19/03/19

Mal d’archives revisited

oder Archivübel aus postkolonialer Perspektive. Eine Sichtbehinderung

[1] In der gegenwärtigen öffentlichen Debatte um die Restitution außereuropäischen Kulturerbes fällt (neben diversen anderen) eine Lücke besonders auf: Die Realitätsbedingungen der Suche nach Herkunft und Provenienz werden in der öffentlichen Diskussion systematisch ausgeblendet. Zwar weist die postkoloniale Provenienzforschung seit dreißig Jahren auf sie hin; entsprechend wird von den diversen Personen, die sich in den öffentlichen Medien in letzter Zeit zu diesem Thema äußerten, regelmäßig auf die Schwierigkeit der Rekonstruktion von Herkunft verwiesen sowie darauf, dass die Mittel für Provenienzforschung selbstverständlich aufgestockt werden müssen. Insbesondere in der politischen Debatte wird jedoch vielfach mit einer Illusion von Transparenz gearbeitet, die von dem Eindruck ausgeht, man könne entlegene und diverse Herkünfte komplizierter interkultureller Transaktionen ›einfach so‹ rekonstruieren und ohne Sichtbehinderung in die Vergangenheit blicken. Kurz: Die Mittel und Medien, die bei dieser Sicht in die Vergangenheit regelmäßig zum Einsatz kommen und die für eine erfolgreiche Rekonstruktion von Herkünften notwendig sind, werden ebenso regelmäßig ausgeklammert.

Ein medientheoretischer Blick auf die öffentliche Provenienzdebatte hat die Aufgabe, diese Illusion eines unvermittelten Blicks in die Vergangenheit aufzulösen – sofern das nicht von Seiten der postkolonialen Provenienzforschung längst geschehen ist. Statt mit der Illusion einer unmittelbaren Repräsentation der Vergangenheit zu arbeiten, sollten die Schwierigkeiten und Sichtbehinderungen eingeblendet werden, die hier sofort ins Bild kommen. Dabei hat der medientheoretische Blick die Aufgabe, die Realitätsbedingungen zu zeigen, mit denen es (fast) jede Provenienzforschung sofort zu tun bekommt. Denn die Realitätsbedingung der Herkunft heißt schlicht: Archiv.

Provenienzforschungen sind Archivforschungen. Man muss sich vor Augen halten, dass alle Provenienzforschungen, die derzeit en masse betrieben werden, primär Archivforschungen sind und nicht unbedingt museale Recherchen.[2] Die Mehrzahl der Informationen über die diversen Herkünfte und Begleiterscheinungen des Transports außereuropäischer Artefakte in europäische Sammlungen und Museen finden sich – nur in Archiven. Man findet sie nicht (oder nur ausnahmsweise) in den Museen, nicht in Bibliotheken, zumeist überhaupt nicht öffentlich. Auch wenn Teile der Kolonialarchive öffentlich zugänglich sind, liegen diese Dinge oftmals noch unter Verschluss, vermutlich aus guten Gründen.

Herkunft im Archiv

Die Frage nach der Herkunft ist also auch eine Frage nach dem Archiv. Ohne Archive keine Provenienz; wo geht man hin, wenn man etwas über seine Herkunft erfahren will? Ins Archiv. Archive sind weniger die Möglichkeits- als die Wirklichkeitsbedingungen von Forschungen nach der Herkunft, ihr historisches Apriori sozusagen. Wäre nicht irgendwer bei den historischen Transaktionen kultureller Artefakte auf die Idee gekommen, deren Zeugnisse und Begleitumstände aufzuzeichnen, könnte man heute keine Provenienzforschung betreiben; und wäre nicht irgendwer auf die Idee gekommen, gesonderte Orte für diese Zeugnisse und Aufzeichnungen zu stiften, die sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportieren – sie wären vermutlich noch zerstreuter und unauffindbarer, als sie es ohnehin schon sind.

Herkünfte brauchen Archive; ohne Archiv keine Erforschung von Herkünften und Provenienzen. Doch keiner der Museumsmenschen, die in jüngerer Zeit im Rahmen der öffentlichen Debatte zu ihren Provenienzforschungen befragt wurden, geht ins Archiv, zeigt sein Archiv oder verweist auch nur auf sein Archiv – oder auf das Chaos an Dokumenten und Zeugnissen, das er oder sie so nennt und für das er oder sie natürlich möglichst viele Mittel braucht, um es zu ordnen. Zwar verweisen beispielsweise Bénédicte Savoy und Felwine Sarr gelegentlich – beispielsweise in einem auf YouTube veröffentlichten Interview[3] – auf ihr ›Archiv‹, das sich jedoch bei näherer Betrachtung lediglich als ein Inventar von Objekten erweist (von dem man aus bundesdeutschen Institutionen mehr als einmal vernahm, dass nicht einmal solche Listen vorliegen würden, die die fraglichen Objekte verzeichnen würden).

Doch wenn viele Artefakte nicht einmal verzeichnet sind, wie soll man dann nach ihrer Herkunft forschen? Und würde ›Forschung‹ hier nicht bedeuten, nicht Inventarlisten zu übernehmen, sondern kritisch nach dem Zustandekommen dieser Listen zu forschen, ihrer Kalkulierung und Codierung? Müsste ›Forschung‹ hier nicht meinen, der Übersichtlichkeit und Klarheit von Listen zu widerstehen und sich noch einmal in die abgründige Komplexität der Überlieferung jedes einzelnen Artefakts zu begeben?[4]

Abgründe tun sich auf im Archiv, Abgründe der Komplexität und Unentscheidbarkeit – Unentscheidbarkeit vor allem an Stellen, an denen man sie am wenigsten gebrauchen kann: in der politischen Debatte, die nach schnellen Entscheidungen ruft. Daher bleibt das Archiv, das Medium vieler Provenienzforschungen, beharrlich unterbelichtet. Man sieht die Archive nicht, als Apriori der Provenienzforschung bleiben sie unsichtbar, transparent, im Hintergrund, immer schon da.

Dabei erscheint ein Grund für diese notorische Ausblendung sofort einigermaßen einleuchtend: Man braucht nicht noch mehr Probleme und Querulanzen. Bei der Suche nach den Herkünften der außereuropäischen Artefakte kommen in der öffentlichen Debatte so viele Probleme, so viele Fragen, so viele Unmöglichkeiten in die Quere – dass man deren Gesamtsumme als ›Archiv‹ vermutlich nicht auch noch beziffern möchte. Denn als Wirklichkeitsbedingung zeigt das Archiv eher das Reale als das Ideale einer Suche, mit dem man die öffentliche Debatte vermutlich nicht auch noch belasten möchte. Wir haben ja schon genug Probleme.

Und es ist ja verständlich: Vor allem beim Ruf nach mehr öffentlichen Mitteln ist es natürlich ein Anliegen aller Player der Debatte, die Provenienzforschung zunächst einmal als möglich erscheinen zu lassen und sie nicht von vornherein als unmöglich darzustellen (wie die vollständige Rekonstruktion aller Begleitumstände der Transaktionen vielen Forschern und Forscherinnen erscheint). Dabei kommt das Argument der archivischen Komplikationen und der aus ihnen resultierenden Unmöglichkeiten nur in die Quere. Schließlich zeigen Archive, wie Medien generell, nicht nur etwas; indem sie etwas zeigen, codieren sie auch etwas und blenden anderes aus. Und man braucht nicht lange zu fragen, was vermutlich bei der Protokollierung der Transaktionen interkultureller Artefakte ausgeblendet werden sollte.

Die Politik der Archive

Aber warum hat man die Herkünfte von außereuropäischem Kulturerbe überhaupt aufgezeichnet (oder auch nicht aufgezeichnet), wäre es nicht viel bequemer gewesen, man hätte die Transaktionen der Artefakte einfach so laufen lassen, ohne Aufzeichnung, ohne Mitschrift, ohne unbequeme Fragen? Wer kommt auf so eine Idee? Zunächst muss man konstatieren: Die Aufzeichnung war wahrscheinlich eher die Ausnahme, die Nichtaufzeichnung jedoch die Regel. Archive zeichnen immer nur Bruchteile des Realen auf – und was sie aufzeichnen, gehorcht meistens Kalkülen darüber, was überliefert werden soll und was nicht. Das ist bei Archiven im Allgemeinen so, bei Kolonial- oder Museumsarchiven aber im ganz Besonderen: Man kann sich leicht vorstellen, was beim komplizierten Prozedere der Aneignung, Besitzergreifung und Verbringung kolonialer Artefakte in europäische Sammlungen und Museen aufgezeichnet werden sollte und was eher nicht. Zwar waren Verhandlungen zwischen gleichberechtigten Partnern durchaus möglich, wie Fritz Kramer jüngst am Beispiel von Leo Frobenius gezeigt hat;[5] Michael Pesek hat am Beispiel Tansanias gezeigt, dass die koloniale Dominanz durchaus auch brüchig war.[6] Die Regel waren bilaterale Verhandlungen jedoch kaum. Umgekehrt hat man es in kolonialen Zusammenhängen zumeist mit einem porösen und zerklüfteten Gefälle an Macht und Wissen zu tun – mit Gefällen und Abgründen, die den kolonialen Artefakten ihren Weg nach Europa ebneten.

Einen flüchtigen Eindruck von der porösen Zerklüftetheit der Position vieler Kolonialarchive mag eine kurze – die einzige – Bemerkung von Michel Leiris zur politischen Funktion von Archiven geben, der 1931-33 auf der berühmten Dakar-Djibouti-Expedition als genau das angestellt war: als Archivar. Kurz nach seiner Ankunft in Dakar verzeichnet er am 1. Juni 1931 folgenden Eintrag in sein Tagebuch: »Gespräch mit dem stellvertretenden Direktor für ökonomische Angelegenheiten. Auf die Frage Griaules hin, der wissen möchte, ob wir in den verschiedenen Kolonien jeweils Zugang zu den Gerichtsarchiven erhalten können, antwortet er, dass die Beamten der Kolonialverwaltung sehr strikte Anweisungen erhalten haben, seitdem ausländische Expeditionen die Dokumente, deren Einsicht man ihnen gestattet hatte, dazu benutzten, die französische Kolonialpolitik zu attackieren und Zwischenfälle vor dem Völkerbund heraufzubeschwören.«[7]

Archive sind nicht nur Teil politischer Verhandlungen, sie sind nicht nur Teil der Politik – sie machen Politik. Archive codieren politische Prozesse, in der kolonialen Situation mehr als irgendwo sonst. Aus diesem Grund drängt sich in der kolonialen Situation bald der Verdacht von Archiven der Verschleierung auf – von Archiven, die angelegt wurden, um bestimmte Dinge zu verschleiern und nur ausgewählte zu zeigen; von Archiven, die die tatsächlichen Hergänge und Vorgänge nicht dokumentierten und aufzeichneten, sondern die nur bestimmte Dinge dokumentierten und aufzeichneten, um andere zu verschleiern. Damit wären die kolonialen Archive von Orten der Neutralität und der Un- oder Überparteilichkeit zu Orten der Verschleierung und Parteinahme geworden, kurz: zu Komplizen der Herrschenden.

Aber auch dieser Verdacht, der von der postkolonialen Provenienzforschung schon breit geäußert worden ist, ist möglicherweise zu allgemein. Sofort tauchen weitere Fragen auf: Wer zeichnet mit welchen Medien auf, in welcher Sprache? Und wer entscheidet überhaupt, was in welcher Logik aufzuzeichnen ist – und in Hinblick auf welche Gerichtsbarkeit in welcher Zukunft? Wer entscheidet, was ein Archiv ist und zu welchem Zweck man eines anlegen sollte? Wer verfügt darüber, wer etwas in ihm ablegen darf und wer nicht? Und wie geht man heute mit diesen nie neutralen Dokumenten voller Lücken um? Wie soll man die diversen Machtinteressen sichtbar machen? Müsste man nicht diese Archive der Verschleierung gegen sich selbst lesen, ›gegen den Strich lesen‹ und gegen sich wenden, um herauszubekommen, ›wie es wirklich gewesen ist‹ (Ranke)?[8]

Um diese komplexen Fragen der Sammelpolitik anzugehen, muss man darauf hinweisen, dass von so verschiedenen Forschungsrichtungen wie der Archäologie, der Provenienzforschung, der Ethnologie und der Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahrzehnten Konzeptionen entwickelt wurden, die sie zwar berühren, aber ihre Komplexität leider nicht verringern: Konzeptionen wie die Forschung nach Objektbiographien oder Objekttrajektorien fragen zum einen nach der traceability, also danach, was aufgezeichnet wurde und was nicht (und aus welchen Gründen). Zum anderen wird aber auch nach der Diskursivierung von Artefakten gefragt, die sich insbesondere im Übergang von Herkunfts- und Ankunftskontext von Objekten schwindelerregend wandeln konnte – beispielsweise wenn ausgerechnet Objekte von europäischen Museen als ›kulturell authentisch‹, ›ursprünglich‹  und ›unberührt‹ klassifiziert wurden, deren Aneignung durchaus gewalthaft verlief.[9]

Der Ort der Archive

Doch die Lektüre dessen, ›wie es wirklich gewesen ist‹, hängt nicht nur von den Medien ab, in denen die Vergangenheit abgelegt und wieder gelesen wird. Sie hängt auch entscheidend davon ab, wo es gelesen und abgelegt wird. Der Ort der Archivierung hat Konsequenzen, besonders im kolonialen Kontext. Es scheint sofort klar, dass eine Archivierung der Bedingungen der Übereignung, des Transports oder gar des Raubs von Artefakten – und die Probleme der Archivierung beginnen schon hier, weil schon die Bezeichnung der Operation, um die es geht, ihre Natur, ihren Auftrag, ihre Mission archiviert: also die Begriffe von Übereignung, Transport oder Raub – jedenfalls scheint sofort klar, dass auch der Ort der Archivierung die Definition der Ereignisse mit bestimmt, nicht nur begrifflich. Die Natur der Operation der Übertragung der Objekte von kolonialen in europäische Kontexte wird von dem Ort mit definiert, an dem sie archiviert werden: So wird eine Archivierung und ein Archiv in Berlin (beispielsweise) ganz andere Implikationen, Bedeutungen, Auswirkungen haben als die Dokumentation innerhalb der Gebiete, aus denen Artefakte abtransportiert wurden – Gebiete, in denen die Institutionen der Aufzeichnung und des Archivs vielleicht überhaupt nicht existieren?[10]

Der Ort der Aufzeichnung und des Archivs ist also nicht nur von Interesse; der Ort des Archivs ist integraler Teil seiner Aufzeichnung, seiner Botschaft, seines Inhalts. Der Ort hat agency, er schreibt sich ein, er ist wirksam. Vielleicht bestimmt er sogar, was im Archiv steht und was nicht, was dort gesammelt wird und was dort verschwiegen wird. Dieser Ort der Aufzeichnung und des Archivs wurde von Jacques Derridas Mal d’archive 1996 reflektiert – eine Reflexion, die Ann Laura Stoler 2002 intensiviert.[11] Insbesondere an Derrida kann man aus heutiger Perspektive die Frage stellen: Verändert sich im Licht des Postkolonialismus die Lektüre von Mal d’archive? Was sind die Archivübel – die Mal d’archives – der (post-)kolonialen Archive? Was sind die Archivübel der Restitutionsdebatte? Und wird den Museumsleuten übel, wenn sie in ihre Archive blicken, weswegen sie diesen Blick verständlicherweise vermeiden möchten?

Derridas Mal d’archive, nur ganz kurz, ist in London entstanden – also auch in einer postkolonialen Kondition, könnte man sagen – und zwar in Form einer Reflexion über das Sigmund Freud Archiv, besser: über das Wohnhaus Freuds in London, das damals im Begriff war, in ein Museum umgewandelt zu werden. Also auch eine gewisse Situation des Transfers von Objekten, zwar nicht von einem Territorium in ein anderes, aber doch von einer institutionellen Ordnung (vom Privathaus) in eine andere (in das öffentliche Museum).[12] Derrida denkt seine Archivtheorie also anlässlich einer Situation, in der ein Ort von Bedeutung ist. Er, der in Algerien geborene Sohn sephardischer Juden, denkt das Archiv und seine Herrschaft von seinem Ort aus, vom Ort seiner Herrschaft.

Philosophisch macht er das mit dem griechischen Begriff der arché: Denn die arché bedeutet Derrida zufolge nicht nur die Herrschaft, sondern auch den Ort der Herrschaft, nicht nur die Macht, sondern auch ihre Lokalisierung: Arché ist nicht nur die Herrschaft, sondern auch der Ort der Herrschaft, da wo sie ist – Derrida denkt nicht nur die Macht, sondern die Macht von ihrem Ort aus.[13] Doch Mächte sind gespalten, nicht nur in den Kolonien, es gibt die Macht und diejenigen, derer sie sich bemächtigt. Die Macht spaltet sich auf, im kolonialen Kontext meistens nicht nur auf koloniale Machthaber und Beherrschte, sondern in weitere Gruppen wie zum Beispiel lokale Machthaber, die zumeist andere waren als die kolonialen.[14]

Indem die Archivtheorie (Derridas) die Herrschaft am Ort des Archivs lokalisiert, ist die Macht immer schon Macht des Archivs und Archivmacht; die Aufspaltung in Kolonialarchiv und Gegenarchiv erscheint artifiziell, weil das Archiv nie neutral war, sondern immer schon das Archiv eines Ortes und der Machthaber über diesen Ort war. Wäre ein ›neutraler Standpunkt‹ an dieser Stelle überhaupt denkbar? Wie wäre er zu sichern und wie zu überwachen? Wie wäre er für die Vergangenheit sicher zu stellen und wie für die Zukunft? Was wären ›neutrale‹ Archive der kolonialen Situation? An dieser überaus sensiblen und schmerzhaften Stelle, an der eine radikale Selbstreflexion einsetzen könnte, erscheint nur eines klar: Wer über das Archiv herrscht, bestimmt nicht nur die Aufzeichnung der Vergangenheit, er verfügt die Aufzeichnung der Vergangenheit nur, um auch zu bestimmen, was von ihr einmal in der Zukunft ankommen soll und was nicht.

Die Zukunft des Kolonialarchivs

In genau dieser Zukunft sind wir nun also angekommen. Sie ist der genaue zeitliche Ort, an dem wir uns befinden; befinden als Empfänger von Botschaften, die in der Vergangenheit aufgehoben wurden (oder auch nicht) und die wir heute bezeugen: Hier sind wir nun also, Empfänger von Flaschenpost aus der Vergangenheit an die Zukunft, in jener Zukunft, die sich die Kolonialherren, die Transakteure, die Weltreisenden, wohl kaum haben vorstellen können – in jener Zukunft, wo wir ihren Machenschaften, ihren Transaktionen, ihren Beutezügen nachforschen, wo wir jeden Stein in unseren Sammlungen, den sie herbrachten, noch einmal umdrehen. Ob sie sich diese Situation jemals haben vorstellen können? Ob sie sich in ihrer kolonialen Kondition ausmalen konnten, dass man ihre Reste, ihre Hinterlassenschaften tatsächlich einmal so akribisch durchkämmen würde, wie wir das heute tun? Ob sie sich jemals vorstellen konnten, dass man ihnen den Prozess machen würde? Sie würden sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen.

Um es kurz zu sagen: Sie, die ehemaligen Kolonisatoren, die kolonisierenden Staaten, stehen heute unter Verdacht; ihnen, die nicht mehr leben und die man nicht mehr befragen kann, wird heute der Prozess in ihrer Abwesenheit gemacht – weshalb man auf ihre Reste, auf ihre Zeugnisse angewiesen ist: eine archäologische Situation. In dieser archäologischen Situation sucht die (nicht nur postkoloniale) Provenienzforschung in den Resten nach der Art von Zukunft, die sich in sie eingeschrieben hat; nach der Zukunft, die die Kolonialherren sich einmal vorgestellt haben: Haben sie einfach sorglos Dokumente aufbewahrt, die sich um die Objekte rankten? Oder begannen sie schon, die Spuren auszuwählen, sie zu verfälschen, sie ihren Logiken anzupassen und sie passgenau zu machen? Verwischten die Täter schon ihre Spuren? Hatten sie ein Bewusstsein ihrer Täterschaft? Wer waren die Zeugen ihrer Transaktionen? War das Archiv die Institution der Zeugenschaft oder der Komplizenschaft? So unwahrscheinlich unsere heutige Situation vor 100 oder 200 Jahren gewesen sein mochte – es ist diese Situation, auf die es jedes Archiv abgesehen hat, auf die es zielgerichtet zufliegt wie ein Pfeil: Das Archiv kommt erst in jener Zukunft zu sich selbst, für die es seine Vergangenheit überliefert hat.

Die Abwesenheit der Archive

Aber es gibt nicht nur das Archiv, seinen Inhalt und seine Lücken, das Gesagte und das Verschwiegene – die koloniale Situation konfrontiert uns mit einer viel radikaleren Situation, die man heute denken muss: und zwar mit der Abwesenheit von Archiven; mit der Situation, dass es an einem Ort, dem Ort des Geschehens womöglich, überhaupt keine Aufzeichnung und kein Archiv gibt – was nicht heißt, dass hier nichts geschehen wäre, sondern was nur heißt, dass es nicht in dieser Weise aufgezeichnet wurde, archiviert wurde, institutionalisiert wurde – dass es die Institution des Archivs am Tatort gar nicht gibt? Wie denken wir also über das koloniale Archiv nach, wenn es gar keine Archive gibt? Oder wenn es sie nur auf einer Seite gibt? Wie denken wir über Archive nach, die immer schon Archive der Täter sind? Und wie denken wir über die gänzliche Abwesenheit von Archiven nach – was natürlich die Frage ist, die viele postkoloniale Situationen stellen? Wie suchen wir Archive, wenn sie gar nicht existieren? Und wie können wir diese Abwesenheit des Archivs in unser Nachdenken mit integrieren, das Konzept des Archivs mit seiner eigenen Abwesenheit konfrontieren?

Auch diese Situation der Abwesenheit des Archivs ist bedeutsam – besonders natürlich in jenen Kontexten, in denen die Vergangenheit vor allem mündlich überliefert wurde. Die Abwesenheit des Archivs radikalisiert die Situation seiner Lücken: Plötzlich geht es darum, dass nicht nur lückenweise und selektiv aufgezeichnet wurde, sondern dass über weite Strecken, große Zeiträume und in riesigen Gebieten überhaupt nicht aufgezeichnet wurde! Diese einseitige Abwesenheit des Archivs und der Archivierung ist natürlich höchst bedeutsam – bedeutet sie doch keineswegs, dass es keine Zeugen gäbe und keine Bezeugung (denn auch die Traditionen der oral history sind ja vor allem Weisen der Bezeugung und der Zeugenschaft).

Aber kann man in diesen Kontexten überhaupt noch von Archiven oder von Archivierung sprechen? Bräuchte man hier nicht einen erheblich erweiterten Archivbegriff, einen Archivbegriff, der beispielsweise um die Perspektive der Ethnologie zu erweitern wäre?[15] Denn wie geht die – klassische oder konventionelle – Archivtheorie beispielsweise mit mündlichen Traditionen der Überlieferung um? Wer hätte damals daran gedacht, geschweige denn die Medien gehabt, um die Zeugen des Abtransports der Artefake zu interviewen?

Es gibt nicht immer ein Archiv und eine Archivierung, die Zeugenschaft und ihre Institutionen bleiben oftmals einseitig: In der postkolonialen Situation erscheint es oftmals so, als ob nur eine Seite Zeugen hätte (die Archive der Ex-Kolonialstaaten) und die andere nicht (die Archiv-Abwesenheit in vielen kolonisierten Staaten) – wenn man nur von Staaten sprechen könnte, weil natürlich auch die Abwesenheit staatlicher und institutioneller Gebilde eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. En quête des archives heißt also auch, nach Archiven suchen, wo es sie möglicherweise nicht gibt, nach Archiviertem suchen, wo es möglicherweise nichts gibt, die Lücken lesen, die nicht gelesen werden sollten. Es heißt auf jeden Fall, nach dem Anderen des Archivs zu suchen und das Archiv mit seinem Anderen zu konfrontieren.

Knut Ebeling ist Professor für Medientheorie und Ästhetik an der weißensee kunsthochschule berlin. Zahlreiche Publikationen zu zeitgenössischer Theorie, Kunst und Ästhetik, zuletzt: Die Aktualität des Archäologischen – in Wissenschaft, Medien und Künsten (Mithg.), Frankfurt am Main 2004; Das Archiv brennt (gemeinsam mit Georges Didi-Huberman), Berlin 2007; Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten (Mithg.), Berlin 2009; Wilde Archäologien 1. Theorien materieller Kultur von Kant bis Kittler, Berlin 2012; Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit von Archiv bis Zerstörung, Berlin 2016; There Is No Now. An Archaeology of Contemporaneity, Berlin: Sternberg Press 2017.

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[1] Dieser Beitrag ist im Rahmen der von Sarah Dornhof und Nadia Sabri organisierten Tagung In Search of Archives/En quête d’Archives entstanden, die vom 23.-26.1.2019 im silent green, Berlin stattfand. Ich danke Verena Rodatus und Michi Knecht für ihre großzügigen Hinweise zur postkolonialen Provenienzforschung, ohne die dieser Artikel so nicht möglich gewesen wäre.

[2] Vgl. Patrick Gathara (2019): The path to colonial reckoning is through archives, not museums. In: Al Jazeera Online, 15 March 2019. Letzter Seitenaufruf 18.3.2019. Dank an Michi Knecht für diesen Hinweis.

[3] https://youtu.be/9YSHpGNp8AY. Letzter Seitenaufruf 18.03.2019.

[4] Zur Forderung nach Digitalisierung und Zugänglichmachung von Kolonialarchiven vgl. Larissa Förster/Iris Edenheiser/Sarah Fründt/Heike Hartmann (Hg.) 2017: Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit. Positionen in der aktuellen Debatte, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/19814/00-Einfuehrung.pdf?sequence=1&isAllowed=y. Letzter Seitenaufruf 18.3.2019. Dank an Verena Rodatus für diesen Hinweis.

[6] Vgl. Michael Pesek (2005): Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt/New York: Campus. Dank an Verena Rodatus für diesen Hinweis.

[7] Michel Leiris (1985): Phantom Afrika. Tagebuch einer Expedition von Dakar nach Djibouti 1931-1933. Erster Teil, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[8] Vgl. Margit Berner/Anette Hoffmann/Britta Lange (Hg.) (2012): Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg: Verlag der Kunst/ Philo Fine Arts; Ann Stoler (2008): Along the Archival Grain. Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton University Press. Dank an Michi Knecht für diese Hinweise.

[9] Dank an Verena Rodatus für den Hinweis auf die Forschung nach Objektbiographien als auch auf deren inhärente Paradoxien.

[10] Vgl. Förster et al, Provenienzforschung, Anm. 4.

[12] Die Unterscheidung zwischen öffentlichen (Staats-)Archiven und Privatarchiven ist auch für den Band von Förster et. al. zentral, vgl. Förster et. al., Provenienzforschung, Anm. 4.

[13] Vgl. Förster et. al., Provenienzforschung, Anm. 4.

[14] Vgl. Fritz Kramer, Koloniales Erbe, Anm. 5.

[15] Vgl. beispielsweise Elisabeth Povinelli, The Woman on the Other Side of the Wall: Archiving the Otherwise in Postcolonial Digital Archives, in: differences (2011) 22 (1): 146-171. Dank an Michi Knecht für diesen Hinweis.