufangen. Ich bin kinderlos und mit einem Teilzeitvertrag habe ich sowieso immer das Gefühl, im Vergleich zu anderen viel Zeit für mich zu haben. Viel Zeit zuhause ist für mich nichts Neues, wohl aber die Frage, ob ich diese Zeit sinnvoll nutze. Einen Nachmittag mit Filmen oder Musikhören zu verbringen, war immer okay. Jetzt ist es das für mich nicht mehr. Ich muss doch etwas tun! Jetzt muss ich die Zeit sinnvoll nutzen.

Da mein abendlicher Einkauf wegen Heuschnupfen entfällt, rufe ich vom Handy meine Schwester an, die gegen 20 Uhr am besten zu erreichen ist. Sie hat zwar auch Homeoffice verordnet bekommen, arbeitet aber immer wie ein Tier, so auch in der Coronakrise. Sie ist eine ziemlich wichtige Personalmanagerin bei einem Pharmaunternehmen in der Schweiz. Wegen der Grenzschließung wird es vorerst kein Wiedersehen geben. Irgendwie ist sie auch beim Telefonat die Managerin und schaltet ungewohnter Weise auf Lautsprecher um, damit auch mein Schwager Teil des Gesprächs ist. Das macht sie sonst nie, jetzt aber ganz selbstverständlich, was mich extrem irritiert. In Zeiten von Social Distancing sind Lösungen gefragt, die Nähe aufrechthalten. Sie will beim neuesten Trend gleich wieder vorne mit dabei sein. Mir würde ein ganz normales Telefonat wie immer reichen. Ich würde mich ihr sogar näher fühlen, wenn mein Schwager nicht mithören müsste – ich bin mir sicher, er muss – aber meine Schwester ist schon wieder einen Schritt weiter als ich.

Sie schlägt mir vor, und dass habe sie auch unseren Eltern schon gesagt, dass wir ja in nächster Zeit wieder öfters über Skype oder Facetime telefonieren könnten, wie wir es während ihrer zahlreichen und längeren Arbeitseinsätze im Ausland gemacht haben. Die Telefonnetze seien ja ohnehin zunehmend überlastet. Wenn sie im Ausland war, hatten wir allerdings streckenweise über Monate wegen Zeitverschiebungen überhaupt keinen Kontakt. Ich denke, dass sie als Managerin, die die Zukunftsfähigkeit ihres Unternehmens als eigene Aufgabe sieht, glaubt, dass man mit den Dingen, die kommen könnten, heute schon anfängt, um sich daran zu gewöhnen. Nur wer sich anpassen kann, überlebt. Change Management par excellence. Ich fühle mich defizitär, weil ich mich offensichtlich nicht so leicht an die neue Situation anpassen kann. Andererseits sehe ich bei unserem Telefonverhalten aber auch keinen dringenden Bedarf für Veränderung. Mein Lebenslauf ist eine fortlaufende Chronik der Veränderung, an Bereitschaft mangelt es grundsätzlich nicht. Aber bei Corona weiß ich heute noch gar nicht, worin die Veränderung genau besteht und wie lange welche Veränderungen Bestand haben werden. Und Facetime hat mir noch nie mehr Nähe gegeben als ein klassisches Telefonat. Es ist nur billiger, speziell bei Auslandskontakten. Eine Person, die ich begehre, würde ich vielleicht sehen wollen. Bei engen Vertrauten hingegen finde ich es sogar angenehmer, einfach nur zu telefonieren. Mit etwas Übung lässt sich aus Stimmen viel raushören und ich persönlich lasse mich sogar ausgesprochen gerne in ein Thema fallen, eben wenn ich mich nur auf Worte konzentrieren kann und nicht noch darauf, wie ich dabei aussehe. Ich bin es so gewohnt. Vielleicht habe ich doch ein Problem mit Veränderungen, zumindest wenn es an meine Routinen geht.

Beziehung:

Seit fünf Wochen habe ich nach eineinhalb Jahren Singledasein eine unverbindliche Beziehung mit Maik. Einfach mal schauen, was daraus wird. Aus verschiedenen Gründen würde ich ihn mir nicht für eine feste Beziehung aussuchen (dass er vegan lebt, ich aber nicht, habe ich allerdings schon wieder von der Liste gestrichen, er ist sehr tolerant). Aber: Dieser neue Mann in meinem Leben ist der einzige Mensch, mit dem ich mich in den letzten zwei Wochen getroffen habe. Mein einziger Kontakt. Seit wir uns kennen, verbringen wir jedes Wochenende zusammen. Er gibt mir Ruhe und Geborgenheit, binnen kürzester Zeit sind wir zu engen Vertrauten geworden. Ich musste mich entscheiden, ob ich ihn weiter treffe oder ob der Kontakt ein zusätzliches Risiko bedeutet. Weniger für mich, sondern wenn ich in nächster Zeit dann doch mal bei meinen Eltern sein sollte. Er geht weiterhin arbeiten und hat zwei Teenager Kinder, die ihn regelmäßig besuchen. Meine Schwester meinte: Pass auf! Wie soll ich denn da aufpassen? Aufpassen geht nicht, nur zusammen sein oder nicht. Wäre er mein fester Partner, würde niemand unser Zusammensein infrage stellen. Eine neue Bekanntschaft steht aber jetzt zur Disposition. Maik und ich verabreden uns für Freitag, ich werde bis Sonntag bei ihm bleiben. Ab nächster Woche hat er zwei Wochen Corona bedingten Urlaub.

Abends chatte ich, wie es nun zur Gewohnheit geworden ist, über Telegram mit Maik, bevor er ins Bett geht. Er hat kein enges Verhältnis zu seiner Mutter, aber sogar er hat heute mal bei ihr angerufen, um zu fragen, wie es ihr geht. Anscheinend braucht sie keine Unterstützung. Ich teile im Chat meine Sorge darüber, dass sich meine Mutter heute so niedergeschlagen angehört hat. Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich meine Mama zum Lachen bringe, sie unterhalte. Als letzten Gruß schickt Maik mir einen Link zu den neuen Corona Infos für Freiburg: Ab morgen eingeschränkte Ausgangssperre, nicht mehr als zwei Menschen zusammen erlaubt, kein Betreten öffentlicher Plätze.

Daily Life:

Es klingelt, Paket. Ich habe in den letzten Tagen einiges online bestellt. Wiederum mit schlechtem Gewissen. Belaste ich notwendige Infrastrukturen damit? Setze ich die Paketboten einem unnötigen Risiko aus? Oder ist es gut, die Wirtschaft wenigstens mit Onlinekäufen am Laufen zu halten? Schlimmster Gedanke: Missbrauche ich die Quasi-Quarantäne als Vorwand für meinen Alkoholismus? Als alle Welt schon Klopapier hamsterte, habe ich mir Sorgen um Alkohol und Zigaretten gemacht – und dann 12 Falschen Rotwein bestellt. Wie gesagt, Getränkeeinkäufe in größeren Mengen sind für mich immer schwierig, aber eigentlich bestelle ich nur einmal im Jahr einen Karton Rotwein und zwar zum Winter. Wie auch immer. „Paket“ ist alles, was ich über die Gegensprachanlage höre. Ich drücke den Türöffner. Ich wohne im dritten Stock, wie üblich gehe ich zum Aufzug vor, um meine Lieferung in Empfang zu nehmen. Diesmal achte ich darauf, einen Abstand von 1,50 m zwischen dem Boten und mir einzuhalten. Ich warte auf ein Minisignal, dass ihm das auch gewahr ist. Ist es aber nicht. Er tritt auf mich zu und fängt aufgeregt an zu erklären, dass auf dem Paket zwei Empfängeradressen stehen, vielleicht ist es nicht meins, er weiß auch nicht, notfalls soll ich bei Amazon nachfragen. Erst als er mir Stift und Scanner für die elektronische Unterschrift hinhält und ich ein Stück zurückweiche, zuckt er kurz.

Zurück in der Wohnung desinfiziere ich sofort meine Hände. Nachdem ich letzte Woche gehört habe, dass Alkohol ab 70% das Coronavirus tötet, habe ich mir eine Flasche Klosterfrau Melissengeist gekauft und in eins dieser kleinen Reisefläschchen aus der Drogerie abgefüllt. Zuvor hatte ich noch gegoogelt, ob bereits jemand anderes an Klosterfrau gedacht hat, wo doch die Desinfektionsmittel ausgehen, und tatsächlich einen Artikel von einem Apotheker gefunden. Ich benutze das Zeug auch zuhause wie jetzt. Geht schneller als jedes Mal 30 Sekunden Händewaschen. Am Ende ist es nicht mein Paket, ich habe keine Antirutsch-Teppichunterlage bestellt. Ich habe aber eine Aufgabe gefunden, die ich lösen kann. Ich will alles dafür tun, dass die andere Empfängerin ihre Bestellung bekommt und rufe bei Amazon an. Die Dame am Ende der Kundenhotline weiß aber auch nicht recht, was zu tun ist. Ich soll drei Tage warten, würde in dieser Zeit eine Mail bekommen. Wahrscheinlich kann ich es einfach behalten. Die Aktion hat mir gutgetan. Ich habe etwas gemacht, das auch für jemand anderen von Interesse war. Zumindest weiß Amazon jetzt, dass die Lieferung an Frau X schiefgegangen ist und kann alles Erforderliche in die Wege leiten.

Unter meinem Balkon wird gemäht, was bei mir eine Heuschnupfenattacke mit Niesanfällen auslöst. Das hält bis zum Abend an, weswegen ich mich später dagegen entscheide, noch einkaufen zu gehen. Da hätten dann wahrscheinlich alle Angst vor mir.

Bevor ich ins Bett gehe, bestelle ich noch schnell atmungsaktive Handschuhe mit Touchscreenfunktion bei Amazon. Ich habe nur Winterhandschuhe aus Lederimitat. Das wird schwitzig und vielleicht ist es ganz gut, wenn ich darauf vorbereitet bin, mein Handy in Zukunft mit Handschuhen zu bedienen. Die Erreger sollen sich ja bis zu 72 Stunden auf bestimmten Oberflächen halten können. Amazon begrüßt mich mit dem Hinweis, dass es in meiner Region zu Lieferverzögerungen kommen kann. Voraussichtlicher Liefertermin: zwischen 1. und 4. April.

Medien:

Im Deutschlandradio läuft ein Beitrag, in dem solidarische Angebote angesprochen werden, die gerade überall entstehen. Die Tafeln richten einen Onlinedienst ein, um Bedürftige weiter zu versorgen, die sich sonst in den Räumlichkeiten der Tafeln treffen, die nicht nur Versorgungspunkt, sondern auch soziale Anlaufstelle sind. Das geht jetzt nicht mehr. Ich gehe ins Internet und finde auf Spiegel online einen passenden Artikel.

Auszüge:

Auf der Nachbarschaftsbörse „nebenan.de“ schrieb eine Frau, sie würde größere Mengen Suppen oder Eintöpfe kochen und die gern mit Menschen teilen. Ein Mann bot an, Einkäufe für diejenigen zu erledigen, die über 65 Jahre alt sind oder ein schwaches Immunsystem haben.

Auf Twitter und Instagram posten Tausende unter Hashtags wie „#nachbarschaftschallenge“ oder „#coronahilfe“ ihre Hilfsangebote. Auf Facebook bilden sich neue Gruppen wie „Coronahilfe Hamburg“ oder „Solidarität statt Hamsterkäufe – Corona Support Magdeburg“.

Auf Internetseiten wie „lasshelfen.de“ können Menschen Aushänge für das Treppenhaus erstellen, um ihre Hilfe anzubieten. Überall Schlaglichter der Solidarität!

Ich bin kein Schlaglicht der Solidarität. Ich mache nichts, fühle mich aber genötigt, zu überlegen, was ich tun könnte. Ich bin nicht mobil. Ohne Auto bin ich froh, den Einkauf für mich selbst weitgehend so zu erledigen, dass ich nicht wie sonst jeden Tag einkaufen gehen muss. Aber Telefonieren kann ich gut, und Zuhören. Ich könnte mich als Ansprechpartnerin für einsame alte Menschen irgendwo eintragen. Vielleicht zusammen mit dem Angebot, Dinge im Internet zu recherchieren. Ein Hauptproblem scheint ja zu sein, dass viele Corona-Angebote und Nachrichten digital verbreitet werden und die Risikogruppe der Älteren nicht wirklich erreichen. Vielleicht sollte ich die neue freie Zeit aber besser dafür nutzen, mir nochmal Gedanken über meinen weiteren Berufsweg zu machen. Die Zitterpartie an der Uni mit dreimonatigen Verlängerungsverträgen kann kein Dauerzustand bleiben und ein längerfristiger Arbeitsvertrag ist nicht in Sicht. Meinen Plan, ins Gesundheitswesen einzusteigen, kann ich jetzt wohl auch erstmal knicken. Schon wieder Rauschen im Kopf. Wie soll ich denn jetzt meine Karriereplanung in Angriff nehmen? Wie wird der Arbeitsmarkt nach Corona aussehen? Es macht überhaupt keinen Sinn, jetzt zu planen. Oder macht es gerade jetzt Sinn? Kann ich die Situation vielleicht sogar für mich nutzen, wenn ich nur die richtige Idee hätte? Was könnte nach der Corona Krise gebraucht werden? Könnte ich jetzt etwas aufbauen, was mich später beruflich trägt? Wieder Kopfweh. Wie kann ich angesichts der Solidaritätsbewegung solche berechnenden Gedanken anstellen! Die Krise mit einer guten Idee in einen persönlichen Vorteil verwandeln zu wollen, erscheint mir überhaupt nicht solidarisch. In diesem Sinne habe ich zum Glück keine gute Idee.

Ich wende mich meinem aktuellen Lieblingsrecherchethema zu: Wo liegt der Ursprung von Corona? Bereits vor einigen Tagen habe ich im Bekanntenkreis leise gesagt, ohne es zuvor als Verschwörungstheorie aufgeschnappt zu haben!, dass ich es der Chinesischen Regierung zutraue, mit Corona einen verdeckten Wirtschaftskrieg zu führen. Das Zwinkerauge dabei war nur ein sozialer zweiter Boden, damit, wer will, das ironisch aufnehmen kann. Ich glaube das im Moment aber wirklich. Viele Länder werden nach der Coronakrise meiner Meinung nach wirtschaftlich am Boden liegen und dann gehen die Chinesen in der Welt einkaufen.

Seit ich in der internationalen Presseschau im Deutschlandradio gehört habe, wie sich die Chinesische Regierung in der Staatspresse für die Vorzüge eines diktatorischen Zentralstaats bei der Bekämpfung der Epidemie feiert und Amerika und Europa großes Versagen vorwirft, fühle ich mich bestätigt. Die Chinesische Regierung benutzt Corona, um ihre diktatorische Politik zu rechtfertigen, zu bejubeln, und wer weiß, wofür sonst noch.

Ich finde einen Beitrag auf tageschau online: Gerüchte und Fakes: Coronavirus als angebliche Verschwörung. In dem Beitrag vom 28.01.2020 heißt es, dass es nicht erwiesen sei, dass das Virus wirklich von dem Wildtiermarkt in Wuhan stamme. Vielleicht kommt es auch aus dem dortigen Virenlabor – was eher meiner Vermutung ich entspricht.

Auszug:

Richtig ist, dass in der Stadt Anfang 2015 tatsächlich das „Wuhan Virologie-Institut“ eingeweiht wurde – das bislang einzige offizielle chinesische Labor der biologischen Schutzstufe 4. Nur diese Hochsicherheitseinrichtungen dürfen mit Biostoffen der höchsten Risikogruppe arbeiten, die laut der Biostoffverordnung „eine schwere Krankheit beim Menschen hervorrufen und eine ernste Gefahr für Beschäftigte darstellen“. Hierzu zählen beispielsweise Erreger von Ebola, Pocken oder SARS. Im Wissenschaftsmagazin „Nature“ äußerten bereits 2017 Experten Bedenken über mögliche Sicherheitslücken des Instituts. Bislang wird davon ausgegangen, dass das neuartige Coronavirus seinen Ursprung auf dem Wildtiermarkt in Wuhan hatte, der Anfang des Jahres geschlossen wurde. Einen Nachweis dafür gibt es allerdings noch nicht.

Neuere Nachrichten darüber, dass China nun den USA vorwirft, für den Corona-Ausbruch verantwortlich zu sein, kann ich gar nicht glauben. Für mich sind die Chinesen schuld! Ob gewollt – ich traue ihnen das zu – oder durch einen Unfall. Ich weiß, dass mein wissenschaftliches Ich nicht so denken darf, auch nicht mein humanistisches. Und ich weiß auch eigentlich nichts über China, außer dem, was andere über die Chinesen sagen wie die Medien. Als ich vor einigen Jahren in Äthiopien war, war ich besorgt, wieviel afrikanisches Land sich bereits in chinesischen Händen befindet. Als meine Eltern letztes Jahr von einer Reise nach Sibirien zurückkamen, berichteten sie, dass die Einheimischen ganz schlecht auf die Chinesen zu sprechen wären, die in Reisebussen angekarrt würden, sich ignorant und unmöglich verhielten und zu allem Überfluss von ihren Reiseleitungen erzählt bekämen, dass der Baikalsee chinesisch sei. Die Chinesen wollen Land, wollen immer mehr Welt. Corona kommt für mich von der Chinesischen Regierung. Das Virenlabor in Wuhan bleibt für mich die plausibelste Ursprungsstätte.

Hoffentlich rastet Trump jetzt nicht völlig aus, wenn Peking den Schwarzen Kater ins Weiße Haus schiebt. Wenn das passiert, ist Corona nur der Anfang einer ganz anderen Katastrophe. Kann es zu einem Krieg kommen? Wahrscheinlicher ist wohl, dass sich auch Trump infiziert. Das wären ja mal gute Nachrichten.

Zum Abschluss des Tages schaue ich die heutigen Tagesthemen in der Mediathek. Einige Berichte aus Italien, darunter ein Bild von einer Menschenschlange vor einem Supermarkt. Die Menschen stehen mit einem Abstand von ca. 1 Meter hintereinander, haben Handschuhe an und Tücher oder ähnliches über Mund und Nase. Die Männer sehen wie Bankräuber aus. Eigentlich will ich noch die angezeigte Reportage von Frontal 21 zum CumEx Skandal anschauen, merke aber nach wenigen Minuten, dass mich das Thema Steuerbetrug, für das ich mich sonst immer sehr ereifern kann, heute gar nicht interessiert. Die 50 Milliarden CumEx Euro werden nach der Coronakrise fehlen, vielleicht sind das dann aber auch nur Peanuts.

Quellenmaterial:

Spiegel online: Solidarität in Zeiten von Corona: Die lieben Nachbarn. https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/coronavirus-solidaritaet-in-zeiten-von-corona-die-lieben-nachbarn-a-8f44f39d-f8c8-4002-9f2f-7b47a3c5a39c [Aufruf: 19.03.2020]

Apotheke-adhoc: Kein Scherz: 4711 und Melissengeist als Händedesinfektion. https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/apothekenpraxis/kein-scherz-4711-und-melissengeist-als-haendedesinfektion-coronavirus/ [Aufruf: 16.03.2020]

Tagesschau online: Gerüchte und Fakes: Coronavirus als angebliche Verschwörung. https://www.tagesschau.de/faktenfinder/fakes-geruechte-coronavirus-101.html [Aufruf: 12.03.2020]

Tagesschau online: Begrenzte Ausgangssperre in Freiburg. https://www.tagesschau.de/inland/freiburg-ausgangssperre-101.html [Aufruf: 19.03.2020]

Meine heutige Onlinebestellung: Atmungsaktive Handschuhe mit Touchscreen-Funktion, Screenshot von meinem Rechner:

 

Freitag, 20. März 2020
Zukunft spielen oder die Zukunft aufs Spiel setzen?

Arbeitssituation:

Mein Wecker klingelt um 9:15 Uhr. Wenn man mich lässt, verschiebt sich mein Rhythmus immer bis tief in die Nacht, dementsprechend spät stehe ich auf. Die ersten Tage im Homeoffice bin ich nicht vor elf aufgestanden, die letzten Tage allerdings wieder etwas früher. Gestern habe ich beschlossen, mir den Wecker zu stellen. Ich fühle mich gut. Mein Spiegel Newsticker zeigt keine wirklich wichtigen neuen Nachrichten.

Bevor ich wie sonst an meinem Laptop das Internetradio einschalte oder ZDF oder ARD aufrufe, checke ich die Mails auf meinem Uniaccount. Ich freue mich sehr über eine Mail vom Projekt Corona Diaries. In meiner eigenen Vorwurfsmisere, wie ich die Zeit am besten nutze, was ich tun kann, kommt mir diese Aufgabe gerade recht. Ich freue mich und will unbedingt bei den Corona Diaries für Curare mitmachen. Ich setze meinen ersten Tagebucheintrag als Belohnung aus. Erst den wissenschaftlichen Artikel überarbeiten, dann Corona Diaries. Die Überarbeitung des Beitrags geht schneller als gedacht. Es sind tatsächlich nur noch Kleinigkeiten und ich kann mich heute wieder besser konzentrieren.

Medien & Sozialleben:

Nachdem ich den überarbeiteten Artikel verschickt habe, bekomme ich über Threema eine Nachricht von einer Freundin. Darin ist ein Link zu einem Onlineartikel von einem Matthias Horx mit dem Kommentar „schöner Artikel“ und einem erhobener-Zeigefinger-Emoticon. Ich lese den Artikel. Die Idee von Horx ist, sich gedanklich in die Zeit nach Corona zu versetzen. Im Artikel ist das der Herbst 2020 und eigentlich ist die Idee von Horx, sein Beraterprogramm zu verkaufen.

Auszug:

Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können. Dafür möchte ich Ihnen eine Übung anbieten, mit der wir in Visionsprozessen bei Unternehmen gute Erfahrungen gemacht haben. Wir nennen sie die RE-Gnose. […] Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre führten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen.

Uhhh, ich kann damit gar nicht. Ich reagiere zunehmend allergisch auf diese Coaching Narrative, dass Probleme Chancen sind, dass positives Denken zum Erfolg führt, dass die Welt oder das Universum einem zurückgeben, was man in sie hineinträgt. Das Horx-Rezept für „Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung“ macht mich passiv aggressiv. Horx schreibt:

Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. – Ich denke auch, dass es irgendwann ein Medikament geben wird. Die aktuelle Turbosuche nach einem Impfstoff ist notwendig. Allerdings werden dafür auch mal eben Regularien in der medizinischen Forschung ausgesetzt, wie Fristen und Langzeitbeobachtungen bei Versuchen an Menschen. Ferner: Leider kann Horx den Namen des Patenthalters in der Zukunft nicht lesen. Man sollte jetzt Aktien kaufen!

Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt. (…) Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. – Aus fachlicher Sicht: Technologie IST Kultur. Davon abgesehen zeigt sich doch gerade jetzt, wie wichtig Technik z.B. im Sinne von Digitalisierung ist. Die human-soziale Intelligenz ist gerade jetzt in hohem Maße auf eine funktionierende technische Infrastruktur angewiesen.

Meine Lieblingswundertüte: Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten. – Die Börsenverluste werden verdammt schmerzen. Die wirtschaftlichen Folgen von Corona sind noch gar nicht abzusehen. Eine weitere Freundin schrieb mir heute schon, dass sie Angst um ihren Job hat. Ich frage mich die ganze Zeit, was Corona eigentlich für die Krankenkassen und zukünftigen Renten bedeutet. Viele Menschen werden Geld und Arbeit verlieren, gleichzeitig wird es viele finanzielle Löcher zu stopfen geben. Wie soll das gutgehen? Wenn Vermögen in Zukunft keine entscheidende Rolle spielt, hat das aus meiner Sicht andere Gründe: 1. Es hat schon vorher keine große Rolle gespielt, im Einzelfall, weil man immer wenig hatte oder wollte. 2. All diejenigen, die ihr Vermögen verloren haben, haben früh genug Positives Denken bei Matthias Horx gelernt. Das Programm „Glücklich auch ohne Geld“ lässt sich Horx bestimmt gut bezahlen.

Ach, wird das eine schöne neue Welt sein nach Corona. Danke Corona! Du bringst positive Veränderungen und Erkenntnisse. Endlich können wir uns wieder aufs Wesentliche konzentrieren und bei einem Herrn Horx bleibt das nun mal, Achtung: schlechte Nachrede, das eigene Bankkonto. Inszenierter Optimismus kitzelt immer meinen Pessimismus. Sicherlich werden wir uns in diesen Zeiten wieder auf ein paar grundlegende Dinge des Zusammenlebens besinnen. Wir werden uns in dieser Zeit wieder unserer Sozialbeziehungen bewusst, die anders organisiert werden müssen. Wir spüren, wessen Anwesenheit uns fehlt, bei wem man keine physische Präsenz braucht, weil die Beziehung auf einer anderen Ebene funktioniert, aber auch, wen man durch die neuen Anforderungen vernachlässigt, wer keinen Platz hat, wenn Direktkontakte ausgezählt werden. Und Geld spielt nach Corona nur keine Rolle mehr, wenn die Pandemie es schaffen sollte, dass die Finanzsysteme weltweit zusammenbrechen und wir wieder Tauschhandel auf kleinster Ebene betreiben, aber das traue ich selbst Corona nicht zu (doch das Gedankenspiel ist interessant, geradezu fantastisch, denn in meiner Vorstellung bricht ja immer nur die Vorherrschaft der Kapitalakkumulation zusammen, viele Annehmlichkeiten bleiben aber auf wundersame Weise erhalten. Es gibt viele Menschen, die schon lange gelernt haben, lernen mussten, glauben müssen, dass Geld nicht die wichtigste Rolle im Leben spielt, weil sie wissen, dass sie nie viel davon haben werden. Ich wohne als wissenschaftliche Mitarbeiterin, also angestellt im öffentlichen Dienst in Teilzeit, in einem Einzimmer-Apartment, weil das in einer der teuersten Mietstädte Deutschlands meinem Budget entspricht. Ich habe keinen Gemüsegarten und sehe mich auch längerfristig nicht in der Lage, in Freiburg einen kaufen zu können. Bei der Urban Gardening Truppe kann ich gerade auch nicht einsteigen, ich darf ja keine anderen Menschen treffen. EIN BLÜHENDER GEMÜSEGARTEN IST SCHON JETZT VERMÖGEN! Bleibt noch die Hoffnung, dass uns Corona einen funktionierenden Kommunismus bringt und der Gemüsegarten von Herrn Horx dann auch mein Gemüsegarten ist. So schön die Vorstellung manchmal ist, aber wenn Geld aufgrund einer wirtschaftlichen Krise keine entscheidende Rolle mehr spielt, wird das auch die Sozietät auf eine harte Probe stellen.

Trotz allem Pessimismus versuche ich der Coronakrise jetzt auch mal etwas Positivem abzugewinnen. Ich mache endlich mein Rad fit, um zu Maik zu fahren.

Quellenmaterial:

Matthias Horx (Trend- und Zukunftsforscher, Publizist und Visionär): Die Welt nach Corona: Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise „vorbei” ist. https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/ [Aufruf: 20.03.2020]

 

Samstag, 21. März 2020
Manche sind gleicher

Beziehung:

Ich bin bei Maik, das ist schön. Die neue Verbindung ohne Routinen lässt Corona weit weg erscheinen. Diese Veränderung mag ich sehr, es ist eine neugierige Entdeckungsphase. Auch ohne Corona würde ich mich wie in einer Blase fühlen. Zwei Menschen lernen sich kennen und zwar ziemlich intensiv. Das schiebt die Welt draußen wohl immer ein Stück weit weg.

Sozialleben & Medien:

Ich hatte den Horx Artikel über die Corona Re-gnose gestern an meine coachende Freundin weitergeleitet, weil ich dachte, sie findet da bestimmt Anregungen für ihre Projekte. Sie hatte geantwortet: „Danke, kannte ihn schon und mag die Ansätze.“ War ja klar. Heute denkt sie an mich und schickt mir den Link zu einem Artikel von „der Freitag“ mit der Überschrift „Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt“. Danke, das ist eher meins. Der Artikel lenkt den Blick vielmehr auf das Jetzt, was mir mehr liegt als die Horxsche Kristallkugel.

Auszug:

Wir wollen so vorgehen und uns […] fragen, welche Tendenzen wir derzeit auf dem Feld der Demokratie, des Neoliberalismus und der Solidarität beobachten können. […] Die Zukunft wird nicht in der Rückkehr zu einer vor-coronalen Normalität bestehen, sondern Corona ist ein geschichtliches Ereignis, das bleibende Umwälzungen nach sich ziehen wird. Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt, die Weichen werden in der beginnenden Wirtschaftskrise, der Entwicklung der sozialen Infrastruktur, der Geltung von Menschenrechten und dem Fortgang der Demokratie gestellt. Und gleichzeitig ist der Eingriff nicht nur eine autoritäre Gefahr, sondern trägt auch Züge einer politischen Ermächtigung gegen die neoliberale Governance, in der eine historische Chance liegen kann, wenn sie demokratisch und transnational ausgestaltet wird.

Wenn es mir so präsentiert wird, kann ich die Chance in der Situation sehen. Ja, vielleicht erinnert Corona die Menschen wieder daran, dass sie zusammenhalten müssen und dass Risiken, die keine Klassenunterschiede kennen und vor nationalen Grenzen nicht Halt machen, auch von allen gemeinsam gemeistert werden müssen. Wobei dieser Gedanke auch gleichzeitig immer hinkt, weil auch jetzt wieder einige mehr und andere weniger betroffen sind. Corona bedroht zwar alle gleich als Virus, aber es macht nicht alle gleich. In gewisser Weise hebt Corona bei aller Gleichmacherei des gesundheitlichen Risikos gesellschaftliche Unterschiede umso mehr hervor. Corona unterteilt die Gesellschaft in Risikogruppen, die sterben können, und junge Menschen, denen es scheinbar nichts anhaben kann. Das Projekt-Kind ist zum potenziellen Todesboten mutiert. Corona macht Unterschiede in Beschäftigungsverhältnissen deutlich, wenn die einen noch zur Arbeit erscheinen müssen, andere im Homeoffice sitzen und wieder andere jetzt schon um ihren Job oder ihre Existenz bangen. Und dabei bleibe ich: Die Zeit nach Corona wird mehr von Unterschieden gezeichneten sein als von Solidarität. Die Unterschiede, die es vor Corona gab, werden nach Corona noch deutlicher zu sehen sein.

Ich glaube nicht, dass ein Virus den Neoliberalismus bändigt. Ich glaube, das Virus wird neoliberale Muster stärken. Hat die Finanzkrise die Welt zu einer weniger neoliberalen Welt gemacht? Wohl kaum.

Ich erinnere mich an einen Beitrag von Patrick Schreiner in seinem Buch „Warum Menschen sowas mitmachen. Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus“. In Kapitel 13 heißt es mit Bezug auf das Buch „Die Schock Strategie“ von Naomi Klein: „In vielen Fällen nutzen interessierte Eliten Situationen wie Naturkatastrophen, Terroranschläge, Staatsstreiche und Kriege, um eigenmächtig, undemokratisch und oft gewaltsam neoliberale Instrumente und Regeln durchzusetzen. Gerade solche Krisen ermöglichen es ihnen, mit der vorherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik radikal zu brechen.“ In seiner Rede an die französische Nation bezeichnete Präsident Macron die Coronakrise als Krieg, in den Medien hat sich die Bezeichnung „Naturkatastrophe“ etabliert. Die ersten großen Verschwörungstheorien sind auf dem Vormarsch, flankiert von rechtsextremen Gruppierungen, die auf eine politische Umwälzung hoffen. Verfassungsgegner haben Witterung aufgenommen und auch ich glaube an eine Verschwörung, bei der Puppenspieler eben diese Kräfte zu ihren Marionetten machen.

Abgesehen davon muss ich zu einem anderen Zeitpunkt nochmal über die Bezeichnung von Corona als „Naturkatastrophe“ nachdenken. Corona ist für mich nicht vergleichbar mit einem Vulkan, der plötzlich ausbricht, oder mit einem Meteoriten, der auf der Erde einschlägt, out of the blue. Corona reiht sich für mich aber auch nicht ganz in die Art von Katastrophen ein, die sich auf den durch die Menschen verursachten Klimawandel zurückführen lassen, wie Dürren oder Überschwemmungen. Die müssten, wenn der Verursacher der Mensch ist, ohnehin Menschenkatastrophen heißen. Was ist Corona? Etwas, das sich in der Natur unabhängig vom Menschen als Mutation ereignet hat, oder etwas, das am Ende ebenfalls der Mensch selbst mitverursacht hat, weil er eine Fledermaus gegessen oder im Labor nicht aufgepasst hat? Die Verbreitung ist menschengemacht, aber ob es auch die Existenz an sich ist?

Daily Life:

Nachmittags machen Maik und ich einen Spaziergang, damit wir nicht nur drinnen hocken und etwas Bewegung bekommen. Außerdem brauchen wir Brot. Wir entschließen uns, etwas im Edeka hinter dem Bahnhof einzukaufen. Zum ersten Mal sehe ich heute Klebestreifen auf dem Boden, damit die Menschen an der Kasse den erforderlichen Abstand zueinander einhalten. An der Bäckertheke stört mich, dass die Verkäuferin so dicht über der Auslagenware hängt. Ihr Oberkörper lehnt auf ihren Armen, die sie auf der Theke verschränkt hat, als sie zur Begrüßung ein „Nichts los heute“ in die Teilchen direkt unter ihr spricht.

Abends hat Maik zum ersten Mal eine Videokonferenz. Er ist aktives Mitglied in einem Kulturverein. Im Gegensatz zu anderen Eventanbietern muss sich der Verein angesichts des Veranstaltungsverbots weniger große Sorgen machen. Trotzdem aber Sorgen. Abends gibt es daher eine virtuelle Mitgliederkonferenz über ein bestimmtes Konferenzprogramm, dass irgendjemand, der sich mit sowas auskennt, vorgeschlagen hat. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie lange der Verein ohne Einnahmen durch Veranstaltungen finanziell stabil ist, und vor allem, wie lange die zwei festangestellten Teilzeitkräfte noch beschäftigt werden können. Für Maik ist die Teilnahme an der Videokonferenz allerdings nur eingeschränkt möglich, weil seine Heimtechnik für sowas nicht eingerichtet ist. Das Programm findet sein Mikrofon nicht, der Rechner hat nicht genug Kapazität, die Bandbreite reicht nicht für die Videoübertragung. Der Bildschirm-Maik bewegt sich in minimal Stock-Motion, die Audio-Beiträge der anderen sind in sehr unterschiedlicher Qualität zu hören. Ungefähr die Hälfte der zwölf Teilnehmer*innen hat technische Probleme. Letztendlich wird das Meeting von denjenigen geführt, die eine passende technische Ausstattung besitzen und sich zudem schnell mit der Bedienung des Konferenzprogramms zurechtfinden.

Quellenmaterial:

Der Freitag online: Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-welt-nach-corona-wird-jetzt-ausgehandelt [Aufruf: 21.03.2020]

Schreiner, Patrick (2019): Warum Menschen sowas mitmachen. Achtzehn Sichtweisen auf den Neoliberalismus. 3. Auflage (2017), PapyRossa Verlag, Köln.

 

Sonntag, 22. März 2020
Pandemisches Patchwork

Familienleben:

Maik hat Sorgen. Er hat einen 19-jährigen Sohn und eine 15-jährige Tochter, das Sorgerecht hat die Mutter, also die Ex von Maik. Ich kenne Maik ja erst seit fünf Wochen, aber seine Kinder waren von Anfang an ein Thema. Kurznachrichten und Anrufe habe ich mitbekommen, einmal die Woche übernachtet seine Tochter bei ihm. Ich habe den Eindruck, wie er es selbst sagt, dass seine Ex und er das insgesamt alles ganz gut hinbekommen. Heute gibt es allerdings Probleme. Maik hat den Eindruck hat, dass Mutter und Tochter mit der Corona Situation recht unbedarft umgehen. Unter anderem hatte er mitbekommen, dass sich seine Tochter noch mit Freund*innen zum Grillen getroffen hatte, als das schon nicht mehr als „solidarisch“ galt. Für die Mutter war das okay gewesen. Jetzt wollen Mutter und Tochter aus unterschiedlichen Gründen, dass seine Tochter wieder bei ihm übernachtet. Das beunruhigt ihn, weil er ja nicht genau weiß, was sie in den letzten Tagen getrieben hat. Das hat er seiner Ex gesagt, sie hat es der Tochter erzählt und heute hängt ein dicker Familienkonflikt in der Luft. Die Tochter schickt ihm eine Sprachnachricht. Ich höre nur „Mama hat gesagt, dass du dich weiter mit deiner Freundin triffst, aber mich willst du nicht sehen“. Ich gehe aus dem Raum.

Patchwork-Familien stehen in dieser Situation nochmal vor einer besonderen Herausforderung. Erstens, weil es unterschiedliche Handhabungen gibt, solange es keine einheitlichen Ansagen gibt, und zweitens, weil sich der Kontaktpersonenkreis unweigerlich potenziert. Seine Ex hat einen neuen Partner, der noch bei seiner Familie lebt, Maik trifft jetzt mich, wen seine Tochter in letzter Zeit alles getroffen hat, weiß er nicht genau. Trotzdem ist es auch in Coronazeiten keine Option, dass ein Vater zu seiner eigenen Tochter sagt: Ich will dich nicht sehen. Es ist vielleicht nur ein leises Beispiel, aber ich denke, dass alternative Familien oder Beziehungsmodelle bei der Krisenbekämpfung nicht wirklich mitgedacht werden. Maik und seine Ex verstehen sich zum Glück als ein Team. Ich kenne aber auch Paare, bei denen die gemeinsame Elternschaft nach der Trennung überhaupt nicht mehr funktioniert, obwohl es regelmäßige Besuche gibt. Vielleicht ist es übertrieben, aber ich denke, solange an die freiwillige Selbstverantwortung appelliert wird, stehen Patchwork-Familien vor einer besonderen Herausforderung, weil sie eben getrennt an einem Strang ziehen müssen. Für Maik war es zumindest eine Erleichterung, als in den Nachrichten am Abend verkündet wurde, dass ab jetzt bundesweit eine Ausganssperre greift und sich Menschen nur noch zu zweit oder als Familie draußen „versammeln“ dürfen. Eine klare, generelle Ansage von oben hat in diesem Fall geholfen.

Politik:

Am heutigen Abend wurde der bundesweite geltende „Neun Punkte Plan“ der Regierung verkündet. Zusammengefasst auf Spiegel online:

  • Die Bürgerinnen und Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren.
  • In der Öffentlichkeit ist, wo immer möglich, zu anderen als den Angehörigen des eigenen Hausstands, ein Mindestabstand von mindestens 1,5 Metern, besser noch zwei Metern einzuhalten.
  • Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet. Verstöße gegen die Kontaktbeschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden und der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert werden.
  • Der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, Einkäufe, Arztbesuche, Teilnahme an Sitzungen, erforderlichen Terminen und Prüfungen, Hilfe für andere oder individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft sowie andere notwendige Tätigkeiten bleiben selbstverständlich weiter möglich.
  • Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen sind angesichts der ernsten Lage in unserem Land inakzeptabel. Verstöße gegen die Kontaktbeschränkungen sollen von Polizei und Ordnungsbehörden überwacht und bei Verstößen sanktioniert werden.
  • Gastronomiebetriebe werden geschlossen. Davon ausgenommen ist die Lieferung und Abholung mitnahmefähiger Speisen für den Verzehr zu Hause.
  • Dienstleistungsbetriebe im Bereich der Körperpflege wie Friseure, Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoostudios und ähnliche Betriebe werden geschlossen, weil in diesem Bereich eine körperliche Nähe unabdingbar ist. Medizinisch notwendige Behandlungen bleiben weiter möglich.
  • In allen Betrieben und insbesondere solchen mit Publikumsverkehr ist es wichtig, die Hygienevorschriften einzuhalten und wirksame Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter und Besucher umzusetzen.
  • Diese Maßnahmen sollen eine Geltungsdauer von mindestens zwei Wochen haben.

Quellenmaterial:

Spiegel online: „Die Einschränkungen sind Regeln, keine Empfehlungen“. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-zur-coronakrise-die-einschraenkungen-sind-regeln-keine-empfehlungen-a-4d499147-8ab7-4cd7-a86c-53eda0742b44 [Aufruf: 22.03.2020]

 

Montag, 23. März 2020
Gummibärchen statt Klopapier und Statistikrätsel

Daily Life:

Ich empfinde den Neun-Punkte-Plan der Regierung von gestern Abend als entlastend. Zum einen ist das, worauf ich die ganze Zeit gewartet habe, jetzt eingetreten. Zweitens muss ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, ob ich mich komisch verhalte, wenn ich vorsichtig bin. Vor einer Woche habe ich den ganzen Tag Handschuhe benutzt, selbst als ich nur mit dem Fahrstuhl in den Waschkeller gefahren bin. Als eine dreiköpfige Familie zustieg, bin mir ziemlich dämlich vorgekommen. Ich habe nur Leute gesehen, die sich anscheinend völlig frei bewegen. Ich habe das dann wieder gelassen mit den Handschuhen. Ich dachte, wenn mich andere sehen, denken, ich habe einen Spleen, bin extrem paranoid. Hier wohnen aber auch furchtbar viele sehr junge Menschen im Haus. Wenn ich 75 Jahre alt wäre, hätte ich mich mit den Handschuhen wahrscheinlich nicht so bescheuert gefühlt. Seit der Regierungsansage bilde ich mir ein, dass sich mehr Menschen vorsichtig verhalten, dass wir uns wieder mehr einig sind oder sein müssten, da die Autorität ein Machtwort gesprochen hat.

Medien:

Ich höre ein Interview auf Deutschlandradio mit dem Krisenforscher Frank Roselieb. Er sagt in Bezug auf die Hamsterkäufe in Deutschland etwas, das ich unglaublich interessant finde:

Auszug:

Roselieb: Ich würde, ehrlich gesagt, nicht Nudeln kaufen. Ich würde auch kein Toilettenpapier hamstern. Ich würde vielleicht langsam anfangen, Gummibärchen oder Schokoküsse zu hamstern. Es gibt seit vielen Jahrzehnten weit vor Corona in Deutschland rund 150 geheim gehaltene Orte, an denen die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung sehr große Lebensmittellager unterhält. Die sind so dimensioniert, dass man die Bevölkerung in Deutschland für rund drei Wochen komplett autonom versorgen könnte. Da finden Sie nicht die Gummibärchen. Die könnten Sie jetzt wirklich hamstern. Aber alles andere ist da tatsächlich vorhanden. Der Grund dafür, dass man das der Bevölkerung nicht gesagt hat, hängt mit dem Terrorismus zusammen. Es wäre im Moment wesentlich transparenter, was diese Bevölkerungsinformation angeht. Das geht jetzt einfach nicht mehr, weil der Feind sozusagen mithört und da wird man vielleicht sich auch im Nachgang überlegen müssen, ob man nicht ein bisschen Transparenz zeigt, damit der Bürger nicht auf den Gedanken kommt, für die nächsten 30 Jahre Krisenmanagement Toilettenpapier zu hamstern.

Wow! Wenn das mal kein Futter für Verschwörungstheoretiker ist: Die politische Elite weiß also, wo die bundesrepublikanischen Notvorräte gebunkert sind. Das Volk darf es nicht wissen, weil es der Terrorist nicht wissen darf?! Psychologisch gesehen tut mir die Vorstellung gut, dass nach dieser Information alle Deutschen säckeweise Süßigkeiten nach Hause tragen. Allerdings stellt sich aber auch unweigerlich die Frage, WAS GENAU in diesen geheimen Vorratslagern denn gelagert wird? Der imaginäre deutsche Warenkorb ist mir, z.B. im Kontext von Hartz IV, immer mal wieder begegnet. Ich kann ihn gerade nicht aufzählen, aber ich weiß noch, dass ich erstaunt war und die Zusammenstellung nicht lebensnah fand. Jetzt bin ich sehr neugierig. Was lagert denn da? Wer legt fest, was, warum und wie viel davon? Und ist wirklich Terrorismus der Grund, dass die Bevölkerung nichts davon weiß? Das freudige Bild von deutschen Kellerregalen voller Gummibärchen und Schokoküsse weicht dem dumpfen Gefühl, dass es existenzielle Geheimnisse in dieser Republik gibt.

Vorratshaltung ist aber ohnehin ein wunder Punkt für mich. Wenn ich mir die jüngst populär gewordenen Empfehlungen dazu anschaue, was man ohnehin immer vorrätig haben sollte, dürfte es so kleine Apartments wie meins gar nicht geben. Coronapolitik kommt aus freistehenden Häusern mit amerikanischen Kühlschränken, geräumigen Kellern und Garten.

An das Geheimnis der staatlichen Vorratslager schließt sich das Rätsel um die Infizierten-Statistik an. In den letzten Tagen war über einige Quellen zu vernehmen, dass die Statistiken eigentlich Humbug sind. Also nicht ganz, aber die Zahlen, die gerne als Fakten präsentiert werden, sind als hochgradig relativ zu bewerten. Das liegt ja eigentlich auf der Hand. Wenn mehr getestet wird, steigt somit auch die Zahl der erkannten Infizierten, wobei aber in verschiedenen Region unterschiedlich viel getestet wird.

Als Informant für die statistische Entwicklung der Pandemie hat hierzulande die amerikanische Johns Hopkins Universität mit ihrer weltweiten Karte jüngst dem Robert Koch Institut den Rang abgelaufen. Ich frage mich, wie sich irgendjemand erdreisten kann, genaue Zahlen zu benennen, wo doch allen klar sein sollte, dass die Erhebungssituationen völlig unterschiedlich sind und nirgendwo absolut? Tendenzen, Trends vielleicht. So traurig es ist, am verlässlichsten sind die Toten, und selbst die nur unter der Voraussetzung, dass die Todesursache bestimmt und transparent gemacht wird. Wenn gleichzeitig ein Wettkampf läuft, wer oder welches Regime mit der Pandemie „am besten zurechtkommt“ oder Staaten aufgrund ihrer Infrastruktur gar nicht in der Lage sind, Fallzahlen zu erheben, sind sämtliche weltweiten Vergleichs-Statistiken hinfällig.

Daily Life:

Endlich, nach über zwei Wochen habe ich im Lidl eine Packung Klopapier bekommen. Ich kaufe normalerweise eine achter Packung, weil die zu meinem Stauraum passt, heute gab’s aber nur eine zehner. Auch gut, immerhin, es geht wieder bergauf in Sachen Klopapier. Wenn das nicht mal ein gutes Zeichen ist! Zum ersten Mal habe ich auch einen Security-Mann in „meinem“ Lidl gesehen. Im nächsten Stadtviertel, das als sozialer Brennpunkt gilt, ist das normaler Standard. Da muss die Security immer aufpassen, dass nicht geklaut wird. Ich fühle mich okay mit der Security, aber ich wüsste auch gerne, warum genau sie da ist. Abstand einhalten? Nur eine Packung Klopapier pro Person? Der Mann trägt im Übrigen nicht einmal einen Mundschutz. Dürfte der so jemanden ansprechen und zurechtweisen? Mein letzter Paketbote war da besser ausgestattet.

Quellenmaterial:

Deutschlandradio: Krisenmanagement in Zeiten von Corona. „Der dezentrale Ansatz macht Sinn.“ (Interview mit Krisenforscher Frank Roselieb, Direktor des Instituts für Krisenforschung an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel) https://www.deutschlandfunk.de/krisenmanagement-in-zeiten-von-corona-der-dezentrale-ansatz.694.de.html?dram:article_id=473205 [Aufruf: 23.03.2020]

 

Dienstag, 24.03.2020
Ein neuer Partner ist Sonderrisiko

Medien:

Seit heute stehen die gelieferten Zahlen des Robert Koch Instituts in Frage. Es gibt große Meldelücken. Die wichtigsten Gründe laut Spiegel online:

Auszug:

„An den Wochenenden melden einige Städte und Landkreise keine neuen Fälle […] In fast zehn Prozent der Städte und Landkreise mit mindestens 50 Fällen stammt bis heute die jüngste dem RKI bekannte Meldung noch von vor dem Wochenende.“

Hinzu kommen technische Probleme, abgerissene Meldeketten. Und das passiert in Deutschland(!), ohne meine Staatsangehörigkeit überbewerten zu wollen. Aber ich denke doch, wenn es hier schon schlecht läuft, läuft es woanders wahrscheinlich noch schlechter und in der aktuellen Karte der Johns Hopkins Universität werden gerade internationale Daten verbildlicht.

Sozialleben:

Abendliches Telefonat mit meinen Eltern. Sie sprechen es endlich aus: „(Bei aller Liebe) uns wäre es lieber, wenn wir uns erstmal nicht sehen. Du hast ja diesen neuen Bekannten und wir wissen nicht, was der so macht.“ Danke! Meine Eltern hatten Angst, sie würden mich mit dieser Ansage enttäuschen, und ich hatte Angst, ich enttäusche sie, wenn ich sage, dass ich besser erstmal nicht vorbeikomme. Aber es nagt mich trotzdem an, weil ich das Gefühl habe, ich müsste mich zwischen Maik und meinen Eltern entscheiden. Wenn ich ihn nicht treffen würde, könnten wir uns ja sehen. Wir einigen uns darauf, dass ich sofort zur Stelle bin, wenn sich meine Eltern unwohl fühlen, beim Einkaufen oder sonst was Hilfe brauchen, und wir dann Abstand einhalten.

Ich bin nicht bereit, für meine Eltern auf den neuen männlichen – und aktuell einzigen! – privaten Kontakt in meinem Leben zu verzichten. Und ich habe das Gefühl, Maik verteidigen zu müssen. Ich schiebe vor, was auch stimmt, dass ich in nächster Zeit wieder häufiger ins Institut muss, um mein Seminar vorzubereiten, und ich mich nicht mehr so isolieren können werde, wie ich es die letzten zwei Wochen getan habe. Ich mache meinen Eltern deutlich, dass ich mich demnächst wieder mehr „draußen“ bewegen werde, um Maik nicht als einzige Gefahrenquelle dastehen zu lassen. Aber das ist er nun einmal, eine viel größere Gefahr als ein etablierter Partner. Er ist die einzige Person, mit der ich seit über zwei Wochen direkten Kontakt habe, aber eben der Neue und somit ein unberechenbares Risiko für meine Eltern.

 

Mittwoch 25.03.2020
Der Hermesbote hat Stress, ich nicht

Arbeitssituation:

Ich beginne meinen Tag wie üblich am frühen Mittag mit Kaffee und Deutschlandradio, aber mein Corona-Informationsbedürfnis ist im Verglich zu den Tagen davor deutlich abgeflaut. Danach lese ich Texte quer Beet. Ich fühle mich gut, bin motiviert und produktiv. Es kommt mir so vor, als habe ich mich in die gegenwärtigen Umstände eingefunden. Draußen scheint die Sonne, im Hof ist Kinderlachen zu hören. Eigentlich ein ganz normaler Tag, vielleicht sogar etwas schöner. Alles sieht so friedlich aus.

Daily Life:

Nachmittags klingelt wieder der Hermes Paketbote. Derselbe, der neulich mit dem falschen Paket da war. Ich bekomme ein Buch, außerdem habe ich DVDs und Lakritz für Schwester und Schwager in der Schweiz bestellt. Das will ich ihnen als kleines Corona Care Paket, also als kleine Überraschung schicken. Ich frage, wie es ihm geht. Er keucht, gut, gut, sagt er, viel Arbeit, dann ist er schon wieder weg.

Am Abend kommt Maik zu Besuch. Als Abendessen gibt es Take away. Viele Imbisse haben die Situation so gelöst, dass ein Tisch quer im Eingang steht, sodass niemand reinkommen kann. Die Bestellungen werden sozusagen zwischen Tür und Angel aufgenommen. Vegane Falafel für ihn, Lahmacun mit Dönerfleisch für mich. Wir machen uns einen gemütlichen Abend mit einem Film.

 

Donnerstag, 26.03.2020
Schutzgut Mensch: Versäumter Schutz und das Rezept aus Wien

Beziehung:

Maik und ich schlafen lange aus. Es ist schön, ihn hier zu haben, neben ihm aufzuwachen, zusammen Kaffee auf dem Balkon zu trinken. Als ich nach der Dusche aus dem Bad komme, ist das Bett gemacht. Seins macht er nie, ich habe es öfters gemacht, wenn ich bei ihm war. Jetzt hat er meins gemacht. Ich habe extra Sojamilch, braunen Rohrzucker und Marmelade für ein veganes Frühstück eingekauft, aber er will nichts, nur einen zweiten Kaffee. So ein genügsamer, lieber Mensch.

Ich frage mich, ob sich unser Wir, wo wir uns doch gerade erst zusammenfinden, ohne Corona anders anfühlen würde. Wir sind beide Partyleute, Wochenende heißt Ausgang, zumindest wenn es eine Party zu unseren Genres gibt. Bekannte und Gleichgesinnte treffen, laut Musik hören, tanzen, trinken, gerne bis morgens. Das gibt es jetzt nicht, aber mir fehlt es seltsamerweise nicht so sehr, wie ich gedacht hätte. Ihm scheint es genauso zu gehen. Wir sind dazu gezwungen, von Anfang an intensiv Zeit miteinander zu verbringen und das funktioniert sehr gut. Gleichzeitig bin ich auch froh, dass wir nirgendwo zusammen auftauchen und als Paar wahrgenommen werden. Soweit bin ich trotz allem Guten noch nicht. Corona gibt mir in diesem Sinne einen willkommenen Puffer, um mir über diese Beziehung klar zu werden.

Arbeitssituation:

Nachdem Maik fort ist, fahre ich ins Institut, um Unterlagen zusammenzusuchen, die ich mit nach Hause nehmen will. Außerdem hat eine Kollegin angeregt, dass alle, jetzt wo die Bibliotheken geschlossen sind, ihre vorhandenen Texte in digitaler Form sichten, um sie auf einem Server hochzuladen. Die meisten sind gerade wie ich mit der Planung der kommenden Lehrveranstaltungen beschäftigt und ich finde das eine super Idee. Hätte man eigentlich schon viel früher machen sollen, einen digitalen zentralen Textspeicher einrichten, mit allem, was man so im Laufe der Zeit eingescannt hat. Sicher befinden sich bestimmte Grundlagentexte dutzendfach auf den Rechnern. So eine Textdatenbank wäre doch wirklich klasse.

Im Institut treffe ich nur eine Kollegin. Sie hat zwei kleine Kinder und ist heute mal gekommen, weil sie in Ruhe arbeiten möchte. Ihr Mann hat sich die letzten Monate um die Kinder gekümmert, jetzt wollte er sich eigentlich einen neuen Job suchen. Er wird wohl noch ein paar Monate länger zuhause bleiben als geplant. Wenn ich Türen anfasse, ziehe ich mir immer den Pulli über die Hände. Im Haus ist es verdammt kalt. Alle haben die Heizung in ihren Büros runter gedreht, bevor sie ins Homeoffice gegangen sind. In meiner Winterjacke und mit einer Kanne Tee durchforste und ordne ich mein Sammelsurium an digitalen Texten. War eh mal nötig.

Sozialleben:

Um sechs schwinge ich mich aufs Rad und fahre nach Hause. Mir macht das Fahrradfahren mittlerweile richtig Spaß. Die Bewegung tut gut, außerdem bin ich früher schon immer gerne Rad gefahren, allerdings ausschließlich als Freizeitbeschäftigung. Ich freue mich, dass ich das Radfahren durch Corona widerentdeckt habe. Im Freiburger Stadtverkehr fühle ich mich ein bisschen wie eine Anfängerin, weil ich die ganzen coolen Abkürzungsstrategien an Ampeln etc. noch nicht drauf habe. Nach zwei Dritteln des Weges ruft plötzlich jemand Hallo! Es ist ein Kollege, wir machen öfters eine Zigarettenpause zusammen. Ich stoppe, kehre um und unterhalte mich über die Straße hinweg mit ihm. Dann sage ich, ach was, wir sollten eine Zigarette zusammen rauchen, mit dem gebührenden Abstand versteht sich. Er kommt rüber, wir rauchen.

Mein Kollege ist 50 Jahre alt und alleinstehend. Er sagt, ihm fehlt der soziale Kontakt, die Ansprache, die er sonst im Kollegenkreis hat. Noch dazu hat sich mein Kollege – sehr bewusst – gegen Internet zuhause entschieden. Homeoffice ist für ihn nicht realisierbar. Er ist kein Fahrradfahrer und die Tram mag er wegen Corona auch nicht benutzen. Deswegen geht er nun an einigen Tagen in der Woche zu Fuß ins Institut, ca. 50 Minuten pro Strecke. Als Nicht-Digitaler hat er zudem auch noch sein Hobby verloren: Filme. Die hat er sich bisher immer in der Stadtteilbücherei auf DVD ausgeliehen. Die ist jetzt zu. Dafür hat er jetzt einen Fernseher. 20 Jahre lang habe er keinen gehabt, aber jetzt habe ihm ein Freund einen alten gebrauchten geschenkt, und ja, der Fernseher würde es schon ein bisschen besser machen.

Viele, die es wollen, haben kein Highspeed Internet, andere besitzen einfach nicht die erforderliche digitale Ausstattung, um von zuhause zu arbeiten. Maik konnte ja auch nicht aktiv an der Videokonferenz seines Vereins teilnehmen. Ich beschließe, meinem Kollegen ein Unterhaltungsangebot aus meinen eigenen DVDs zusammenzustellen. Irgendwann werden wir uns nächste Woche wohl mal im Institut sehen. Es ist wirklich seltsam. Ich, die immer Homeoffice propagiert hat, freut sich jetzt, zur Arbeitsstätte zu fahren. Ja, mir fehlen sie auch alle, die Kolleginnen und Kollegen.

Abends langes Telefonat mit einer Freundin aus Düsseldorf. Im Ballungsgebiet scheint Einkaufen deutlich schwieriger zu sein als hier bei mir, am Rand von Freiburg. Sie und ihr Freund versuchen nun tatsächlich schon seit zwei Wochen Klopapier zu kaufen. Und sie haben da viele Läden, in Düsseldorf. Sie haben sich vorerst mit einem Päckchen Taschentüchern begnügt, das sie noch irgendwo ergattert haben. Auch Nudeln, Sahne, Salz – Fehlanzeige seit Tagen.

Das letzte Mal haben wir am Donnerstag, den 12. März telefoniert. Eigentlich hatte sie mich vom 13. bis 15. März besuchen wollen. An dem Mittwoch zuvor, dem 11. März, war das 30 Kilometer entfernte Elsass zum Risikogebiet erklärt worden. Corona war plötzlich vor der Tür. Wie sich die Situation in Freiburg entwickeln würde, war nicht abzusehen. Ich riet ihr, nicht zu kommen, weil sie, falls Freiburg während ihres Aufenthalts ebenfalls zum Risikogebiet erklärt werden würde, nach ihrer Rückkehr 14 Tage in Quarantäne müsse. Obendrein hatte sie gerade eine heftige Erkältung mit wirklich fiesem Husten und wollte mit dem Zug reisen (und neben mir in einem Bett schlafen). Wir entschieden gemeinsam, dass sie besser nicht kommt. Im heutigen Telefonat lassen wir alles nochmal Revue passieren. Es ist gerade zweieinhalb Wochen her, kommt mir aber schon viel länger vor. Ich sage, es war die richtige Entscheidung, dass du nicht gekommen bist. Sie sagt, auf alle Fälle und weißt du was, ich habe in meinem Kalender „Corona Wendepunkt“ am 12. März eingetragen, da habe ich es erst begriffen. Ich auch meine Liebe. Bis zum 12. März habe ich gedacht, da draußen gibt es ein Virus, aber irgendwie tickt bei mir alles ganz normal weiter. Dann reden wir noch über Allerlei, aber auch immer wieder über Corona. Sie empfiehlt mir Frontal 21 vom Dienstag dieser Woche.

Medien:

Ich schaue mir Frontal 21 vom 24. März 2020 an. Der Beitrag, um den es meiner Freundin ging, berichtet darüber, dass das Robert Koch Institut bereits im Jahr 2013 dem Bundestag eine Risikoanalyse vorgelegt hat, in der ziemlich genau die jetzige Situation prognostiziert wird, verbunden mit der Empfehlung, rechtzeitig dafür zu sorgen, dass es unter anderem genügend Atemschutzmasken, Einweghandschuhe und Desinfektionsmittel gibt, weil hier Engpässe bei der Lieferkette befürchtet werden. Ich bin entsetzt! Ich war bereit gewesen, noch weitergehende Beschränkungen meiner Bürgerrechte zu akzeptieren, wenn sich die Verbreitung des Virus dadurch eindämmen ließe. Ich hätte noch strengere Vorgaben als die, die wir haben, seitens der Politik unterstützt. Der Bericht über die versäumte Vorsorge erschüttert mein Vertrauen in die Politik zutiefst. Ist die Vorsorge einem Sparkurs im Bundeshaushalt zum Opfer gefallen? Wurde nicht recht priorisiert? Ich bin beeindruckt, wie genau das Robert Koch Institut die Dinge scheinbar vorausgesehen hat. Das Dokument ist als „Drucksache 17/12051“ des deutschen Bundestages zu finden, „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 12“.

Auszüge:

Das Szenario beschreibt eine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung eines hypothetischen neuen Virus, welches den Namen Modi-SARS-Virus erhält. Mehrere Personen reisen nach Deutschland ein, bevor den Behörden die erste offizielle Warnung durch die WHO zugeht. Darunter sind zwei Infizierte, die durch eine Kombination aus einer großen Anzahl von Kontaktpersonen und hohen Infektiosität stark zur initialen Verbreitung der Infektion in Deutschland beitragen. Obwohl die laut Infektionsschutzgesetz und Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen durch die Behörden und das Gesundheitssystem schnell und effektiv umgesetzt werden, kann die rasche Verbreitung des Virus aufgrund des kurzen Intervalls zwischen zwei Infektionen nicht effektiv aufgehalten werden. Zum Höhepunkt der ersten Erkrankungswelle nach ca. 300 Tagen sind ca. 6 Millionen Menschen in Deutschland an Modi-SARS erkrankt. Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können. […] Nachdem die erste Welle abklingt, folgen zwei weitere, schwächere Wellen, bis drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen ein Impfstoff verfügbar ist. Das Besondere an diesem Ereignis ist, dass es erstens die gesamte Fläche Deutschlands und alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Ausmaß betrifft, und zweitens über einen sehr langen Zeitraum auftritt. Bei einem Auftreten einer derartigen Pandemie wäre über einen Zeitraum von drei Jahren mit drei voneinander getrennten Wellen mit immens hohen Opferzahlen und gravierenden Auswirkungen auf unterschiedliche Schutzgutbereiche zu rechnen. (S. 5-6)

Das hypothetische Modi-SARS-Virus ist mit dem natürlichen SARS-CoV in fast allen Eigenschaften identisch […] Die Letalität ist mit 10% der Erkrankten hoch, jedoch in verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. Kinder und Jugendliche haben in der Regel leichtere Krankheitsverläufe mit Letalität von rund 1%, während die Letalität bei über 65-Jährigen bei 50% liegt […] Mit Auftreten der ersten Symptome sind die infizierten Personen ansteckend. Dies ist der einzige Unterschied in der Übertragbarkeit zwischen dem hypothetischen Modi-SARS und dem SARS-CoV – der natürlich vorkommende Erreger kann erst von Mensch zu Mensch übertragen werden, wenn eine Person bereits deutliche Krankheitssymptome zeigt. Zur Behandlung stehen keine Medikamente zur Verfügung, so dass nur symptomatisch behandelt werden kann. Ein Impfstoff steht ebenfalls für die ersten drei Jahre nicht zur Verfügung. Neben Einhaltung von Hygienemaßnahmen können Schutzmaßnahmen in dem Sinne also ausschließlich durch Absonderung Erkrankter bzw. Ansteckungsverdächtiger, sowie den Einsatz von Schutzausrüstung wie Schutzmasken, Schutzbrillen und Handschuhen getroffen werden. Absonderung, Isolierung und Quarantäne sind aber nur von begrenzter Wirksamkeit, da schon bei Beginn der Symptomatik eine sehr ausgeprägte Infektiosität besteht (Fraser et al., 2004) Die Infektionskrankheit breitet sich sporadisch und in Clustern aus. Eine Übertragung findet insbesondere über Haushaltskontakte und im Krankenhausumfeld, aber auch in öffentlichen Transportmitteln, am Arbeitsplatz und in der Freizeit statt. (S. 58-59)

Der Mensch taucht in den Risikoanalysen als „Schutzgut MENSCH“ auf mit den „Schadensparametern: Tote (M1); Verletzte und Erkrankte (M2); Hilfebedürftige (M3) und Vermisste (M4). Weitere Schutzgüter sind: UMWELT, VOLKSWIRTSCHAFT, IMMATERIELL – Schutzgüter sind immer in Kapitalen geschrieben. Und das sind die vier, die wir in der BRD haben. Zum IMMATERIELLEN Schutzgut gehören übrigens die Schadensparameter: Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung (I1); Politische Auswirkungen (I2); Psychologische Auswirkungen (I3) und Schädigung von Kulturgut (I4). Tote als Schadensparameter beim Schutzgut MENSCH leuchtet mir noch ein. Die kann man zählen, vorausgesetzt jeder Tod wird auf die genaue Ursache zurückgeführt. Dass die psychologischen Auswirkungen als Schadensparameter dem Schutzgut IMMATERIELL zugeordnet werden und nicht dem Schutzgut MENSCH, finde ich bemerkenswert. Wie kann man das trennen? Und vor allem, wie wird das im Vergleich zu Totenzahlen oder geschädigten Nutzflächenquadratmetern gemessen? Muss ich mich für eine Therapie mit dem Codewort Corona melden, um in die Statistik einzugehen?

Aber noch etwas beschäftigt mich. Ich erinnere mich daran, dass 2015 ein Jahr war, in dem ich auffällig oft hörte, dass jemand mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus gekommen sei. Ich weiß nicht mehr wer, aber ich weiß noch, wie ich in Gesprächen gesagt habe, dass ich vorher nie so oft von Lungenentzündungen gehört habe. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, habe es als auffällige Beobachtung verbucht. Jetzt finde ich es schlimm. Ich finde es unfassbar, dass mir Corona wie eine neue Bedrohung präsentiert wurde, die plötzlich aus einem Virenlabor oder auf einem Wildtiermarkt in Wuhan ausgebrochen ist. Dabei war das Viech oder etwas ähnliches dem Robert Koch Institut anscheinend schon seit Jahren bekannt und der deutschen Regierung durch die Risikoanalyse auch.

Weil ich ja gerade dabei bin und es mir von der ZDF Mediathek nach Frontal 21 angeboten wird, schaue ich auch noch „ZDF zoom: Der Corona Effekt. Wie reagieren wir auf das Virus? Was bedeutet es für uns als Gesellschaft?“. Ich habe das eher so im Hintergrund laufen, als ich plötzlich meine, ich höre nicht richtig. Matthias Horx wird präsentiert oder präsentiert sich selbst als der Zukunftsforscher der Stunde (siehe meinen Eintrag vom 20. März 2020). Ich kann es nicht glauben! Mein Gott, der Mann ist Unternehmensberater und bekommt jetzt eine riesige Werbefläche als gesellschaftlicher Krisenmanager. Wie hat der es ins Öffentlich Rechtliche geschafft? Wieso konnten die nicht jemanden aus der Soziologie nehmen? Marketingmäßig ist er wohl auf Zack. Ich bin aber nur kurz beeindruckt von so viel Selbstmarketingkompetenz. Denn sofort erklingen wieder die gewohnten Pseudo-Weisheiten, die durch den Zusatz „wissenschaftlich“ vertrauensvoll und evident anmuten sollen.

Zitat Horx:

„Zukunft entsteht, wenn wir uns in Reaktion auf den Wandel der Welt innerlich selbst verändern. Zukunft entsteht dann, wenn wir in Krisensituationen über uns selbst hinauswachsen und uns dadurch neu erfinden.“

Eine bestimmte Zukunft entsteht vielleicht, wenn ich mich jetzt wegen Corona ändere, aber die Zukunft an sich kommt doch sowieso, auch ohne mich und mein Tun, sie kommt einfach, mit Trumps, Coronas und in drei Jahren fällt in China nochmal ein Sack Reis um. Was ist das denn für eine Konditionalkonstruktion Herr Horx: Zukunft entsteht dann, wenn…? Und wieso muss ich dafür über mich hinauswachsen, noch dazu, wo Herr Horx ja andererseits auch gerne darauf hinweist, dass wir gerade jetzt lernen sollten, dass Wachstum nicht alles ist? Anscheinend ist Herr Horx zum Schutzbeauftragten für den Schadensparameter I3, psychologische Auswirkungen, aus obiger Risikoanalyse erkoren worden. Die Menschen müssen eben veränderungsbereit sein, am besten mit ein bisschen Tempo, dann bleibt der Wert klein.

Wann hat das eigentlich angefangen, dass das Beibehalten, das Konservieren und Konservative, aber auch das Sich-treu-bleiben, so einen schlechten Ruf bekommen hat? Als wäre das alles per se ungut. Und nach meinen Erfahrungen aus dem letzten Jahr, die mich zu Boden gehen ließen, glaube ich, wer in einer Krise die Kontrolle behält, hat noch keine echte Krise erlebt. Krise ist Kontrollverlust, Chaos. Da wieder herauszukommen, ist großartig. Ich kriege das hier nicht recht auseinandergedröselt, aber irgendwie glaube ich, ich bin gewachsen, weil die Krise eine zeitlang die Oberhand hatte. Wie Phönix aus der Asche, so habe ich mich damals gefühlt. Ich möchte nicht, dass Menschen in ihren Krisen verbrennen, aber ich kann auch nicht uneingeschränkt befürworten, dass Menschen, wie es in der Coachingwelt heißt, schnellstmöglich wieder „ins Handeln kommen“. Viele „Wege aus der Krise“ hören sich für mich so an, als wären es eigentlich Krisenvermeidungsstrategien. Denn wer rumkriselt, ist ein Problem, weil er nicht produktiv ist, und ein noch größeres, wenn er zum psychologischen Dauerpatienten wird. Ich empfinde meine eigene Krise rückblickend als Bereicherung. Ich habe mich besser kennengerlernt, das Zusammenspiel von Körper und Psyche, viel über meine Sozialbeziehungen gelernt, wer wie da war, wer nicht. Und ich bin froh, dass ich dem allen ein eigenes Tempo geben durfte, viel Raum sozusagen, dem Niedergang, der Krise und dem Wiederaufstehen. Auf eine Art habe ich die Krise gebraucht, irgendwie war danach vieles besser. Wie lange sie dauerte, hat nicht mein Kopf alleine bestimmt. Vielleicht ist es einfach das: Ich vermisse bei Horx und Konsorten, dass sie den Menschen zugestehen, Krise zu erleben, und ihnen etwas mehr Zeit geben, den Rhythmus wiederzufinden. Aber vielleicht würden dann weniger Krisenberater gebraucht.

https://www.zukunftshaus.at/

Nach diesem Wiedersehen mit Herrn Horx komme ich nicht umhin, endlich einen Blick auf seine Webseite zu werfen, auch wenn es ihm einen Klick mehr einbringt. Wer ist dieser Mann, wie verkauft er sich? Offensichtlich als jemand, der sogar zwei schicke Häuser im Grünen bei Wien besitzt, sodass er auf das eine „HOME“ und das andere nebenan „WORK“ schreiben kann. Das vermittelt Struktur und Konsequenz und Wohlstand und somit das gelingende Zusammenspiel dieser Trias. Ich arbeite knapp zwei Meter neben meinem Bett und ehrlich gesagt mag ich das, wenn sich Arbeit und Zuhause vermischen, ich so arbeiten kann, wie ich will, auch mal ungeduscht, wenn ich gerade eine Idee habe, mit Müsli oder Rotwein oder einem Aschenbecher oder allem zusammen auf dem Tisch, und vor allem: wann ich will. Auch in einer 100 Quadratmeterwohnung würde ich gerne so arbeiten, zuhause, im HOME. Ich kenne den Diskurs über die räumliche und zeitliche Entgrenzung von Arbeit in der modernen Zeit und ich habe Verständnis für viele Bedenken, die damit verbunden sind, kann akzeptieren, dass es für viele Arbeitende problematisch und eine Belastung ist. Ich persönlich finde es aber bequem, wenn nicht sogar privilegiert, Arbeits-Ich und Privat-Ich an einem Ort sein zu dürfen. Ich bin ein besseres Arbeits-Ich in meinem Zuhause. Ich arbeite viel konzeptionell und kreativ und das macht mir Spaß. Ich habe mich aber früh davon verabschiedet, dass sich diese Arbeit an Stundenpläne hält. Es ist fertig, wenn es gut ist. Ich weiß, was meine Kopfarbeit begünstigt, aber minutiös planbar ist der Output einfach nicht. Ich finde es albern, wie plakativ Herr Horx die Wichtigkeit einer verstandenen Work-Life-Balance deutlich macht, indem er sie auf seine zwei Häuser pinselt. Die Trennung der Räume hat vermutlich etwas mit Achtsamkeit und diesem neuen „Klar Sein“ zu tun. Jetzt nur Arbeits-Ich, jetzt nur Zuhause-Ich. Fokussiert sein. Der Mann der Stunde schreibt auf seine Häuser, wer er wo sein soll und was er dort zu tun hat. Ich benutze Post-its, damit ich nichts Wichtiges vergesse. Beim Abendbrottisch im HOME wäre ich ja gerne mal Mäuschen. Ob er da wirklich sein Unternehmer- und Berater-Ich ablegt, weil draußen nicht WORK draufsteht?

Weitere Info auf der Webseite zum Zukunftsforscher Horx: „als leidenschaftlicher Europäer pendelt er zwischen London, Frankfurt und Wien“ und erlebt durch die Coronasituation gerade ein ganz „interessantes Groundinggefühl“. Na dann hat er ja jetzt viel Zeit für seinen blühenden Gemüsegarten, der ja, wie er selbst sagt, einer der wichtigsten Werte nach Corona sein wird. Wer kümmert sich eigentlich um den, wenn er immer zwischen London, Frankfurt und Wien unterwegs ist?

Ich muss mich an dieser Stelle bei Herrn Horx entschuldigen. Ich habe keins seiner Bücher gelesen. Aber er hat es mit einem viral verbreiteten Link und einem einzigen Fernsehauftritt geschafft, bei meiner Suche nach Krisengewinnern der chinesischen Regierung den Rang abzulaufen. „China“ hat gerade eine weltweite Hilfsoffensive gestartet. Ich denke immer noch, dass die Hilfe berechnend sein wird. Aber die chinesische Regierung hat auch nie wie Herr Horx gesagt, dass Vermögen nach Corona eine deutlich kleinere Rolle spielen wird. Und ja, ich kann jetzt versuchen, die Coronakrise als Chance zu begreifen und über mich hinauszuwachsen. Ich fände es aber auch toll, wenn ich einfach von meinen Bürgerrechten Gebrauch machen könnte, um eine Partei zu wählen, die dafür sorgt, dass Pflegekräfte, Mediziner*innen, Verkäufer*innen und Paketbot*innen in Zukunft besser bezahlt werden und unsere Gesellschaft gerechter würde. Wahrscheinlich hätte das doch auch sehr positive, nachhaltige Auswirkungen auf den Schadensparameter I3.

Daily Life:

Überraschung im Briefkasten: Meine neuen Handschuhe mit Touchscreen-Funktion sind schon da. Dabei hatte Amazon die erste Aprilwoche als Lieferdatum angegeben.

Quellenmaterial:

ZDF: Frontal 21 vom 24. März 2020. Themen: Wucherpreise für Schutzausrüstungen, Pflege in der Corona-Krise, Rückholaktionen und Reisewarnungen, Versäumte Pandemie-Vorsorge. https://www.zdf.de/politik/frontal-21/frontal-21-vom-24-maerz-2020-100.html [Aufruf: 26.03.2020]

Deutscher Bundestag: Drucksache17/12051. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf [Aufruf: 27.03.2020]

ZDF: ZDF zoom vom 25. März 2020. Der Corona-Effekt. https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-der-corona-effekt-100.html [Aufruf: 26.03.2020]

 

Freitag, 27.03.2020
Corona ist eine empathische Erfahrung

Arbeitssituation:

Heute Morgen bin ich sehr früh aufgewacht, schlecht geträumt. Texte gelesen. Masterstudierende haben einen Blog ins Leben gerufen: https://alltaginderkrise.org. Da will ich was für schreiben, muss aber erst noch Literatur lesen, damit es irgendwie schlau wird. Gegen 14.30 Uhr radle ich ins Institut, niemand da außer mir. Nach knapp drei Stunden fahre ich mit Mappen voller ausgedruckter Texte für die Seminarvorbereitung und für den anstehenden Blogpost zurück. Wieder zuhause ist Corona ganz weit weg. Corona ist der Titel, die Überschrift, die über einigen meiner aktuellen Vorhaben steht, ein Phänomen, das ich beobachte und mit dem ich mich auseinandersetze, das ich aber selbst nicht unmittelbar erfahre. Ich kenne niemanden, der es hat, habe keine Verbindung zu Menschen in rot eingefärbten Krisengebieten. Aber meine Familie habe ich jetzt schon echt lange nicht gesehen und die letzte Party ist ewig her. Durch meine vielen Umzüge ist mir das Alleinsein allerdings über eine gewisse Zeitspanne vertraut. Ich war aber auch nie ein Cliquenmensch, kann gut für mich sein. Wann fängt diese Zeitspanne an, zu lang zu werden? Irgendwie warte ich drauf, aber es ist noch nicht soweit.

Sozialleben:

Abends telefoniere ich mit meiner längsten Freundin. Sie wiederum hat eine andere langjährige Freundin, die seit mehreren Jahren in Madrid lebt. Beide sind alleinerziehende Mütter. Vor einigen Tagen hat sich die Freundin aus Madrid bei ihr gemeldet und gesagt, dass es ihr nicht gut ginge, sie sei krank. Von da an hatten sie jeden Tag Kontakt. Das letzte Lebenszeichen aus Madrid hat meine Freundin vor zwei Tagen erhalten. Da ist ihre Freundin mit starkem Husten und einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Meine Freundin und ich wissen, dass Corona eine große Gefahr ist, aber wir erleben es nicht selbst, erfahren es nicht als solche. Deswegen bleibt Corona abstrakt. Corona ist nicht greifbar, nicht fassbar, nicht be-greifbar. Es ist ein Kampf, der um uns herum tobt, aber dessen Elend wir in unserem Alltag nicht sehen, hören, schmecken, riechen und anfassen können, Pflegekräfte und Mediziner*innen ausgenommen. Wenn Corona meine Sinne nicht erreicht, so lange ich nicht infiziert bin, bleibt es in erster Linie eine kognitive und psychische Erfahrung. Ich glaube, das ist es, was viele Menschen gerade fordert. Der Sinneseindruck von Welt deckt sich nicht mit dem, was gerade in der Welt passiert, wie sich eine Katastrophe anfühlen sollte.

Corona als Phänomen betrifft alle, involviert alle, ungefragt, und passiert akut als Krankheit woanders, punktuell. Corona wird oft als Naturkatastrophe bezeichnet. Das irritiert mich immer. Ich denke ein Unterschied liegt darin, ob die Schäden sichtbar und zeigbar sind oder nicht. Letztendlich können wir nicht nur das Virus als Aggressor nicht sehen, wir sehen auch nicht wirklich, was es anrichtet. Wir bekommen darüber berichtet, aber wir werden – auch wenn es sich hier deplatziert anhören mag – sinnlich nicht involviert. Bei der Bekämpfung ja, aber nicht bei dem, was bekämpft wird. Das lässt Corona abstrakt, geradezu surreal erscheinen. Mein Kopf sagt, es ist schlimm, aber mein Körper spürt nichts davon. Für mich ist Corona zuvorderst eine empathische Erfahrung. Wie geht mein Gegenüber damit um, was ist angemessenes Verhalten anderen gegenüber; wie geht es denen, die einsam sind, oder denen, die aufgrund ihrer Arbeit einem hohen Risiko und besonderen Belastungen ausgesetzt sind?

 

Samstag 28.03.2020
Corona ist draußen, vor der Tür

Beziehung:

Maik hat sich gestern mit seiner Tochter getroffen. Weil die Schulen geschlossen sind, übernachtet sie jetzt zweimal, statt wie sonst einmal die Woche bei ihm. Ich habe wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich mich frage, ob mich meine Eltern doch bitten würden, sie mal zu besuchen, wenn ich keinen Kontakt mit Maik hätte. Gegen 16 Uhr bin ich bei ihm. Wir machen einen Spaziergang durch die Innenstadt, kaufen noch ein. Weil es sich jetzt eingependelt hat, dass wir die Wochenenden bei Maik verbringen, revanchiere ich mich gerne damit, dass ich unsere gemeinsamen Einkäufe bezahle. Seit ich wochenends nicht mehr feiern gehe und in der Mittagspause nicht mehr zum Bäcker, habe ich das Gefühl, mehr Geld als sonst auf dem Konto zu haben.

In der Küche ist Maik immer der Chef, ich assistiere mit Schnibbelarbeiten, decke den Tisch und mache hinterher den Abwasch. Dabei hören wir immer sehr gute(!) Musik. Ich mag unsere gemeinsamen Kochsessions sehr. Sie fühlen sich so normal an, sehr heimelig, als ob wir ein ganz normales, also richtiges Paar wären. Und Corona ist draußen, vor der Tür. Dieses Bild habe ich sehr oft, wenn ich bei Maik abtauche. Corona ist draußen, vor der Tür. Als wäre das Virus auf die Welt hinter den Fenstern gebannt und könnte gar nicht hereinkommen. Als wäre Corona wie ein verfluchter Geist aus einer düsteren Erzählung, der die Türschwelle zur eigenen Wohnung nur übertreten kann, wenn er hineingebeten wird.

 

Sonntag, 29.03.2020
Pulsierende Räume und der Tod eines Finanzministers

Beziehung & Medien:

Wintereinbruch! Es ist nochmal furchtbar kalt geworden. Spazierengehen fällt flach, undenkbar. Wir hören Platten, kuscheln, zappen uns durch die arte Mediathek und entscheiden uns für ein Porträt über die amerikanische Band Blondie. Wir mögen beide den Spirit der 1970er in der Kunst. London und New York waren die Hot Spots einer neuen, alternativen Kunstszene. Runtergekommene Stadtviertel wurden zu experimentellen Keimzellen. Es scheint, als ob alle, die Lust dazu hatten, sich ausprobieren konnten, ohne sich allzu große Sorgen darüber machen zu müssen, wie sie die Wuchermiete für den Monat zusammenbekommen. Nach der Doku fantasieren wir darüber, ob es nach der Coronakrise wieder solche Strukturen geben könnte, freie billige Räume, in denen sich eine pulsierende Kunstszene entfalten kann. Vielleicht? Wenn einige Immobilienblasen erneut platzen?

Abends erreicht uns die Meldung, dass sich der hessische Finanzminister Thomas Schäfer anscheinend wegen der Coronakrise das Leben genommen hat. Die Leiche des 54-Jährigen sei an einer ICE-Strecke im Main-Taunus-Gebiet gefunden worden. Das beschäftigt uns eine Weile, aber die Nachricht berührt mich nicht, wirft nur Fragen auf. Wieso beging der Finanzminister Selbstmord? Da es zumindest heute noch keinen Abschiedsbrief oder eine andere Art von Erklärung gibt, gibt es nur Spekulationen. Volker Bouffier, der hessische Ministerpräsident, bringt zum Ausdruck, dass Schäfer Herausforderungen durch Corona kommen sah, die nicht zu stemmen seien. Für mich hat sich Schäfer folglich in erster Linie als Finanzminister umgebracht. Sah er einen finanziellen Zusammenbruch kommen? Hatte Schäfer Angst, dass durch die Coronakrise und die damit verbundenen finanziellen Anstrengungen zur Stabilisierung der Wirtschaft dunkle Flecken in seinem Ministerium zum Vorschein kommen? Oder hat er sich als Privatperson das Leben genommen? Hat er als Mensch eine unerträgliche Belastung gefühlt? Als älterer Mensch?

Quellenmaterial:

Spiegel online: Hessischer Finanzminister Thomas Schäfer ist tot. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/hessens-finanzminister-thomas-schaefer-ist-tot-a-f5ba02d7-1398-4c02-9794-15d800d5944f [Aufruf: 29.03.2020]

 

Montag, 30.03.2020
Kann ich staatliche Maßnahmen angemessen beurteilen?

Medien:

Ich schaue das ZDF heute Journal von gestern, 29.03.2020. Zuerst geht es um die wirtschaftlichen Hilfen für Selbstständige, Kleinunternehmer, Freiberufler. Für sie stellt der Bund nun Soforthilfen bereit in einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden Euro, die ab morgen beantragt werden können. Laut Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ist ein Formular entwickelt worden, dass eine möglichst schnelle, unbürokratische Beantragung – also schnelle Hilfe – ermöglichen soll. Auch Supermarktmitarbeiter, Lagerarbeiter, Pflegekräfte – Menschen mit aktuell systemrelevanten Tätigkeiten – sollen profitieren und können mit steuerfreien Zuschlägen belohnt werden.

Die psychischen Auswirkungen der Coronakrise rücken immer mehr in den Fokus. Vielleicht durch den Selbstmord von Thomas Schäfer? Der Zusammenhang von Menschenleben und Krise wird über die wirtschaftliche Akutsituation hinaus beleuchtet. Der Kampf gegen das Virus koste auch Menschenleben, sagt der Moderator.

Ursachenbeispiele aus dem Beitrag:

  • medizinische Maßnahmen, die aus hygienischen Gründen nicht durchgeführt werden können (Prof. Gérard Krause, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung)
  • wirtschaftliche Folgen, die zu gesundheitlichen Schäden führen – das Ausmaß kann hier größer sein als das Ausmaß der Pandemie selbst (ebenfalls Prof. Gérard Krause, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung)
  • Arbeitslosigkeit als Risikofaktor für höhere Sterblichkeit (englische Studie)
  • krisenhafte Entwicklung im häuslichen Bereich – laut dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel sind die Frauenhäuser voll

Auszüge Beitrag:

Moderator: „Heute verbreitet sich das Virus ungebremst, sprengt das die medizinische Versorgungskapazität. Die Folge: Mangel an Beatmungskapazitäten, sehr viele Tote in Deutschland. Kontakt- und Veranstaltungsverbote verlangsamen die Ausbreitung der Epidemie, doch die Einschränkungen könnten sehr lange nötig sein. Die Folgen dann: Ein beispielloser Wirtschaftseinbruch, Depressionen, Suizide, höhere Sterblichkeit aufgrund von Arbeitslosigkeit und häuslicher Gewalt.“

Prof. Christiane Woopen, Vorsitzende Europäischer Ethikrat: „Es hat ja keinen Zweck, wenn wir innerhalb der Krankenhäuser jetzt viele Menschenleben retten, aber außerhalb der Krankenhäuser viele Leben zerstören. Es ist ja verständlich, dass man erstmal nun angesichts dieser furchtbaren Bilder auch aus dem Ausland sich darauf konzentriert, Menschenleben zu retten, das ist ja auch richtig so, aber es kann nicht sein, dass das auf Kosten von allen anderen gesellschaftlichen Folgen passiert, die uns dann in noch ganz anderer Weise überrollen würden.“

Wenn man den politischen Entscheidungsprozess ethisch bewertet, was wird dann am Ende das ausschlaggebende Entscheidungsmoment sein – der ausschlaggebende „Schadensparameter“, um im Sprech der Risikoanalysten zu bleiben? Das Schutzgut Mensch oder das Schutzgut Wirtschaft? Oder wird sich beides gleichwertig schützen lassen? Läuft es am Ende darauf hinaus, dass sich das Schutzgut Mensch besser vor Schaden bewahren lässt, wenn die Wirtschaft geschützt ist? Oder anders herum? Wenn Zahlen den Ausschlag geben, hard facts, dann wird auch die Debatte über Kollateralschäden daran hängen, wie welche Zahlen erhoben werden und vor allem daran, wie sie miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Corona könnte in vielen Lebenslagen mehr ein Katalysator in einer Gemengelage sein und weniger die einzige Ursache. Das eine Quäntchen, das zu viel ist. Wie will man das später bei der Erhebung von Fallzahlen auseinanderdröseln?

Im weiteren Tagesverlauf werden die Medien von den Notstands-Nachrichten aus Ungarn bestimmt. Orban darf künftig per Dekret regieren.

Auszug aus einem Artikel von Die Zeit online:

„Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán darf künftig im Rahmen eines Notstands von unbegrenzter Dauer per Dekret regieren. Das Parlament in Budapest billigte mit deutlicher Mehrheit einen entsprechenden Gesetzentwurf der Regierung. Kritiker werfen Orbán vor, die Corona-Pandemie als Vorwand zu nutzen, um die Machtstellung seiner nationalkonservativen Regierung noch weiter auszubauen. Ungarn hatte am 11. März den Notstand verhängt. Dem neuen Gesetz zufolge kann die Regierung diesen Notstand ohne die Zustimmung des Parlaments unbegrenzt verlängern. […] Justizministerin Judit Varga verteidigte den Gesetzentwurf vor der Parlamentsabstimmung mit der Pandemie: „Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen.“ Das Gesetz füge sich „perfekt in den verfassungsmäßigen Rahmen“. Zahlreiche unabhängige Organisationen verweisen jedoch darauf, dass es in Ungarn seit 2010 vielfache Angriffe auf den Rechtsstaat in den Bereichen Justiz, Zivilgesellschaft und Meinungsfreiheit gegeben habe.“

Ich erinnere mich an den Artikel von der Freitag (siehe Eintrag 21.03.2020), der genau auf solche Entwicklungen hingewiesen hatte. Wie leicht es doch zu sein scheint, ein Land in eine Diktatur umzubauen. Ich habe die Sorge, dass ich zu unkritisch bin und zu viel hinnehme, den Punkt verpasse, wo ich auf die Straße gehen sollte. Bisher sehe ich diesen Punkt aber einfach nicht, finde die Einschränkungen und Verbote sinnvoll. Wichtig ist für mich, dass am Ende in allen Gesellschaftsbereichen gleichermaßen geholfen wird, nicht nur den großen Unternehmen, sondern auch den Freischaffenden, den Solounternehmern, dem Gemeinwesen, Kultur, Pflege, Bildung. Ich muss nicht auf die Straße gehen, nur um als kritisch wahrgenommen zu werden, wo ich nichts Konkretes zu kritisieren habe. Tatsächlich habe ich immer noch Vertrauen in die Politik, geradezu Mitleid angesichts der Entscheidungen, die jetzt zu treffen sind. Ich finde es schlimm, wenn sich Angehörige wegen Zutrittsverbot nicht von Sterbenden verabschieden dürfen, Menschen alleine sterben, Familien durchdrehen, Existenzen bankrottgehen. Aber ich kenne auch keinen Alternativvorschlag, dem ich traue oder der sich kurzfristig realisieren ließe wie mehr Personal an bestimmten Stellen. Wo sollte das plötzlich herkommen? Ich würde nicht entscheiden müssen wollen. Aber trotzdem die Sorge: Bin ich in der Lage, sinnvolle Maßnahmen von gefährlichen autokratischen Entwicklungen zu unterscheiden? Ich hoffe es.

Daily Life:

Ich brauche neue Heuschnupfentabletten und gehe in die Apotheke gegenüber. Außer mir keine Kundschaft. Ich frage den Apotheker, wie es so geht. Er erzählt, dass sich die Nachfrage nach medizinischen Waren beruhigt habe. Am Anfang hätten sich die Menschen alle eingedeckt, jetzt sei es ruhiger geworden. Auch er mache sich jetzt mehr Sorgen um die psychische Gesundheit der Menschen, drohende Arbeitslosigkeit, Stress, Depression. Einige Mütter würden mittlerweile fragen, ob sie ihre Kinder mit ins Geschäft nehmen dürften. In anderen Geschäften wären Kinder, die als hochinfektiös gelten, wohl nicht mehr willkommen.

Kinder zu haben ist also auch über die Betreuungssituation hinaus zum Stressmoment geworden. Die Gesellschaft strukturiert sich immer mehr über den Faktor des Infektionsrisikos in Überträger und Gefährdete, in Täter, die andere infizieren, und Opfer, die infiziert werden.

Durch meine eigene neue Beziehungssituation denke ich in den letzten Tagen auch immer öfter an andere Paare. Wie geht es – gerade in dieser psychischen Stresssituation – Paaren, die sich nicht sehen können, zum Beispiel wegen der Grenzschließungen? Werden Menschen mit einer Fernbeziehung diese durch Corona überdenken? Und wie beurteilen gerade selbst gewählte Singles ihre Lebenssituation, wenn Kontakte im sozialen Raum als Mittel gegen das Alleinsein ausbleiben? Wie lange können Telefonanrufe und Videocalls für einzelne Menschen direkte Begegnungen ersetzen?

Quellenmaterial:

ZDF: ZDF heute Journal vom 29.03.2020. https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/heute-journal-vom-29-maerz-2020-100.html [Aufruf: 30.03.2020]

Zeit online vom 30.03.2020: Ungarn – Viktor Orbán darf jetzt per Dekret regieren: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/ungarn-notstandsgesetz-victor-orban-parlament-regierung [Aufruf: 30.03.2020]

 

Dienstag, 31.03.2020
Masken und Soforthilfen kommen, Wucherpreise für Schutzkittel

Sozialleben:

Mittags Telefonat mit meiner Mutter, sie will Atemschutzmasken für die ganze Familie nähen lassen und hat in ihrer lokalen Änderungsschneiderei schon deswegen nachgefragt. Die Schneiderin macht es, wenn meine Mutter selbst den Stoff bringt. Zuerst denke ich: Brauche ich nicht, sieht doch komisch aus – an mir selbst! Denn wenn ich mittlerweile Menschen mit Masken in der der Öffentlichkeit sehe, finde ich das okay, egal wie alt sie sind. Ich registriere es eigentlich nicht mal mehr groß. Handschuhe hatte ich mir sofort besorgt, aber zu meiner Mutter sage ich, dass ich nicht denke, dass ich eine Maske brauche. Ich will in der Öffentlichkeit nicht panisch aussehen, obwohl ich, wie gesagt, Menschen, die eine Maske tragen, gar nicht (mehr) als panisch empfinde. Gleichzeitig beschleicht mich das Gefühl, dass meine Eltern mir konkrete Hilfe bieten, wo ich doch für sie dasein sollte. Meine Mama besteht drauf, sie macht das jetzt.

Ich denke auch, dass meine Mama froh ist, dass sie mit der Maskenproduktion ein Projekt hat, um das sie sich kümmern kann. Sie leidet zunehmend unter den Beschränkungen, dass sie nicht einfach mal alleine raus kann und ihre Freundinnen treffen. Und tägliche Besorgungen in Geschäften zu erledigen, ist für meine Mutter nicht nur ihr Beitrag zur klassischen häuslichen Arbeitsteilung, sondern auch Freiheit. Freiheit, von der nicht immer harmonischen Zweisamkeit zuhause, Freiheit sich etwas zu gönnen, ohne jemanden daneben stehen zu haben, vor dem man sich rechtfertigen muss, ob man dieses oder jenes denn nun braucht. Einkaufen bedeutet für meine Mutter, ihrem Gatten seine Knausrigkeit beim Haushaltsgeld in Form von Lustkäufen heimzuzahlen. Unautorisierte Lustkäufe sind für meine Mutter Lebensqualität und Unabhängigkeit. Seit der Coronakrise geht meine Mutter nur noch mit meinem Vater, der Finanzverwaltung, einkaufen, weil sie zusammen mehr transportieren können und somit seltener in den Supermarkt müssen. Kürzlich gab es wohl einen großen Ehekrach, weil ein Päckchen Sahne kaputt gegangen war und vehemente Uneinigkeit darüber herrschte, wer dafür verantwortlich war. Sie können es einfach nicht, zusammen einkaufen.

Kurze Zeit nach dem Telefonat höre ich im Radio, dass darüber diskutiert wird, Atemschutzmasken in der Öffentlichkeit zur Pflicht zu erklären. In China wurde das unter anderem so gemacht. Kommt das womöglich auch bald hier in Deutschland? In Freiburg? Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich hätte meine Mutter einfach darin bestärken sollen, dass es eine gute Idee ist, sie loben und mich bedanken sollen. Jetzt tut es mir leid, dass ich das nicht getan habe.

Medien:

Immer wieder habe ich den letzten Tag in den Medien gehört, dass die Schutzwirkung der Masken auch angezweifelt wird und wenn überhaupt, helfen wie anfangs bei den Händedesinfektionsmitteln wohl nur ganz bestimmte. Diese Diskussion verstehe ich nicht. Soweit ich weiß, besteht das größte Infektionsrisiko bei Corona durch eine Tröpfchenübertragung. Deswegen ist in die Armbeugen zu Husten oder zu Niesen nicht mehr nur erste Hygiene- sondern auch oberste solidarische Bürgerpflicht. Selbst wenn manche Masken die eigene Ansteckung nicht verhindern können, wohl aber die Übertragung durch einen Infizierten eindämmen, erscheint es doch sinnvoll, die Masken zumindest in manchen Kontexten zur Pflicht zu machen. Letztendlich bleibt doch der Eindruck, dass alle Welt gerade händeringend versucht, an Schutzmasken zu kommen. Wieso werden gleichzeitig Informationen gestreut, die die Schutzwirkung anzweifeln? Ich finde das sehr verwirrend, stelle aber auch fest, dass ich zu dem Tragen einer Maske bereit bin, sollte es verordnet werden. Allerdings bleibt für mich unklar, wo dann alle Menschen eine Maske herbekommen sollen.

Auszug tageschau online vom 31.03.2020:

Experten sind uneins

Virologen und Ärzte sind in der Frage, ob das Tragen einer Maske an der Supermarkt-Kasse oder im Bus tatsächlich die Ausbreitung des Virus abbremsen kann, gespalten. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, hält die Maßnahme für „reine Symbolpolitik“. Die Maske vermittele eine trügerische Sicherheit, helfe aber so gut wie gar nicht, sagte er dem „Handelsblatt“.

Der Virologe Alexander Kekulé sagte dagegen im Gespräch mit dem MDR, aus Hongkong wisse man, dass das Tragen einer Maske in Kombination mit anderen Verhaltensregeln erheblich dazu beitragen könne, die Krankheit unter Kontrolle zu halten. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, betonte, auch ein selbstgebauter Schutz halte Tröpfchen zurück, wenn man huste und niese.

Beziehung & Wirtschaft:

Am Nachmittag kommt Maik kurz vorbei. Er ist in 50% Teilzeit beschäftigt und nebenbei kleiner Einzelunternehmer, Vertrieb für Veranstaltungen auf selbstständiger Basis. Da das finanzielle Hilfspaket der Regierung auch Freiberufler und Einzelunternehmer unterstützen soll, möchte er einen Antrag auf Corona-Soforthilfe stellen. Weder als Beschäftigter in Teilzeit, noch als Einzelunternehmer verdient er genug, um davon leben zu können. Mit beidem zusammen reicht es so gerade. Allerdings befürchtet er, dass der Betrieb, indem er angestellt ist, bald Kurzarbeit anmeldet. Laut eigener Aussage bedeutet das dann für ihn, nur noch knapp 67% von einem halben Gehalt zu bekommen. Da alle Veranstaltungen auf unbestimmte Zeit abgesagt sind, fällt sein Vertriebsjob in nächster Zeit auch weg. Im Notfall müsste er dann über die ARGE aufstocken, um auf ein finanzielles Existenzminimum zu kommen. Er will also einen Antrag stellen, hat aber keinen funktionsfähigen Drucker zuhause. Wieder denke ich, dass Maik bestimmt nicht der Einzige ist, bei dem das Krisenmanagement am nötigen Equipment scheitert.

Er kommt also vorbei und wir drucken den Antrag aus, er unterschreibt, wir scannen die letzte Seite mit Handschrift ein. Dann kann er alles noch heute Abend elektronisch wegschicken. Maik meint schließlich, er sei sich nicht sicher, ob er die finanzielle Krisenhilfe überhaupt verdiene, also ob es ihm zustünde, wo andere doch noch viel schlechter dran seien, und habe den beantragten Ausgleichsbetrag, den veranschlagten Verdienstausfall für zwei Monate deswegen auf 1.500 Euro nach unten abgerundet.

Arbeitssituation:

Ich schiebe die Vorbereitung meiner Seminare für das Sommersemester weiter raus. Inhaltlich habe ich schon einige Ideen, aber jetzt will/muss ich mich auch mit digital-didaktischen Möglichkeiten auseinandersetzen, denn es sieht nicht danach aus, als könnten wir Präsenzlehre veranstalten. Einfach nur einen Grundlagentext mit fünf Fragen dazu hochladen, will ich nicht. Es wird also einige Vorbereitungszeit brauchen, da das digitale Lehren Neuland für mich ist. Eigentlich für die größten Teile des universitären Lehrbetriebs. Ich freue mich darauf, mich damit zu beschäftigen. Darüber, dass das bedeutet, dass ich deutlich über mein Stundenkontingent hinausarbeiten werde, darf ich nicht nachdenken.

Sozialleben:

Eine Freundin von mir ist seit November für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit in einer Klinik verantwortlich, 50% Teilzeit. Die Klinik ist eine Reha-Klinik und gehört einem überregionalen Klinikverbund an. In unserem abendlichen Telefonat berichtet sie mir, dass bereits zwei Kliniken aus dem Verbund geschlossen sind. Erst gab es wegen Corona einen Aufnahmestopp für Patient*innen, schon kurz darauf konnten die Gehälter an das Personal nicht mehr ausgezahlt werden. Ich wundere mich, dass die Gehälter so schnell knapp werden. In der wievielten Coronawoche sind wir jetzt? Woche sechs? Und da werden einer gutgehenden Klinik schon die Mittel knapp?

Weiter erzählt mir meine Freundin, dass sie zwei Coronafälle in der Klinik haben, aber laut Chefarzt nicht verpflichtet sind, das öffentlich zu machen. Auf dezidierte Anfrage hin, sei man ehrlich, ansonsten würde das nicht kommuniziert, so die Ansage aus der Chefetage. Ich frage mich, ob der Chefarzt als Arzt urteilt oder als Unternehmer und ob beides zusammengeht? Wegen der Coronafälle gehen jetzt aber auch in dieser Klinik die Schutzmittel aus. Schutzkittel würden dringend gebraucht. Die hätten vor Corona 3,50 Euro pro Stück gekostet, jetzt müssten sie 23 Euro pro Stück bezahlen, zumindest bei dem Anbieter, bei dem sie auf die Schnelle noch welche bekommen können.

Und dann macht sich meine Freundin auch große Sorgen um ihren Job. Es gibt zwar jeden Morgen eine Corona-Runde im Haus, aber fast nichts für sie zu tun, weil sie keine Veranstaltungen planen kann, und sie ist noch sechs Wochen lang in der Probezeit.

Dann erzählt sie mir noch eine Social-Media-Anekdote. (Ich bin nicht auf Facebook, Twitter oder Instagram. Deswegen berichten mir meine Freund*innen ab und an darüber, was da los ist.) Eine Bekannte von ihr hatte auf Facebook gepostet, dass es in Laden X frische Backhefe gebe. Die Bekannte wusste, dass irgendwelche Gruppenmitglieder auf der Suche waren, wahrscheinlich war die mangelnde Hefeversorgung in der Facebookgruppe thematisiert worden. Die Bekannte denkt also, sie tut anderen einen Gefallen, indem sie ihnen den Tipp mit Laden X gibt. Tatsächlich sei sie daraufhin aber angefeindet worden mit dem Vorwurf, sie würde zu Hamsterkäufen aufrufen. Ist den Leuten so langweilig, dass sie jetzt an der falschen Front Zinnober machen müssen?

Quellenmaterial:

Tagesschau online vom 31.03.2020: Bundesregierung gegen Maskenpflicht „In der jetzigen Lage keine Notwendigkeit“. https://www.tagesschau.de/inland/corona-deutschland-mundschutz-101.html [Aufruf: 31.03.2020]

 

Mittwoch, 01. April 2020
Endlich nochmal aufhübschen

Beziehung:

Um 17.45 Uhr holt mich Maik mit dem Rad ab. Er hat zwei Wochen Urlaub genommen und Zeit und Lust auf Bewegung. Ich fahre gerne hinter ihm her, sieht auch ganz gut aus. Da er ein passionierter Mountainbiker ist, der angeblich schon einschlägige Profi-Strecken im Schwarzwald bewältigt hat, fällt mir positiv auf, dass er sehr langsam fährt, natürlich mir zu Liebe. Weil heute wieder eine Mitglieder-Videokonferenz vom Verein ist, in dem Maik aktiv ist, habe ich meinen Laptop im Gepäck. Bei ihm angekommen, kochen wir und machen dann die Technik bereit. Maik ist begeistert! Obwohl mein Laptop im unteren Segment rangiert, kann Maik mit flüssigem Bild und verständlichem Ton an der Konferenz teilnehmen. Letztes Mal, über seinen PC, war er nur in very slow Stockmotion zu sehen und das Mikro funktionierte auch nicht. Er konnte eigentlich nix, außer passiver Beisitzer zu sein. Er macht einen guten Vorschlag und freut sich sehr. Ich freue mich auch, weil er so stolz ist, und dass ich ihm mit der Technik helfen konnte. Danach hören wir uns wieder durch seine phänomenale Plattensammlung.

Hinein in die musikalische Zweisamkeit auf dem Sofa kommentiert Maik mein Outfit. Es gefällt ihm. Und ich muss sagen, es tut mir sehr gut! Es tut mir gut, einen Anlass zu haben, mich für jemandem aufzuhübschen. Ich bin nicht überaus eitel, mittelmäßig denke ich – übertrieben würden die einen, untertrieben wohl andere sagen. Aber neben den sozialen Anlässen fehlt es mir auch, mich für die Arbeit oder eine Party optisch in Szene zu setzen. Mein Frausein, meine soziale Persönlichkeit funktioniert gerne über einen bestimmten Look, der im Homeoffice und privaten Lockdown aber fehl am Platz ist. Duschen und halbwegs Zurechtmachen bleiben auch jetzt Alltagsroutinen. Meine Partygarderobe gehört aber eben nicht zum Alltag, sondern zu einer Szene und auf eine Tanzfläche mit Nebelmaschine. Wenn sie niemand sieht, macht es keinen Spaß, sie anzuziehen. Zuhause kommen mir die Klamotten deplatziert vor. Ich brauche das Drumrum für sie.

 

Freitag, 3. April 2020
Die Maske als Mode- und Piratenartikel

Medien:

Seit dem Telefonat mit meiner Mutter, die Atemschutzmasken für die Familien nähen lässt, habe ich den Eindruck, dass die Maske immer mehr zum Thema im Alltag wird. Am Nachmittag höre ich zufällig einen Beitrag dazu im Deutschlandradio. In der Sendung Corso vom 03. April 2020 interviewt der Moderator Fabian Elsäßer den freien Produktdesigner und Absolvent der Berliner Kunsthochschule DesignFarm Maximilian Mahal. Mahal ist anscheinend Teil des „MaskOnCollective“. Als MaskOnCollective haben Berliner Designer*innen kürzlich via Instagram eine Kampagne für das Tragen von Schutzmasken gestartet.

Auszug aus dem Interview:

Moderator Elsäßer: „Wenn man jetzt wirklich eine Maskenpflicht einführen würde, würde das ja auch einen starken Kulturwandel in der Art wie wir rausgehen, wie wir auch miteinander rausgehen, bedeuten. Meinen Sie, der lässt sich durchsetzen, ein solcher Wandel?

Mahal: Hm, ja, durchsetzen, ob er sich jetzt von oben durchsetzen lässt, weiß ich nicht (…) Im asiatischen Raum ist es ja schon deutlich verbreiteter, da ist es auch eher als solidarischer Akt angesehen. Man trägt Maske dort eher deswegen, um das Umfeld vor einem selber zu schützen. Da wird man dann teilweise auch schon komisch angekuckt, wenn man ohne Maske rumläuft, also es ist viel mehr selbstverständlicher. Ich glaube, was bei uns ein bisschen ungewohnt ist, ist die Ästhetik der Maske (…) die stammt halt aus dem medizinischen Kontext (…) und das liest man ja mit, wenn man dieses Objekt sieht, und der wird jetzt halt übertragen in einen fremden Kontext, also den öffentlichen Raum, und dadurch erfährt es dann erstmal relativ viel Aufmerksamkeit. Ich sehe das aber auch positiv, weil die Maske als Objekt halt dieses unsichtbare Virus auch wieder sichtbar macht, man hat einfach einen Erinnerungsträger direkt vor den Augen.

Elsäßer: (…) Glauben Sie, dass Design kann auch für die Akzeptanz der Maske sorgen?

Mahal: Auf jeden Fall, also ich glaube, das andersartige Gestaltung, also jenseits der Medizinoptik, durchaus dazu beitragen kann. Also es gibt auch einige große Modedesignunternehmen, die das auch gerade wieder für sich entdecken, das Objekt der Maske. Also es wird durchaus immer stärker auch als Modeaccessoire dann schon auch betrachtet.

Objekt, Erinnerungsträger, Modeaccessoire – ich finde es interessant und inspirierend, wie Mahal die Atemschutzmaske deutet. Die Beobachtung, dass ihre Anwesenheit im alltäglichen, öffentlichen Raum neu ist, ist vielleicht nicht wahnsinnig scharfsinnig, aber es regt zu Überlegungen an. Pflaster und Pinzette gehören heute in fast jedem westlichen Haushalt zur Grundausstattung, möchte ich meinen. Wahrscheinlich mussten diese Nutzgegenstände auch mal den Sprung aus dem medizinischen Behandlungsraum in die häusliche Schublade schaffen. Allerdings bleibt zumindest die Pinzetten auch eher zuhause. Arbeiten mit der Pinzette gehören zur Intimhygiene, an einem sichtbaren Pflaster stört sich hingegen kaum jemand. Pflaster gibt es auch schon lange mit lustigen Designs zu kaufen, damit der Schnitt im Finger oder das aufgeschürfte Knie ein bisschen weniger weh tut. Assoziation: Krankenhausserien. Der Anblick der Maske ist mir aus dem Fernsehen am vertrautesten, allerdings fast immer in Verbindung mit einer Szene im OP. Bei Maske und Schutzkittel denke ich an schwerwiegende Operationen. Als ich während der Vogelgrippe erstmals Asiat*innen in den Nachrichten und dann und wann mal auf der Straße mit Masken sah, fand ich das sehr irritierend und habe mich gefragt, wen sie damit schützen wollen? Sich selbst oder die Umwelt, weil sie selber krank sind? Ich denke, dass könnte auch bei Corona weiterhin für Hemmungen sorgen, gerade wenn man nicht offensichtlich einer Risikogruppe angehört: Die Angst, selber als infiziert wahrgenommen zu werden.

Abends lese ich im Spiegel Corona-Newsletter, dass die USA angeblich auf einem Flughafen in Bangkok 200.000 Schutzmasken konfisziert haben, die für die Berliner Polizei bestimmt waren. Der Berliner Innensenator wirft Trump einen Akt „moderner Piraterie“ vor. Wer hätte gedacht, dass sich das Weltgeschehen mal so sehr um dieses kleine Ding drehen würde.

Sozialleben:

Meine Eltern kommen vorbei, bringen mir zwei Atemmasken, Spargelspitzen und zwei Flaschen Wein. Begrüßung und Übergabe der Waren erfolgen mit angemessenem Abstand. Wir stehen kurz draußen vor der Haustür, leider ist es sehr kalt. Nach fünf Minuten sind sie wieder weg, aber wir haben uns wenigstens nochmal kurz gesehen. Die zwei Masken, die ich nun besitze, sind aus einem alten Biberwäsche-Bettbezug meiner Eltern genäht. Modeaccessoires werden sie nicht werden.

Quellenmaterial:

Deutschlandradio Corso vom 03.04.2020: Schutzmasken: Eine Frage des Designs. https://www.deutschlandfunk.de/schutzmasken-eine-frage-des-designs.807.de.html?dram:article_id=473942 [Aufruf: 03.04.2020]

Spiegel online: Coronakrise: USA konfiszieren 200.000 für Berlin bestimmte Schutzmasken. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-krise-usa-konfiszieren-200-000-fuer-berlin-bestimmte-schutzmasken-a-7e22b2d4-53b4-4675-8cce-1778b4333dd6 [Aufruf: 03.04.2020]

 

Samstag, 4. April 2020
Maskierte Historie

Beziehung:

Nachmittags fahre ich zu Maik. Ich habe vier Dosen Bier, Spargelspitzen und eine Flasche Weißwein als Mitbringsel im Gepäck. Am Nachmittag sitzen wir auf seinem Balkon und ich erzähle ihm von der Begegnung mit meinen Eltern und dem Interview mit dem Designer Mahal, das ich gestern gehört habe. Er sagt, das mit den Masken sei ja eigentlich nichts Neues. Die Pestmaske sei auch später in Venedig zum Karnevalsartikel und in der Steampunk Szene zum Accessoire geworden. Stimmt, daran hatte ich gar nicht gedacht.

Links: https://de.wikipedia.org/wiki/Pestdoktor
Mitte: https://www.figuren-shop.de/ (Bild: All rights reserved.)
Rechts: https://www.thedarkstore.com/ (Bild: All rights reserved.)

 

Sonntag, 5. April 2020
Ein Single braucht Sonne

Sozialleben:
Wir machen einen uuunglaublich langen Spaziergang. Es ist mehr schon eine Wanderung. Das Wetter ist super sommerlich. Am Ende unseres Rückweges kommen wir an der Adresse einer Bekannten vorbei. Erst letztes Wochenende war mir aufgefallen, dass Maik gar nicht weit weg von ihr wohnt. Ich rufe sie kurz an und frage, ob sie Lust hat, mit uns zu Fenstern. Seid ihr etwa vor dem Haus? Moment, ja, ich muss mir nur eine Mütze anziehen, ich sehe furchtbar aus.

Ihr geht es so na ja, aber aussehen tut sie trotz Mütze wirklich nicht gut. Als das Fenster aufgeht, schaut ein kränkliches, fahles Gesicht heraus. Ihr habt ja richtig Farbe im Gesicht, meint sie zu uns. Dann erzählt sie, dass sie so gut wie gar nicht draußen ist. Sie hat Homeoffice verordnet bekommen, kaum soziale Kontakte und alleine mag sie nicht groß raus. Sie ist Single und auch die regelmäßigen Treffen mit ihrer Familie fallen jetzt aus. Dabei stehen in ihrer Familie große Ereignisse an: ein 30. Geburtstag, eine Heirat und in wenigen Tagen wird sie gleich zweimal Tante werden. Wegen der Geburten will niemand ein Risiko eingehen, totales Kontaktverbot. Ein Baby soll direkt auf der anderen Straßenseite auf die Welt kommen und sie darf es nicht sehen. Nach der heimischen Computerarbeit näht sie Masken, die sie an Altenheime und Menschen mit kleinen Kindern verschenkt. Ein paar hundert habe sie schon genäht, es gäbe ja sonst nichts zu tun. Letztes Wochenende habe sie sich mal mit einer Freundin auf dem Friedhof getroffen. In Freiburg gilt ja derzeit ein Verbot für öffentliche Plätze, da bleibt nicht mehr viel, wenn man nicht durch die Gegend laufen oder fahren mag. Das Treffen sei gut gewesen. Auch endlich noch einmal ein Grund, sich zurechtzumachen. Zuhause nur Jogginghose, kein Friseur, keine Verabredung, man verlottert.

Wir verabreden, uns nächstes Wochenende spontan zu kontaktieren und uns auf jeden Fall auch auf dem Friedhof treffen. Ich kann sie so gut verstehen. Wenn ich Maik nicht hätte, würde ich auch die meiste Zeit drinnen hocken. Ich habe auch keine Draußen-Hobbies und war auch noch nie gut darin, alleine etwas zu unternehmen. Außer Tanzen zu gehen, aber da weiß ich auch immer, dass ich ein paar Leute im Club treffe. Vor ein paar Tagen hatte ich mal mit meiner Bekannten gechattet, weil ich mir Sorgen um ihre Seele gemacht habe. Psychisch scheint sie einigermaßen stabil zu sein, aber ich bin wirklich froh, dass ich sie heute mal gesehen habe. Sie muss raus! Wir müssen sie nach draußen holen!

 

Montag, 6. April 2020
E-Learning und Osterstress

Daily Life:

Ich habe nun alles für einen kleinen Ostergruß für Schwester und Schwager in der Schweiz beisammen und packe ein Coronakrisen-Päckchen mit Lakritz, Schokolade, Tee, DVD, Seife und einer Rolle Klopapier. Vor der Post hat sich eine 20 Meter lange Schlange gebildet, es geht aber schneller als gedacht. Nach knapp zehn Minuten bin ich an der Reihe. Dann schlucke ich: 29,90 Euro sagt der Postmitarbeiter, weil über 2 kg (es sind 2,75 kg) und in die Schweiz, das ist EU-Ausland. Es ist vermutlich die teuerste Lakritzverschickung der Geschichte, die Luftlinie gerade mal 50 Kilometer südwärts geht. In „echten“ Krisenzeiten mit existenziellen Versorgungsengpässen müssten wir uns etwas anderes für die Versorgung einfallen lassen. Irgendjemand müsste das Zeug dann heimlich über die Grenze schmuggeln…

Arbeitssituation:

Ich habe etwas Neues gefunden, das mich im Homeoffice von der Vorbereitung meiner Seminare ablenkt: Coursera, eine Art Online-Universität. Meine Schwester hat von Ihrem Konzernarbeitgeber zwei Lizenzen zum Verschenken an Freunde und Familie während der Corona-Pandemie bekommen, weil ja jetzt viele zuhause sind. Typisch, habe ich gedacht, der Konzern bleibt sich treu und verkauft es als Geschenk, dass die Mitarbeiter*innen und ihr Umfeld die Krise für die persönliche Weiterbildung, also sinnvoll nutzen. Die Vorstellung, dass Familien im Homeoffice gemeinsam faulenzen, „Mensch ärgere dich nicht“ spielen, Zeit brauchen, um für das Projekt Klopapier eine Strategie zu entwickeln, passt wahrscheinlich nicht zur Corporate Culture. Aber tatsächlich ist es ja auch eine gute Idee und keine knauserige, da ich meine, meine Schwester hätte gesagt, dass eine Lizenz für ein Jahr normalerweise um die 15.000 Euro kostet. Vielleich ist es auch Teil einer Imagekampagne, weil der Konzern, für den meine Schwester arbeitet, zu den profitablen Grundfesten des Gesundheitswesens gehört und seine gesamte Produktion aufgrund wirtschaftlicher Logiken nach Asien ausgelagert hat, was jetzt große Probleme in den Lieferketten macht.

Unter www.coursera.org werden Kurse in den verschiedensten Fächern angeboten. Ich belege einen Kurs, weil mich interessiert, wie hier die E-Didaktik funktioniert. Vielleicht finde ich Anregungen für meine digitale Seminarplanung. Aber ich möchte auch etwas machen, das inhaltlich zur aktuellen Lage passt. Deswegen starte ich den Kurs „Public Health: Essential Epidemiologic Tools for Public Health Practice (in the US)“. Meine Dozentin heißt Aruna Chandran und ist von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. Der Kurs soll vier Wochen dauern. Pro Woche wird ein thematischer Lehrblock anhand von ca. sechs Videos vermittelt, die jeweils drei bis zehn Minuten lang sind. Dabei werden verschiedene Charts per Videofunktion eingespielt, dazu hört man die Stimme der Dozentin. Der gesamte Sprechtext, Arunas Skript, ist unter dem Videofenster noch einmal zum Mitlesen verschriftlicht. Das ist super, nicht nur, weil ich keine Muttersprachlerin bin und geschriebenes Englisch besser verstehe, ich kann dadurch auch zentrale Stellen einfach per Copy and Paste selektieren und als persönliche Notizen abspeichern. Am Ende jeder Woche bzw. nach einer Lehreinheit gibt es ein kleines Quiz, wie ich dem Plan entnehme. Inhaltlich richtet sich das Kursdesign an Berufstätige, die sich nebenher weiterbilden möchten. Alle können nach ihrem eigenen Tempo und Zeitbudget lernen, das gefällt mir.

Sozialleben:

Telefonat mit meiner Mutter. Sie möchte, dass ich an Ostern zu ihnen komme. Sie möchte backen und kochen, Spargel, und ich glaube, das gibt ihr Halt. Meine Mutter ist nicht religiös, aber traditionell und die Vorstellung, dass die Familie an den Feiertagen nicht zusammen ist, belastet sie. Außerdem haben diese Tätigkeiten zeitlebens ihrer Rolle entsprochen. Das Festmahl zu planen gibt ihr Normalität und spürbar Energie. Dann fragt sie mich, wie es mir geht. Ich bin nicht auf Zack, sage, dass ich Kopfschmerzen und eine Magenverstimmung habe, was stimmt, was ich aber hauptsächlich sage, um damit zu entschuldigen, dass ich bei unserem Gespräch nicht ganz bei der Sache bin und mit meinen Gedanken woanders. Meine Bauchgeschichte ist nicht dramatisch, aber sie hat gefragt und ich habe geantwortet, ohne daran zu denken, dass Coronazeiten sind. Fehler! Sie schluckt und macht diesen Hm-hm-hm-Ton, wie damals, als ich längere Zeit arbeitslos war. Hm-hm-hm bedeutet Drama, Sorgen und ich bin verantwortlich dafür. Ich kann mit diesem Hm-hm-hm nicht umgehen. Das sind Vorwurfslaute, aber sie spricht keinen Vorwurf aus, auf den ich reagieren kann Hm-hm-hm heißt immer, dass meiner Mutter gerade einfällt, dass sie nicht sagen sollte, was sie gerne sagen würde. Ausdruck einer negativen Bestandsaufnahme. Mir wäre Klartext lieber. Denn so muss ich die passenden Worte dafür finden, was meine Mutter beunruhigt, und am Ende bin das immer ich und ich werde patzig. Ich frage sie, ob ich auf die Frage, wie es mir geht, in nächster Zeit am besten nicht mehr antworten soll, weil sie womöglich sofort Angst bekommt, dass ich Corona habe.

Oben drauf erzähle ich ihr, dass ich mich am kommenden Osterwochenende auch mit meiner blassen Freundin treffen muss, damit sie mal raus kommt. Wieder dieses Hm-hm-hm. Es macht mich wahnsinnig, ich fühle mich zutiefst für mein Verhalten kritisiert. Rechtfertigungsdruck. Meine blasse Freundin wäre der zweite Direktkontakt innerhalb von vier Wochen. Meine Mutter gibt mir aber das Gefühl, dass ich total unverantwortlich bin. Mann, bin ich angekratzt!

Ich versuche eine neue Strategie und möchte sie damit versöhnen, dass ich gerade in einer privilegierten Stellung bin, die es mir erlaubt, meine Kontakte auf ein Minimum runterzufahren. Ich muss nicht weiter an irgendeiner öffentlichen Arbeitsstätte tätig sein und bin im öffentlichen Dienst auch nicht von Kurzarbeit bedroht. Meine Mutter reagiert mit einem Themenwechsel. Sie bekäme wieder weder Mehl noch Hefe, ob ich ihr das besorgen könne. AHHH! Meine Mutter ist eine herzensgute Frau, aber sie hat auch ein Talent, mich binnen Minuten auf 180 zu bringen. Wenn ich eine Freundin treffe, bedeutet das höchste Sorgenstufe. Mangelgüter wie Mehl und Hefe zu besorgen, ist aber in Ordnung und ich frage mich wirklich inständig, wie viele Supermarktbesuche meinerseits sie dafür für vertretbar hält. Setzt sie darauf, dass ich direkt im ersten Supermarkt fündig werde? Würde sie eine ausgedehnte Suche in mehreren Märkten zwar besorgt kommentieren, aber letztlich als Liebesbeweis deuten? Oder ist die Einkaufswelt trotz Handschuhen und Atemmasken für sie immer noch eine berechenbarere Welt als die Sozialwelt ihrer Tochter unter freiem Himmel? Letztlich ist die Supermarktwelt aktuell wohl die einzige, an der sich meine Mutter festhält.

Gut durch diese Krise zu gehen, bedeutet für mich, hilfsbereit zu sein, auch wenn ich bisher da nicht sonderlich geglänzt habe. Aber was, wenn das eine Helfen, das andere Helfen zur Bedrohung macht? Wenn ich meiner Freundin helfe, einen Sozialkontakt, Sonne und frische Luft zu haben, empfindet das meine Mutter als Gefahr. Wenn ich meiner Mutter helfen will, gehe ich am besten in die totale Isolation, die ich nur verlasse, um für sie Hefe und Mehl zu besorgen. Ich muss meine Mutter genauer fragen, was ihr Angst macht. Ist es einfach nur ein Bild, dass ich meine Freundin umarme? Was genau macht ihr Angst? Mir macht Angst, dass sie mich für verantwortungslos halten könnte. Ich bin eben die Kleine in der Familie, das Nesthäkchen, und werde nie erwachsen. Wir werden an Ostern viel Gesprächsstoff haben…

Abends Telefonat mit meiner Schwester. Ich bin froh, dass wir diesmal kein Videogespräch führen, sondern ein normales Telefongespräch wie sonst auch. Meine Schwester ist auch besorgt, aber auf eine ganz andere Art als meine Mutter. Sie hat aufgrund ihrer Arbeit ein sehr großes, weltweites Netzwerk. Sie kennt mittlerweile mehrere Menschen, die eine*n Angehörige*n an Corona verloren haben. In ihrer Welt ist der Corona-Tod deutlich präsenter als in meiner. Das nimmt sie mit, aber sie reagiert darauf, indem sie sagt: Versuch, das Leben den Umständen entsprechend zu genießen! Sie fragt mich, wie es mit Maik läuft, findet das alles schön. Dafür bewundere ich sie und bin ihr sehr dankbar. Sie macht mir kein schlechtes Gewissen wegen Maik oder sonst was, sondern freut sich, wenn ich ihr sage, ich tue dies und das und das tut mir gut. So gestalte ich die Krise für mich und es geht mir gut damit. Danke, große Schwester! Danach reden wir darüber, wie Corona wohl die Arbeitswelt verändern wird. Mehr Homeoffice, weniger die Menschen und die Umwelt belastende Reisen dank Videokonferenzen, gleichwohl besondere Wertschätzung der persönlichen Begegnung. Meine Schwester musste die letzten 20 Jahre unglaublich viel durch die Welt fliegen. Einmal ist sie 20 Stunden geflogen, für ein einziges Meeting, das ein paar Stunden dauerte, danach direkt wieder zurück. So ein Wahnsinn. Sie genießt das Arbeiten im Homeoffice sehr und ihr Lebensgefährte, der immer gesagt hat, er kann seinen Job nicht im Homeoffice machen, kann das jetzt plötzlich doch.

 

Dienstag, 7. April 2020
Informationshürden

Daily Life:

In der ungefähr vierten Coronawoche hat sich bei mir ein seltsames Normalitätsgefühl eingestellt. Die Ausnahme bekommt Routine. Mein Tagesablauf ist strukturiert, ich weiß, wie es in welchen Läden beim Einkaufen läuft, habe mich ans Radfahren gewöhnt und die festen Tage mit Maik. Als ich gestern Abend meinen Pfandsack wegbringen wollte, gab es allerdings eine jähe Überraschung: der Edeka hat neuerdings nur noch bis 20 Uhr statt wie normal bis 21 Uhr geöffnet. Der Pfandsack ist voll, muss weg und ich will auch noch Getränke besorgen.

Heute also auf ein Neues. Den Edeka kann man seit einiger Zeit nur noch über einen von zwei Eingängen betreten und man kommt nur mit Einkaufswagen rein. Als ich ankomme, gibt es eine kleine Schlange. Sobald jemand mit einem Wagen rauskommt, wird der Griff von einem Securitymitarbeiter desinfiziert und die oder der Erste aus der Schlage darf rein. An der Seite steht ein Schild, auf dem um Verständnis dafür gebeten wird, dass die Leute alleine zum Einkaufen kommen sollen und einen Wagen nehmen müssen. Während ich auf meinen Wagen warte, kommt eine Afrikanerin heraus, Einkaufstaschen voll, aber kein Wagen. Der Securitymensch geht sie sofort harsch an. Sie geht an ihm vorbei, faucht etwas zurück. Ich verstehe weder was der eine, noch was die andere sagt, trotzdem hört sich das nach Reiberei an.

Ich frage mich, wie das mit der Informationslage aktuell in verschiedenen Lebenskontexten aussieht. Mein Vater ist seit dreißig Jahren ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe aktiv. Seit einem Jahr betreut er eine afghanische Familie, die vor zwei Jahren als Analphabeten nach Deutschland gekommen sind und seiner Meinung nach beim Deutschlernen sehr schlechte Fortschritte machen. Es wird viele Menschen geben, die das Edeka Schild nicht lesen können, die nicht täglich den Corona-Newsletter vom Spiegel lesen und die wahrscheinlich weiterhin hauptsächlich die Nachrichten aus ihren Herkunftsländern verfolgen, in denen über Kabul, Damaskus oder Beirut, nicht aber unbedingt über Freiburg im Breisgau berichtet wird. Wie wird in einer pluralistischen Gesellschaft Krisenkommunikation für alle gewährleistet? Gibt es da engagierte Helfer*innen, die Auszüge aus der Badischen Zeitungen für ihre Community übersetzen? Und selbst wenn – haben alle aus dieser Community Zugang zu diesen Informationen? Ich wüsste gerne, wie sich die Menschen in ihren verschiedenen Lebenssituationen informieren.

Im Lidl läuft das Einkaufen ganz anders als im Edeka. Wagen ist keine Pflicht, wenn es eine zahlenmäßige Zutrittsbeschränkung gibt, habe ich sie noch nicht bemerkt. Ich finde es ein bisschen schwierig, dass alles irgendwie überall anders geregelt ist. Im Lidl so, im Edeka anders, in Baden-Württemberg darf man dieses, in Freiburg nicht mehr jenes, in Bayern nur das und dies und in NRW wieder was ganz anderes, besonders in Heinsberg, Deutschlands aktuellem Corona Hot-Spot. Ich muss aufpassen, dass ich Regelungen in den Nachrichten für andere Regionen nicht mit den örtlichen Regelungen durcheinanderbringe bzw. dass die für mich relevanten Lokalregelungen nicht untergehen. Dass es in Freiburg ein Verbot für öffentliche Plätze gibt, hatte ich letztes Wochenende schon wieder vergessen, bis meine Freundin meinte, dass uns für ein Treffen nur noch der Friedhof bleibt. Mit genügend Abstand hätte ich mich mit ihr und zwei Bierchen auch glatt ans Siegesdenkmal gesetzt – unwissentlich illegitim, aber Unwissenheit schützt ja bekanntlich vor Strafe nicht.

 

Mittwoch, 8. April 2020
Freud und Leid unterm Kirschbaum

Sozialleben:

Um 15 Uhr bin ich mit einem Kollegen im Institut verabredet. Ich denke, es geht um Angelegenheiten das Sommersemester betreffend. Aber als ich ankomme, begrüßt er mich mit der Ansage, dass er zwei Dosen Gin Tonic kaltgestellt hat. Das erste Wiedersehen seit vier Wochen! Alles in allem kommen wir beide ganz gut zurecht, stellen wir fest. Nach dem Gin Tonic beschließen wir, noch ein Bier zu trinken. Als ich mit zwei Bier aus dem Haus komme, laufe ich in meine Lieblingskollegin und Freundin hinein, die zufällig da ist, weil sie etwas aus ihrem Büro holen musste. Auch sie nimmt ein Bier. Gegen Ende des Bieres kommt ein weiterer Kollege hinzu, den ich sehr mag. Er ist derjenige, der neuerdings – nach 22 Jahren – wegen Corona wieder einen Fernseher besitzt. Ich denke, er hat es von allen in dieser Runde am schwersten.

Das spontane Treffen tut uns allen sooo gut. Ich bin glücklich. Ich freue mich, dass die, die mir bei der Arbeit die Liebsten sind, alle zufällig gerade hier sind. Zu viert sitzen wir in einem ausgedehnten Stuhlkreis im Garten unter dem blühenden Kirschbaum, trinken Bier, berichten, wie es so geht, nehmen Anteil, machen Späße. Das hat es so vorher auch noch nicht gegeben. Aber es gibt auch großes Leid. Der Vater meiner Kollegin hat letzte Woche eine schlechte Diagnose bekommen. Unklar, wie lange er noch lebt, vielleicht fünf Jahre, vielleicht fünf Monate. Zu Ostern hat die Familie deswegen die Kontaktsperre aufgehoben. Der Satz hallt noch nach: Meine Familie hat die Kontaktsperre aufgehoben, ich fahre hin und komme deswegen nach Ostern zwei Wochen lang nicht mehr ins Institut. Quarantäne.

 

Donnerstag, 9. April 2020
Spargelpromis, Corona-App und Gott macht auch mit

Arbeitssituation:

Erneut verschiebe ich meine Seminarvorbereitung. Mittlerweile habe ich aber auch ausreichend Texte gesichtet. Außerdem bietet unsere Unibibliothek seit Dienstag für 5,50 Euro einen Scan-Service und Buchversand an. Klasse!

Medien:

Heute beschäftigen mich besonders zwei Meldungen zur Coronakrise, die die Nachrichten bestimmen:

  1. z. B. auf Deutschlandradio: Erste Erntehelfer aus Rumänien in Deutschland angekommen

Mit welcher Freude rumänische Saisonarbeiter in Deutschland empfangen werden können, wenn es um den Spargel geht! Die Spargelernte war/ist nämlich wegen Personalmangels aufgrund der Grenzschließungen, Ein- und Ausreiseverbote in höchster Gefahr. Die Erntehelfer aus Osteuropa fehlen. 80.000 können nun aber doch kommen. Sie werden eingeflogen. Große Politiker*innen werden eingeflogen, Blauhelme, Ärzt*innen und Atemschutzmasken – und rumänische Erntehelfer. Ich finde das höchst amüsant, dass für den deutschen Spargel aktuelle Regelungen hopplahopp außer Kraft gesetzt werden. Einerseits verstehe ich, dass die Landwirtschaft in Not gerät, wenn der Spargel nicht gestochen wird. Andererseits ist Spargel doch mitunter das elitärste Gemüse, das auf deutschen Feldern wächst. Über die Sonderbehandlung und Beachtung, die die Erntehelfer aus den „Schmarotzerländern“ nun wegen des Spargels erfahren, freue ich mich aber.

  1. z. B. auf ZDF online: Wegen Betrugsverdachts: NRW stoppt Corona-Soforthilfe

Das macht mich richtig sauer, nicht zuletzt, weil ich weiß, wie viel Energie Maik in seinen Antrag steckt, bei dem es gerade mal um 1.500 Euro geht. Sein Mini-Unternehmen als Verteiler für Veranstaltungsmaterialien liegt nun wirklich brach. Heute erarbeitet er mit einem Geschäftspartner die dritte Fassung seines Antrags, den er dann erneut bei der IHK Baden-Württemberg einreichen will. Anscheinend haben Kriminelle fix eine Webseite aufgesetzt, die offiziell aussieht und bei einer Google-Suchanfrage für das Bundesland Nordrhein-Westfalen an erste Stelle erscheint. Hier haben Antragsteller*innen ihre Daten eingegeben, die dann von den Kriminellen genutzt wurden, um die Hilfen an die diversen Unternehmen einzustreichen. Im Radio wird ergänzend darüber berichtet, dass die Prüfungsvorgänge deutschlandweit überall verschieden sind, so würde in Bayern fast gar nicht geprüft und weder eine Steuernummer, noch eine Personalausweisnummer zur Verifizierung verlangt, weil die Ansage der Politik lautet, möglichst schnell auszuzahlen.

Später bekomme ich am Rande ein Interview im Deutschlandradio mit, in dem es dem Gesprächspartner gelingt, das Phänomen der Hamstereinkäufe etwas zu relativieren. Natürlich gebe es die, aber man müsse auch daran denken, dass die Menschen nun einfach viel mehr zuhause essen und dementsprechend mehr einkaufen. Keine Schulmittagessen mehr, keine Kantine, keine Restaurants. Ganze Familien essen nun womöglich dreimal täglich zusammen zuhause, da müssen sie natürlich auch mehr Lebensmittel einkaufen.

https://www.zdf.de/
(Video verfügbar bis 8. April 2021)

Abends schaue ich das ZDF Auslandsjournal von gestern. Der letzte Beitrag widmet sich angesichts des anstehenden Osterfestes der Lage in Jerusalem. Vor der Klagemauer werden gläubige Juden interviewt wie Shmuel Epstein. Er sagt: „Gott hat das Virus geschickt, die Lage hängt von ihm ab. Gott zeigt uns, dass er die Macht hat, nicht die Mediziner, die das Virus nicht unter Kontrolle kriegen.“

Der Beitrag bewegt mich. Er fokussiert darauf, wie schwer die Schutzmaßnahmen der israelischen Regierung in streng orthodoxen Vierteln durchsetzbar sind. Ich frage mich, an wie vielen Orten der Welt sich religiöse, esoterische und wissenschaftliche Überzeugungen in der Coronakrise gegenüberstehen. Wo überall sind die Schutzmaßnahmen mit religiösen Praktiken unvereinbar und werden deswegen nicht akzeptiert? In meinem Coursera Kurs wurde kulturelle Sensibilität als eine Kernkompetenz von Public Health Professionals genannt. Wie würde ich einen tief religiösen Menschen von Quarantäne, Ausgangssperre, Mundschutz und Abstandhalten überzeugen, der seine religiöse Praxis über Gemeinschaft und die Allmacht bzw. den Willen eines Gottes definiert? Ich bin gespannt, ob dieses Thema im weiteren Kursverlauf bei Coursera noch einmal tiefergehend behandelt wird. Wie entwickle, kommuniziere und setze ich Gesundheitsmaßnahmen in Gesellschaftsgruppen durch, die nicht an westliche Wissenschaftskonzepte glauben?

Via dem Messengerdienst Telegram erreicht mich eine Nachricht des Bundesgesundheitsministeriums (BGM).

https://t.me/corona_infokanal_bmg/9

Unter der Kampagne „Datenspende“ wird die neue Corona-Datenspende-App des Robert Koch Instituts beworben. Es ist das erste Mal in der Coronakrise, dass ein persönlicher Social Media Kanal von mir von der Regierung genutzt wird. Ich finde es modern, aber auch seltsam, abonniere den Kanal aber auf Telegram. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Kanal beigetreten wäre, wenn ich kein Corona Tagebuch schreiben würde. Die App weckt mein Interesse. Ich bin aber unschlüssig, ob ich sie nutzen will. Einerseits lehne ich Datenerfassung wann möglich ab, bin weder auf Facebook, Twitter, Instagram noch WhatsApp, andererseits bin ich neugierig, was das Robert Koch Institut da entwickelt hat:

https://corona-datenspende.de

Die App wird auf dem Smartphone installiert. Allerdings funktioniert die Datenerfassung nur in Verbindung mit einem Fitnessarmband oder einer Smartwatch: „So funktioniert’s: Für die Corona-Datenspende-App werden ein Smartphone und ein Fitnessarmband oder eine Smartwatch benötigt. Mit diesen sogenannten Wearables können wir frühzeitig Symptome einer Infektion mit dem Coronavirus erkennen und die geografische Ausbreitung erfassen.“ Wie viele Bundesbürger*innen besitzen denn bitte schön ein Fitnessarmband oder eine Smartwatch? Wieso entwickelt das RKI eine App, die nur Bevölkerungsteile nutzen können, die die erforderlichen „Wearables“ besitzen? Selbst, wenn ich mitmachen wollte – ich kann es gar nicht. Ich kann es nicht belegen, aber vielleicht sind der Besitz und das Tragen solcher Wearables mit bestimmten Lebensstilen verbunden. Die erfassten Infektionswege von Corona können dann nur in bestimmten Milieus verfolgt werden. Wie viele Menschen, die in systemrelevanten Bereichen wie Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder Supermärkten arbeiten und einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind, besitzen solche Gadgets? Die Nutzung einer einfachen App auf meinem Smartphone halte ich zumindest für vorstellbar. Wegen des notwendigen Sonderequipments überzeugt mich die Erfindung aber nicht und ich habe eine große Skepsis dem Aussagewert der erhobenen Daten gegenüber.

Quellenmaterial:

Deutschlandfunk: Corona-Krise: Erste Erntehelfer aus Rumänien in Deutschland angekommen. https://www.deutschlandfunk.de/landwirtschaft-corona-krise-erste-erntehelfer-aus-rumaenien.1939.de.html?drn:news_id=1119106 [Aufruf: 09.04.2020]

ZDF online: Wegen Betrugsverdachts – NRW stoppt Corona-Soforthilfe. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/wegen-betrugsverdachts-nrw-stoppt-corona-soforthilfe-100.html [Aufruf: 09.04.2020]

ZDF Auslandsjournal vom 8. April 2020: Wie das Virus die Welt verändert. https://www.zdf.de/politik/auslandsjournal/auslandsjournal-vom-8-april-2020-102.html [Aufruf: 09.04.2020]

Corona-Datenspende-App des Robert Koch Instituts: https://corona-datenspende.de/ [Aufruf: 09.04.2020]

 

Freitag, 10. April 2020 (Karfreitag)
Feierlichkeiten – warum eigentlich nicht fürs Grundgesetz?

Medien:

Das Osterwochenende ist da. Im Deutschlandradio streiten sich deutsche Pfarrer darüber, ob digitale Gottesdienste den Gemeinden nützen oder ob damit das Amt des Pfarrers oder Priesters überbewertet wird, da ein Gottesdienst eine Gemeinschaft der Gläubigen bedeutet. Ich denke, der skeptischen Position geht es ein bisschen wie mir: Ich kenne nur Präsenzlehre, bin nicht besonders technikaffin und tue mich jetzt schwer damit, digitale Formate zu entwickeln. Video-Ansprachen der Bundeskanzlerin oder des Bundespräsidenten hingegen sind mittlerweile ein probates Mittel, sich an die Bundesbürger*innen zu wenden. Wenn die alleine vor der Kamera sitzen, sagt auch niemand, Politik funktioniert nur in der Gemeinschaft. Da scheint es selbstverständlich. Coronapolitik funktioniert nur gut in Gemeinschaft, Pandemiebekämpfung gelingt nur zusammen, wenn alle mitmachen, auch ohne eine erhebende Gruppenzeremonie. Das fehlt gerade allen, das ist nämlich im weitesten Sinne Feiern. Vielleicht fehlt es der deutschen Demokratie in der breiten Basis an Feierlichkeit. Die Kampagne „70 Jahre Grundgesetz“ fand ich gut und wichtig, aber zu leise. Vielleicht sollte man für das Grundgesetz einen Feiertag einrichten. Das wäre doch ein schönes Signal. Damit soll das Grundgesetz ja nicht verewigt werden, im Gegenteil, es wäre ein Tag für Debatten über Anpassungen, Schieflagen, aber auch für die Bewusstwerdung über einen der wenigen gemeinsamen größtmöglichen kleinsten Nenner in diesem Land und was gut daran ist.

Sozialleben:

Ich werde das ganze Osterwochenende mit und bei Maik verbringen. Endlich mal ein paar Tage am Stück zusammen. Wir hören viel Musik und betrinken uns. Das Osteressen bei meinen Eltern ist am Montag. Haben sie das extra so gelegt?

 

Samstag, 11. April 2020 (Ostersamstag)
Volles Kaufland, leerer Petersdom

Daily Life:

Maik und ich starten mit einem großen Kater in den Tag. Nach dem Frühstück am Mittag müssen wir einkaufen. Der nächste Supermarkt ist das Kaufland – das Einkaufsparadies der Unterschicht, wie Maik es gerne nennt. Es gibt keine für mich ersichtliche Zugangsbeschränkung, bei den Einkaufswägen stehen zwar Halterungen mit Papierrollen, aber ich sehe kein Desinfektionsmittel oder Hinweise dazu. In der Tür steht zwar ein Securitymann, aber ich fühle mich trotzdem nicht sehr wohl. Diese Securitymänner scheinen sich nicht dafür verantwortlich zu fühlen, darauf zu achten, dass alle die Regeln einhalten. Vielleicht ist ihre Aufgabe eher … Mediation … wenn es zu Rangeleien ums Klopapier kommt. Auch ohne Corona wäre das Kaufland wohl nicht sehr einladend. Die Atmosphäre ist bedrückend, komisches künstliches Licht und schlechte Luft. Ganze Großfamilien sind unterwegs, rufen sich etwas zu, egal, wer gerade neben ihnen steht, drängeln sich vorbei, an den Kassen ist es unübersichtlich, wieder Gedrängel. Ich bin froh, als wir wieder draußen sind.

Medien:

Abends zappen wir ein bisschen durchs Fernsehprogramm. Bei den ARD Nachrichten bleiben wir hängen: Der Papst ist zu sehen, wie er am Karfreitag abends den Kreuzweg vor dem Petersdom betet, ohne Pilger. Das Bild hat für mich irgendwie etwas Mystisches, auf jeden Fall etwas Einzigartiges und Faszinierendes. Es ist befremdlich, wie das katholische Oberhaupt eine religiöse Praktik ohne eine gläubige Gemeinschaft vollzieht, einsam, für sich alleine. Gerade weil die Wenigen, die dabei sind, so verloren auf dem großen Platz aussehen, wirkt es auf mich erhaben. Als ob da „was Großes“ passiert.

ARD/MDR aktuell vom 11.04.2020, 16:20 Uhr: Papst begeht Karfreitag ohne Pilger: https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy85NzA
3YWU0Ny02NTc3LTRlYmItYTMyZi01N2I3NGZkNzZjMTc/papst-begeht-karfreitag-ohne-pilger
[Aufruf: 12.04.2020]

 

Sonntag, 12. April 2020 (Ostersonntag)
Eins, zwei, drei – Polizei

Social Life:

Um 16 Uhr holen wir meine Freundin ab, mit der wir uns letztes Wochenende verabredet hatten. Sie sieht immer noch fahl aus. Umso mehr freut sie sich über die Gesellschaft und den Draußentermin. Wir gehen zu dem alten Friedhof, der sich direkt die Straße runter hinter ihrem Haus befindet. In der Nähe des Eingangs finden wir sofort eine freie Bank. Maik und ich hocken uns nebeneinander auf die Bank, meine Freundin sitzt mit 1,5 m Abstand auf einer Decke auf dem Boden. Wir haben ein Sixpack Bier dabei, meine Freundin schokoladige Ostergeschenke für uns. Sie sagt, dass ihr – neben dem Friseur – das Ausgehen am meisten fehlt. Ich brauche laute Musik, sagt sie. Der Club, in den wir alle am liebsten gehen, sendet mittlerweile Live Streams, bei denen auch zu Spenden zum Beispiel für ein virtuelles Bier aufgerufen wird. Meine Freundin berichtet von einem anderen Pärchen, das wir kennen, das sich am Wochenende für die Streams aufstylt und zuhause feiert. Sie sagt, das würde sie auch gerne, aber sie käme sich komisch dabei vor, alleine zuhause zu tanzen.

Dass sie die bevorstehenden Geburten der Kinder ihrer zwei Brüder verpassen wird, macht sie immer noch traurig. Zumindest in dem einen Krankhaus wäre es so, dass der Vater zwar zur Geburt mit in den Kreissaal dürfe, aber danach das Krankenhaus wieder verlassen müsste und wegen Besuchsstopp Frau und Kind nicht mehr sehen könnte, bis beide nach Hause kommen. Die werdenden Eltern tun mir leid.

Wir tauschen uns weiter aus, trinken Bier und rauchen, genießen die warme Sonne und das Beisammensein. Nach ca. eineinhalb Stunden müssen wir abbrechen. Zwei Polizistinnen kommen auf uns zu. Sie weisen uns darauf hin, dass sich nur Menschen hier versammeln dürfen, die in einem Haushalt leben. Sie sind wirklich sehr freundlich und wirken so, als wollten sie sich für ihr Einschreiten entschuldigen. Sie geben uns noch den Tipp, dass wir uns einen privaten Balkon suchen sollen, privat wären zwei Hausstände in Ordnung. Wahrscheinlich hat sich jemand beschwert, weil wir auf dem Friedhof Bier trinken und rauchen wie Teenager. Uns war bewusst, dass das passieren könnte, deswegen diskutieren wird auch nicht, sondern sammeln die Kippen auf, packen unsere leeren Flaschen ein und ziehen ab.

Vielleicht ist es aber auch ganz unerheblich, dass wir uns auf einem Friedhof getroffen haben. Seit einigen Tagen ist eine neue Gruppe aktiv: Corona-Denunzianten. Im Deutschlandradio gab es dazu einen Beitrag: Seltsame Mentalität – Denunziantentum in Corona-Zeiten.

Auszug:

Nun sollen aufmerksame Bürger keineswegs verglichen werden mit dem ursprünglich von den Nazis erfundenen „Blockwart“, der als unterster Hierarch der NSDAP im Wohnquartier für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Doch im übertragenen Sinne hat sich die Blockwart-Metapher durch alle Zeiten gehalten. Wer sich an vermeintlich überbordenden individuellen Freiheiten reibt, sieht jetzt seine Chance gekommen: für Ruhe und Ordnung im Revier sorgen. Schnüffeln, spitzeln und denunzieren im Dienste der großen Sache. Inzwischen lästern ausländische Medien schon über das deutsche Phänomen: So beschrieb ein Artikel der Nachrichtenagentur Reuters in britischen Medien, wie der Denunzianten-Ungeist im Schatten der Coronakrise wiedererwacht.

Die Coronakrise bietet einen guten Rahmen, das Phänomen des Denunzierens zu erkunden. Ist es in Deutschland wirklich besonders ausgeprägt? Ich habe das auch in mir. Also ich denunziere nicht (wobei ich Denunzieren hier von polizeilichen Anzeigen bei Rechtsverstößen unterscheide), aber ich kenne das Gefühl, das dahinter steckt. Es macht mich wahnsinnig, wenn andere einfach nur dreist genug sind, eine Regel brechen, und dadurch einen Vorteil haben und ungestraft davonkommen. Diese Leute, die sich zur Pause nicht ausstempeln und dann auch noch früher gehen. Die einfach ohne Einkaufswagen in den Supermarkt marschieren, ohne Konsequenzen. Warum nagt das so an manchen wie auch mir? Ich will, dass sie auffliegen, zurechtgewiesen werden. Vielleicht weil die, die sich an Regeln halten, keine Belohnung dafür bekommen, weil es eben eine Regel ist und somit das erwartbare Mindestmaß an Verhalten. Dann müssen aber zumindest die, die sich nicht dran halten, abgestraft werden, sonst sehe ich auf meiner Habenseite nur Minus. Ich mache mit, der andere nicht und kommt damit anscheinend besser weg. So funktioniert das doch nicht, wo bleibt denn da der Anreiz?! Es ist die Angst, zu kurz zu kommen, als die oder der Dumme dazustehen, und die Angst, dass Regelsysteme ins Wanken geraten, wenn Verräter*innen geduldet werden. Regelsysteme sind eben nicht freiwillig, sie sind verbindlich, ohne zwangsläufig mit einem Bußgeldkatalog daherzukommen. Und doch sind viele Regeln, solange sie nicht gesetzlich verankert sind, eine soziale Aushandlungs- und Entscheidungssache. Und hier kracht es dann oft, wenn die Regel für den einen Diktat, für den anderen aber nur eine Option ist. Bei den Regelkonformen sorgt das für Verunsicherung, eine mögliche Neubewertung. Während die Mehrheit die Zähne zusammenbeißt, darauf hofft, dass eine Autorität oder eine andere höhere Gewalt eines Tages doch noch für ausgleichende Gerechtigkeit sorgt, und sich dann wieder zum Regelsystem bekennt, kommen Denunziant*innen recht schnell ins konkrete Handeln. So gesehen ist Denunzieren praktiziertes Empowerment, Selbstermächtigung. Was Denunziant*innen allerdings dabei fehlt, ist Verhältnismäßigkeit. Wer mit Vorliebe kleine Verstöße, die eigentlich keinen nennenswerten Schaden verursachen, zur Selbstermächtigung braucht, zeigt auf mitleiderregende Weise, wie unbedeutend er sich vorkommen muss.

Quellenmaterial:

Deutschlandfunk vom 11.04.2020: Seltsame Mentalität: Denunziantentum in Corona-Zeiten. https://www.deutschlandfunk.de/denunziantentum-in-corona-zeiten-seltsame-mentalitaet.720.de.html?dram:article_id=474468 [Aufruf: 13.04.2020]

 

Montag, 13. April 2020
Die Zeit fließt wieder schneller

Sozialleben:

Um 14 Uhr holt mich mein Vater zuhause mit dem Auto ab. Ich ziehe die Atemmaske auf und setze mich hinten auf die Rückbank. Mein Vater trägt keine Schutzartikel und wirkt entspannter als ich. Ich fühle mich ein bisschen unwohl und leicht gereizt. Meine Eltern haben alles für unser erstes Coronatreffen vorbereitet: Auf dem großen Balkon stehen zwei Tische ungefähr drei Meter auseinander. Mit 42 Jahren sitze ich nochmal an einem Kindertisch. Insgesamt geht es so ganz gut. Wir finden es anfangs sehr schräg, machen Witze, dann finden wir uns mit der Situation ab. Nachmittags gibt es Rhabarberkuchen, abends Spargel. Für mich erweist sich die Konstellation sogar als überaus angenehm. Da ich als Risikoträgerin wahrgenommen werde, darf ich nicht in der Küche helfen und werde die ganz Zeit von meinen Eltern bedient.

Als ich abends neben Maik einschlafe, denke ich, dass ich mich nun doch irgendwie viel zu schnell verliebt habe. Verdammt, so hatte ich das nicht geplant. Aber nun gut … schön. Meine Strategie, einen Fuß ins Gesundheitswesen zu bekommen, muss ich jetzt erstmal zurückstellen. Aber was das Private angeht, bin ich auf alle Fälle eine Krisengewinnerin.

Und damit schließe ich mein Corona Diary. Am Anfang habe ich es als Entlastung empfunden, Corona ein Stück weit durchs Schreiben zu bewältigen. Jetzt wird es zur Belastung. Jeden Tag passiert so viel, das ich gerne aufnehmen würde, in dem Themen stecken, die meinen Kopf beschäftigen. Corona war durch Gespräche, die Medien, meine Verhaltensweisen viel zu selten nur draußen vor der Tür, sondern ist zu einem dauerhaften Untermieter in meinem Leben geworden. Dabei hat es sich ziemlich breit gemacht, nicht zuletzt auch durch dieses Tagebuch. Jetzt hat sich die anfängliche Coronastarre gelöst, die Zeit fließt wieder schneller und ich brauche Platz für anderes. Das erste Corona-Semester will auch bei mir einziehen und klopft schon seit einer Weile an. Dann mal hereinspaziert.

 

Nachtrag

Es ist der 25. November 2020. Vor einigen Tagen haben mich die Initiatoren des Corona Diary von Curare angeschrieben, ich kann vorher nochmal über den Text schauen, bevor er im Blog online geht. Seit meinem letzten Eintrag ist so viel passiert. Trump ist abgewählt worden, will es aber bis heute nicht akzeptieren. Unermüdlich propagiert er, die Demokraten hätten die Wahl gestohlen, es hätte Wahlbetrug gegeben, egal was er der Demokratie damit antut. Verschwörungstheorien verbreiten sich, wie die von QAnon, die behaupten, dass eine weltweite politische Eliten kleine Kinder ermordet, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge herzustellen. Trump würde diese Elite bekämpfen… Unfassbar, für was manche Menschen empfänglich sind. Unfassbar positiv die Bilder aber auch, die in den letzten Monaten die internationalen Nachrichten bestimmt haben: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass zu einer anderen Zeit in meinem Leben in so vielen Ländern Menschen im Protest und für ihre Grundrechte auf die Straßen gegangen sind. In Amerika Im Zuge der Black Lives Matter Bewegung nach der Ermordung von George Floyd, in Hongkong gegen das Sicherheitsgesetz der chinesischen Regierung und das Ende der – wenigstens – Halbsouveränität, in Belarus gegen den autokratischen Präsidenten Lukaschenko, in Polen gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts.

https://apps.derstandard.de/

Und in Deutschland? Hier treibt eine krude Mixtur aus Verschwörungstheorien, Impfgegnern, rechtsextremen Milieus und sogenannten Querdenkern die Menschen auf die Straße. Vor drei Wochen haben in Leipzig 20.000 Menschen gegen die Coronapolitik demonstriert, ohne Abstand, ohne Maske. Bei einer Demo in Berlin wurde versucht, den Reichstag zu stürmen. Woanders steht ein elfjähriges Kind auf der Bühne und sagt, es fühle sich wie Anne Frank, weil es seinen Geburtstag mucksmäuschenstill feiern musste, eine Querdenkerin hält sich für eine große Widerstandskämpferin und vergleicht sich daher mit Sophie Scholl.

Seit dem 1. November befindet sich Deutschland wieder in einem Lockdown. Im Herbst waren die Infektionszahlen wieder stark gestiegen, die zweite Welle ist da. Die Maskenpflicht ist im öffentlichen Raum ausgedehnt worden, wieder gibt es Beschränkungen beim Einkaufen. Aber im Großen und Ganzen laufen viele Bereiche nahezu normal. Die Geschäfte haben auf, die Straßenbahnen wieder voll, Schulen und Kitas offenzuhalten, ist oberstes Ziel, damit die Menschen ihrer Arbeit nachgehen können. Privat allerdings gibt es harte Einschränkungen. Aktuell dürfen sich mal zehn, mal fünf Personen aus maximal zwei Haushalten treffen. Und als einzige Erwerbsbranche ist die Gastronomie radikal und komplett ausgeschaltet. Selbst dort, wo es funktionierende Hygienekonzepte gab, ist wieder alles dunkel, in Kneipen, Restaurants, Clubs, die kleine Kaffee-Ecke beim Bäcker gegenüber. Grund dafür ist, dass zuvor vor allem private Feiern und Orte mit Ausschank als Hot Spots in den Fokus gerückt waren. Vor allem die Maßnahmen für die Gastronomie finde ich zu hart und ungerecht, weil sie zu pauschal sind. Als würden sich überall früher oder später die Menschen besoffen um den Hals fallen und die Lokalität in einen Infektionsherd verwandeln. Im ÖPNV warte ich hingegen bis heute auf Lösungen, die es möglich machen, die Abstandsregel einzuhalten. An vielen Arbeitsstätten arbeiten die Menschen wieder zusammen, aber zum Feierabend dürfen sie nur einen weiteren Hausstand aus ihrem nächsten Umfeld treffen. Kinder gehen in die Schule, nachmittags dürfen sie nur zu zweit sein.

Es ist immer noch nicht so, dass ich persönlich durch den aktuellen Kurs meine Grundrechte in Gefahr sehe, aber ich kann ihn schwerer nachvollziehen. Es werden Unterschiede gemacht, die ich ungerecht und wenig sinnvoll finde, weil sie punktuell sind, raum- und branchenspezifisch. Wenn ich eine Kneipe mit Hygienekonzept hätte, würde ich vielleicht auch jetzt auf eine Corona-Demo gehen und mir dabei sagen, dass hier einfach nur Menschen zusammen protestieren, die mit der Politik unzufrieden sind. Von dem Reichsbürger neben mir rücke ich einfach ein Stück weg. Ich bin ja in eigener Sache hier, auch wenn die Querdenker den Platz organisiert haben…

Soeben wurden die Maßnahmen bis zum 20. Dezember verlängert. Weihnachten, das große Familienfest, rückt näher und ist in diesem Coronajahr zum politischen heißen Eisen geworden, an dem sich niemand verbrennen will. Weihnachten muss stattfinden, wird stattfinden, da bin ich mir sicher, vielleicht mit einer freiwilligen Selbstkontrolle. Dann kommt noch Silvester und danach schießen die Zahlen wahrscheinlich wieder in die Höhe und der nächste Lockdown wird verhängt. Gleichzeitig gibt es einen ersten Impfstoff, der im Eilverfahren entwickelt und zugelassen wurde, findige Start-ups arbeiten an Corona-Schnelltests. Dadurch stehen neue gesellschaftliche Debatten an. Es wird um Verteilungsgerechtigkeit gehen und darum, in welcher Form Infektionsschutz auf lange Sicht Bürgerpflicht werden wird. Vielleicht haben wir in Zukunft ständig ein Röhrchen dabei, in das wir wie selbstverständlich reinpusten, bevor wir unseren Arbeitsplatz, eine Kneipe oder die Wohnung unserer Eltern betreten.

Was auch kommt, ich bin sehr froh und dankbar, dass ich bisher niemanden durch Corona verloren habe, weder gesundheitlich noch sozial, und dass ich bei allem, was noch kommt, jemanden an meiner Seite haben werde. Maik und ich sind immer noch sehr glücklich miteinander und auch in der Familie bekommen wir alles gut hin. Die größte Sorge bereitet mir aktuell das politische Geschehen in Deutschland. Im Oktober 2021 sind Bundestagswahlen, Angela Merkel dankt ab, es geht um politische Machtkämpfe und Kräfte wie die AfD arbeiten auf eine massive Umwälzung hin. Coronapolitik war von Beginn an auch Wahlkampf. Es wird eine Corona-Wahl werden. Trump ist nicht mehr Präsident, aber mit dem Trumpismus ist eine andere Krankheit aufgezogen, die sich epidemisch verbreitet und die ich für schlimmer halte als Corona. Zu Weihnachten wünschen ich mir, dass auf ganz vielen Wunschzetteln steht, dass wir auch einen Impfstoff gegen dieses Virus und seine Mutationen finden und wir es zusammen schaffen, unsere Demokratie und die Werte, die damit verbunden sind, auf einem gesundem Wege zu schützen.